Menschlichkeit als Kompass

Ich frage mich oft, wie anstrengend es wohl sein muss, sich für Geflohene einzusetzen, bei gleichzeitigem Medien- und Pressekonsum, in denen Politiker quer durch alle Parteien einem unaufhörlich einreden wollen, dass die Aufgabe der Integration nicht zu bewältigen sei, dass sämtliche Kapazitäten in Behörden und Ministerien erschöpft seien, dass die Aufnahme von Flüchtlingen im Grunde genommen keine Herausforderung, sondern eine Überforderung sei – ja, dass man sich ein Riesenproblem aufgehalst habe.

Auf der einen Seite sprechen zum Thema Flucht und Vertreibung in der Öffentlichkeit ausschließlich Politiker, die weder Ideen noch Lösungen haben und stattdessen ausschließlich Kapitulationserklärungen abgeben. Und auf der anderen Seite bekommen nur jene Bürger ein Forum, die diesen Diskurs befeuern und es schaffen, in der Öffentlichkeit immer wieder nur diese Botschaften zu verbreiten: „Die Flüchtlingsaufnahme war ein Fehler, wir sind in einer Krise, es ist alles aussichtslos“. Dieser Zustand ist so alltäglich, dass es einem erst wieder grotesk erscheint, wenn man einen Schritt zurückgetreten ist und sich gefragt hat, was ist eigentlich die Situation?

Die Situation ist, dass 2015 knapp eine Million Menschen (es waren weniger, aber egal) in Deutschland aufgenommen wurden (übrigens in Absprache mit der österreichischen und ungarischen Regierung) und es sich binnen kürzester Zeit zeigte, dass wir in Deutschland strukturell und mental am Limit sind, obwohl doch Organisation und Verwaltung einmal der Markenkern dieser Republik war.

In einem Bundesland wie Berlin erinnere ich mich an einen Sommer mit kolossaler Hitze, in denen Menschen wie Fliegen umkippten. Also eilten Berliner Bürger freiwillig und auf eigene Initiative, um die Not zu lindern und karrten in der Ring- oder U-Bahn Wasser und Obst heran. Es ging nicht nur um das Wasser und die Babynahrung. Es ging um die Behörden, um die Unterbringung, um die Stimmung, um die Interviews der Bezirksbürgermeister, es klappte einfach gar nichts – oder sollten nicht vielmehr genau diese Bilder entstehen? Zusammenklappende Menschen in einer Warteschlange vor dem LaGeSo oder auf dem Tempelhofer Feld, ohne Trinkwasser, Windeln und Nahrung. Sollten diese Bilder von Bedürftigkeit, Chaos und Versorgungsknappheit möglicherweise sogar um die Welt gehen?

Ich möchte eine ähnliche Situation von 2014 aus der Osttürkei schildern. Zu diesem Zeitpunkt reiste ich bereits seit zwei Jahren zum Schreiben und Recherchieren in die Türkei ein und aus. Mal blieb ich bis zu einem halben Jahr, dann wieder nur ein paar Wochen. Es war im Spätsommer 2014, als ich in Diyarbakır war und die ersten Jesiden aus dem Irak auf ihrer Flucht dort ankamen.

Die meisten wissen sicher, um wen es sich bei den Jesiden handelt. Es sind Kurden, die zumeist im Nordirak leben und zur jesidischen Minderheit gehören. Das Jesidentum ist eine Religion und wie so oft bei religiösen Minderheiten, benennt man sie nach jenem Aspekt, der sie von der Mehrheit unterscheidet. Sie werden nicht Kurden genannt, denn das sind sie nämlich oder nämlich auch, sondern man nennt sie Jesiden.

Diese Jesiden jedenfalls lebten rund um das Sindschar-Gebirge. Als der sogenannte Islamische Staat kam, wurden sie eingekesselt und sie mussten in das Gebirge fliehen, das sich im Weiteren dann zu einem Gefängnis umwandelte, weil sie sich in eine Sackgasse manövriert hatten. Auch hier in Deutschland las man 2014 vereinzelt Berichte über die entsetzliche Menschenrechtssituation in der Region.

Als ich damals in der Türkei war, waren die dortigen Berichte durch die geografische Nähe und die gemeinsame kurdische Sprache, Kurmanci zumeist, natürlich noch detaillierter. Was sich in diesem Gebirge abspielte, ist kaum in Worte zu fassen. Um es präzise ausdrücken, fehlt einem das Vokabular, denn wie nennt man es, wenn man nicht ein Tier schlachtet, sondern einen Menschen? Dafür gibt es keine Vokabel. Es haben Vergewaltigungen stattgefunden, aber wenn man die Erzählungen hörte, dann sind das Vorgänge, von denen man gar nicht wusste, dass man mit einer Frau oder einem jungen Mädchen so etwas tun kann, dass das physisch überhaupt möglich ist. In diesem Gebirge waren die Jesiden gefangen und konnten nach einiger Zeit fliehen. Manche flohen Richtung Süden, also in das Bürgerkriegsland Syrien, andere Richtung Norden, über die türkische Grenze. Und manche flohen erst nach Rojava, also Syrien, und dann wieder hoch in die Türkei. Verzweifelte Zickzackbewegungen fliehender Massen, die ein sagenhaftes Martyrium hinter sich hatten.

Ich stand in Diyarbakır mit ein paar kurdischen Künstlern auf der Straße, wir wollten Richtung Museum und da sahen wir den Flüchtlings-Treck. Erst traute ich meinen Augen nicht, weil ich so etwas nie zuvor gesehen hatte. Es war eine ganz lange Menschenschlange, die angeführt von Mitarbeitern der Stadtverwaltung, Richtung Museum geführt wurde. Wir liefen ebenfalls dorthin, wo man geistesgegenwärtig sämtliche Exponate von den Wänden geholt hatte, irgendeine örtliche Tuchweberei brachte Autoladungen voll Tuch und damit hängte man kleine Bereiche in dem Museum ab. Nie zuvor sah ich innerhalb so weniger Tage so viele schwangere Frauen, die Fehlgeburten oder anderweitige Komplikationen erlitten.

Noch heute ist mir nicht ganz möglich, alles zu erzählen, was ich sah, denn immer wenn ich die Augen schließe und mich in die Situation zurückversetze, fällt mir noch ein Detail ein. Da war zum Beispiel der Universitäts-Campus. Studenten organisierten dort eine Tagesbetreuung für Kinder, die Eltern übergaben die Kinder den Studierenden und diese brachten sie abends zurück. Ich staune heute noch über das Vertrauen.

Kantinen öffneten in der Stadt, die Geflohenen konnten kostenlos dort essen. Innerhalb weniger Tage gab es eine Infrastruktur, alles improvisiert, aber irgendwie klappte es. Woran ich mich auch erinnere, ist, dass fast alle Geflohenen, die ankamen, um ein Handy baten. Nicht um Wasser (das gab es sowieso dauerhaft und kostenlos), sondern um ein Handy. Es war im Grunde genommen eine große, verzweifelte Gruppe von Menschen, die permanent am Telefon hingen und versuchten herauszufinden, wo ihre Angehörigen waren.

Die Menschen, denen ich in den paar Tagen begegnete, waren mehrere Dorfgemeinschaften, die sich zusammengeschlossen und die Flucht gemeinsam angetreten hatten. Sie kannten sich also untereinander. Aber es gingen wohl auf der Reise auch welche verloren, oder man hatte sich getrennt, weil man noch jemand anderen abholen wollte, alle Menschen waren ja irgendwie aus dem Leben gerissen. Jedenfalls fehlten in allen Familien ein paar und die Geflohenen waren deshalb krank und unbeweglich vor Sorge.

Auch das sah ich zum ersten Mal: wie Menschen ganz steif auf dem Boden sitzen oder regungslos stundenlang stehen. Andere wiederum sind überzogen aktiv und fangen an zu organisieren und zu regeln, obwohl es erst einmal nichts zu regeln gibt, außer durchzuatmen.

Jeder, der Menschen im psychischen und physischen Ausnahmezustand schon einmal erlebt hat, kennt diesen verstörenden Anblick. Nicht zu helfen, ist geradezu unmöglich. Die Ausstellung in dem Museum übrigens handelte von Flucht und Vertreibung, erzählte die Geschichte bedeutender Weltpersönlichkeiten und ihrer Flucht im Spiegel der Zeitgeschichte. Jeder Flüchtling, der in Diyarbakır im Museum Schutz suchte, musste unter einem Banner durch, auf dem stand: „Bir daha asla. Never again“. Also: Nie wieder. Drinnen hatte jemand vergessen, das Bild von Willy Brandt abzuhängen.

Diese Jesiden von einst, das wusste ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht, sollten mir ein weiteres Mal begegnen. Damals sagten sie mir, dass Diyarbakır in der Türkei nur eine Etappe auf ihrem Fluchtweg sei, das Ziel sei Frankreich oder Holland. Wie wir heute wissen, lag die Anzahl der in Frankreich gestellten Anträge für die Gruppe der Syrer, Afghanen und Jesiden im Jahr 2014 zusammen addiert bei nur 10.000. Im gleichen Jahr, November 2014 beschloss der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, eine Sonderregelung, nämlich, dass die Schutzquoten für Flüchtlinge ausschließlich für die Gruppe der Christen und Jesiden aus dem Irak gelten sollte. Und damit sollte auf Anhörungen verzichtet und die Asylverfahren deutlich beschleunigt werden.

Als vor wenigen Wochen der vermeintliche Skandal um die angeblichen Betrugsversuche in der Bremer Außenstelle des BAMF rund um die Vergabe von beschleunigten Aufenthaltsgenehmigungen öffentlich wurde, bezogen sich die Vorwürfe auf eine ganz bestimmte Gruppe: nämlich irakische Jesiden. Offenbar ist ein Zeitraum von vier Jahren im öffentlichen deutschen Gedächtnis eine zu lange Zeit, um in Ruhe nachzudenken, welche Gesetzeslage im BAMF damals herrschte.

Innerhalb von nur wenigen Wochen nach dem sogenannten BAMF-Skandal -ich nenne es deshalb „sogenannt“, weil bis heute nicht klar ist, ob es sich bei dem Skandal nicht vielmehr um Verleumdungsversuche unter Kollegen handelt – innerhalb weniger Wochen jedenfalls, entstand ein neues Wort. „Asyltourismus“. Aus den irakischen Jesiden von damals, die zusammen mit den irakischen Christen in Deutschland prioritär behandelt wurden, weil man sie als besonders schutzbedürftig betrachtete, sind „Asyltouristen“ geworden.

Ich weiß nicht, ob mittlerweile alle jesidischen Flüchtlinge in Deutschland Deutsch sprechen, aber ich versuche mir vorzustellen, wie das in den Ohren eines Familienvaters klingen muss, der einen Teil seiner Familie auf dem Weg vom Nordirak in die Türkei, oder auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland, oder auf der Balkanroute irgendwo in Bulgarien, Mazedonien, Serbien oder Ungarn verloren hat, wie das in den Ohren einer Mutter klingen muss, die fast 5000 Kilometer hinter sich hat, mit einer Tochter im Schlepptau, die aufgrund ihrer Schmerzen in Unterleib oder Füßen kaum gehen kann, wie das eigentlich klingen muss, Asyltourismus, und in einem Land Unterschlupf zu finden, wo in den ZDF-Nachrichten ein CSU-Politiker ohne Nachfragen und ohne Konsequenzen so einen Begriff verwenden kann, wie das in den Ohren eines jungen Mädchens klingen muss, das sich in einer Behörde nicht traut, zu erzählen, was ihr widerfuhr, weil sie nicht weiß, wie das, was sie sah oder erlebte auf Kurdisch heißt, und wie ein Dolmetscher daneben sitzt und unsicher darüber ist, wie man das schüchterne und beschämte Gestammel am besten übersetzt, vielleicht klingt es alles konfus, aber das, was ich mit eigenen Augen sah, hat mit den Begriffen, die mittlerweile im Wochentakt von unserer Regierung erfunden werden, nichts zu tun.

Ich sah in Diyarbakır Menschen, wirklich ganz einfache Menschen, die schauten, begriffen und handelten. Sie taten das reflexhaft. Und genauso wenig wie die Menschen dort, lassen sich die Menschen hier nicht beirren. Sie handeln, egal ob sie lächerlich gemacht werden, egal ob man sie über sie spottet, egal, ob man sie beschimpft oder egal, ob man sie politisch bekämpft: sie handeln und dieses Handeln ist eine erhabene und stolze Haltung, dem Menschen und Leben in Respekt und Demut zugewandt. Ich habe das dutzende Male geschrieben und gesagt: diese Menschlichkeit ist und bleibt ein Kompass.

Es gibt auch diese andere Achse, nämlich die Achse der Mitfühlenden und Verstehenden.

Ich kenne die Zahlen der Helfer in Deutschland nicht und es scheint mir auch schwierig das zu ermitteln, weil es sicher eine Menge Menschen gibt, die wie ich, einen Geflohenen und seine Familie betreuen, aber eigentlich sind die Worte Betreuen und Hilfe zu viel, weil der Bedarf meistens in Zuspruch, Trost und Lob besteht. Bin ich also ein Helfer oder nicht vielmehr ein Freund? Abgesehen davon, hat jeder Geflohene die größte Hilfe selbst geleistet.

Der Mensch ist geflohen, statt zu bleiben. Dieses Loslassen und Weglaufen scheint aus der friedlichen Ferne nichts Großes zu sein, aber in meinen Augen ist es neben dem Verlust eines Angehörigen die schwierigste und existentiellste Erfahrung, die ein Mensch machen kann. Es gibt keine größere Katastrophe, als das Dach über dem Kopf zu verlieren und gehen zu müssen. Es gibt in meinen Augen nichts, was einen Menschen nachhaltig mehr demütigen kann als das. Und so wirken sie auch. Egal, ob sie phlegmatisch oder agil, ob sie besonders anpassungsfähig und von großer Widerstandskraft sind, ob sie eine starke Fähigkeit zur Trauer und Verlustbewältigung haben, geduldig, großmütig und humorvoll, oder ob sie schwach, gebrochen oder wütend sind – sie wirken verloren und gedemütigt, und ich verstehe das, denn sie haben etwas verloren, das sie ein Leben lang betrauern werden: Heimat.

Es wird mittlerweile unübertrieben Tag und Nacht in Europa über die Geflohenen gesprochen und verhandelt, es wird demagogische, reaktionäre, nationalistische und antidemokratische Politik betrieben. Und das alles geschieht in einer entweder sehr technischen Sprache – „Rückführung“ und „Rückstau“ – oder einer zynisch verharmlosenden Sprache, „Ankerzentren“ und „Asyltourismus“. Die Geflohenen tauchen nur noch in Kategorien von Gefährdern auf, sie gefährden angeblich die Sozialsysteme, die innere Sicherheit, die Kultur, die Freiheit. Aber das stimmt nicht und das wissen wir. Unsere Mitbürger, die rechtsextremen Deutschen und unsere reaktionären, nationalistischen Politiker gefährden unsere innere Sicherheit, unsere Kultur und unsere Freiheit.

Ich bitte uns alle, bleiben wir wild!

Mely Kiyak

(Dies ist ein stark gekürzter und veränderter Text den Mely Kiyak am 26. Juni 2018 auf dem Flüchtlingssymposium der Evangelischen Akademie Berlin im Französischen Dom vortrug. Die ganze Rede ist hier nachzulesen)

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