Deutschland sorgt sich. Bekommt Fatih Akin den Oscar?

Ich kann mich nicht erinnern, dass ein deutscher Film, der international eine aufregende Reise absolviert und allerorts berührt und begeistert, in der Heimat des Filmemachers, also hier in Deutschland, jemals mit solch einer Lust an Degradierung bedacht wurde, wie es mit Fatih Akins Film Aus dem Nichts derzeit geschieht.

Sein Film behandelt den Konflikt zwischen einer Polizei, die Ressentiments gegenüber dem Opfer hegt und einer Frau, die um den Verlust ihrer großen Liebe trauert. Der Bezugspunkt der Geschichte, „die Folie“, wie Kritiker gerne sagen oder „die Klammer“, ist der NSU.

Der NSU ist – nur zur Erinnerung – die größte bundesdeutsche Katastrophe für den Rechtsstaat, die man sich denken kann. 14 Jahre lang haben Rechtsradikale Bürger mit Migrationshintergrund mit Kopfschuss hingerichtet. Nicht polizeiliche Ermittlungen ließen die terroristische Mordserie auffliegen, sondern die Selbstenttarnung. Im Laufe der Jahre stellt sich heraus, dass angefangen vom einzelnen Polizisten über Minister und Präsidenten des Verfassungsschutzes jeder emsig und übereifrig damit beschäftigt war, zu verhindern, dass die Täter im Rechtsextremistenmilieu gesucht werden. Wenn das kein Filmstoff ist, dann weiß man auch nicht.

Der Film wurde in Cannes prämiert, er hat bei den Golden Globes gesiegt, er könnte einen Oscar gewinnen. Grund genug, sich zu freuen, oder wenigstens zu gratulieren.

Stattdessen so etwas:

Hannah Pilarczyk kommentiert für Spiegel Online:

Doch warum eine blonde Bio-Deutsche die Light-Version von dem durchleben lassen, was die türkisch- und griechischstämmigen Angehörigen der NSU-Opfer über Jahre hinweg ertragen mussten? Das erinnert zu sehr an die Hollywood-Strategie, sich über eine weiße Figur die Geschichten von people of color zu erschließen.

Mit anderen Worten: Der NSU im Speziellen und der Rassismus im Allgemeinen ist eine Angelegenheit der „people of color“. Warum also spielen blonde Deutsche mit?

Ist es nicht eigentlich so, dass der Rassismus in Deutschland, traditionell wie auch gegenwärtig, in erster Linie Deutsche betrifft? Die Opfer waren Deutsche. Halit Yozgat war Deutscher. Michèle Kiesewetter war Deutsche. Mehmet Kubasik war Deutscher. Die Ermittler waren Deutsche. Die Innenminister sind Deutsche. Beate ist Deutsche. Theorides Boulgarides, gebürtig aus Griechenland, war übrigens mit einer Deutschen verheiratet, deren Blick auf Deutschland sich nach der Tat erheblich änderte. Die von Diane Kruger gespielte Figur kommt ihr ziemlich nahe. Die Hauptdarsteller des Films sind Deutsche. Der Filmemacher ist deutsch. Deutscher als beim NSU und bei Aus dem Nichts geht es kaum. Selbstverständlich muss eine blonde Deutsche mitspielen.

Abgesehen davon. Seit wann wird die Qualität eines fiktionalen Dramas an seiner politischen Wirklichkeit gemessen? Wurde bei Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-prämierten Das Leben der Anderen eigentlich die Abhöranlage im Film mit den tatsächlichen Abhöranlagen der DDR verglichen und der Film deshalb als guter oder schlechter Film beurteilt? Muss ein Film nicht an seinen eigenen Methoden gemessen werden?

Anke Sterneborg schreibt für Zeit Online:

Dass in „Aus dem Nichts“ auch noch eine starke, kämpferische Frau im Zentrum steht, die gegen das Rechtssystem rebelliert, trifft in den Monaten nach der Weinstein-Affäre und der MeToo-Debatte den Nerv der Zeit.

Der Film selber ist also nicht gut. Er trifft lediglich einen Zeitgeist. Und zwar den der Sehnsucht nach der starken Frau. Möglicherweise trifft Aus dem Nichts nach Charlottesville, Alt-Right und Black Lives Matter nicht nur einen Nerv, sondern beschreibt ein Symptom? Und ist damit vielleicht ein Dokument unserer Zeit und weniger ein Modespleen, wie die Kritikerin meint.

Vor allem von deutschen Kritikern wurde „Aus dem Nichts“ nach der Premiere auf dem Filmfestival von Cannes vorwiegend kritisch besprochen.

Tja, seltsam oder? Die gesamte Filmwelt ist begeistert. Nur die Deutschen nicht.

Welcher deutsche Filmemacher würde es wagen, eine sieben Jahre währende Verbrechensserie und vier Jahre Prozess auf gut 100 Minuten Film zu verdichten?

Der Baader-Meinhoff Komplex, Der Untergang, Der Todmacher, Stalingrad, … um nur ein paar Beispiele aus der deutschen Filmgeschichte zu nennen. „Verdichtung“, wie die Kritikerin sagt, ist eine gängige Methode im Film wie im Roman. Die Fachbegriffe dafür sind „Erzählzeit“ und „erzählte Zeit“, sie stimmen nie überein. Wären wir auf einer Filmhochschule oder in einem Literaturinstitut, fände das Seminar dazu im Grundstudium statt.

Wie viele seiner Filme handelt auch „Aus dem Nichts“ vom Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen, dem großen Lebensthema von Fatih Akin, für das er als Sohn türkischer Einwanderer in Deutschland besonders sensibilisiert ist.

Puh! Der NSU handelt vom „Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen“?

Dem amerikanischen Kino der Leidenschaften ist er damit allemal näher als dem deutschen Wenn-und-aber-Weg. Nach dem Golden Globe für den besten ausländischen Film ist es nun sehr viel wahrscheinlicher geworden, dass er am Ende auch bei den Oscars triumphieren wird.

Klingt wie eine Befürchtung. Riesensorge: Türke holt vielleicht Oscar nach Deutschland.
Freude ist es jedenfalls nicht.

Hanns-Georg Rodek schreibt auf Welt Online:

Auf diese Auszeichnung kann keiner stolz sein.

Stolz ist nun wirklich kein deutscher Filmkritiker gewesen. Muss auch nicht. Kritik ist nicht dafür da, um zu jubeln. Man hält fest, bei Springer herrscht seit Fatih Akins Golden Globe offizielles Stolzverbot. Galt für keinen anderen Preisträger bislang.

Was ist eine Auszeichnung eigentlich wert, die von ein paar Dutzend Amateuren vergeben wird?

Die Jury besteht aus 100 Filmjournalisten. Für Rodek besteht sie aus:

Da ist die Mexikanerin …
Da ist ein südafrikanisches Model …
Ein holländischer Fotograf.
Ein indischer Gandhi-Darsteller

Muss ganz schön hart sein, wenn eine Jury international besetzt ist.

Wenn die HFPA-Mitglieder für etwas bekannt sind, dann für Besuche bei Dreharbeiten auf Kosten der Produktionsfirma und Selfies mit Stars, auf denen sie verdächtig wie Fans dreinblicken. Zweifellos gibt es seriöse HFPA-Mitglieder, vielleicht zwei oder drei Dutzend. Wie viele die Filme sehen, wie viele abstimmen, wie viele sich für die Stiefkindkategorie des Fremdsprachenfilms interessieren, darüber lässt sich nur spekulieren. Es könne durchaus sein, dass Akin 15 oder 20 Stimmen gereicht haben. So funktionieren „Krönungen“, Globes-style.

Ich höre auf zu zitieren. Ich könnte das noch seitenlang so weiterführen. Seit Wochen lese ich diese Form der Kritiken. Und habe einen schrecklichen Verdacht.

Womöglich ist es für die deutsche Filmkritik einfach ein Schock, dass ein Türke (für mich ist er ein Hamburger Regisseur, aber ich stehe mit dieser Betrachtung ziemlich allein da) mit einem Film über die größte nationale Schande seit Gründung der Bundesrepublik, nämlich den NSU, einen Oscar holen könnte. Ist einfach too much.

Er bekommt seit Jahren die wichtigsten Auszeichnungen, ist international anerkannt. Das ging für die deutsche Filmkritik so lange in Ordnung, wie er Filme drehte, die dem „Ausländermilieu“ zuzuordnen sind. Das jetzt aber verzeiht die deutsche Kritikerlandschaft einem deutschen Künstler mit türkischen Eltern nicht. Den NSU groß machen. Und dann auch noch mit einer deutschen Schauspielerin, die sonst nur für Amerikaner arbeitet. Hier hat offenbar auf mehreren Ebenen ein Verrat stattgefunden.

Die Berichterstattung über Fatih Akins Film sagt mehr über unser Land und sein Verhältnis zu seinen großen, kritischen Künstlern aus, als man wissen wollte.

Marlene Dietrich, Romy Schneider, Heinrich Böll und viele andere nicken gerade aus dem Himmel.

Ihre Mely Kiyak

 

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