Entsetzen, Ungläubigkeit, Schock. So lauten die Überschriften dieser Tage. Schock, der darauf beruht, dass historische Erfahrungen offenbar doch nicht vererbbar sind. Jedenfalls weder mit den Mitteln der historisch-kritischen Aufarbeitung noch mit denen der Geschichtserzählung. Die gleichen Fehler werden wieder und wieder gemacht.
Von George Santayana, einem Philosophen, stammt dieser Gedanke:
Wer die Vergangenheit vergisst, ist gezwungen sie zu wiederholen. Und wer sie nicht vergisst, ist gezwungen, denen, die die Vergangenheit wiederholen, zuzuschauen.
Diese Theaterkolumne macht gelegentlich Platz für Kollegen, die ein dringenderes Anliegen als die Kolumnistin haben. Sasha Marianna Salzmann und Deniz Utlu, zwei Schriftstellerkollegen, deren Texte regelmäßig von renommierten Theatern, Zeitungen, Buchverlagen zur Kenntnis genommen, publiziert und aufgeführt werden, haben in biographischer und künstlerischer Hinsicht ein besonderes Verhältnis zur Türkei. Am Donnerstag reist die deutsche Bundeskanzlerin in die Türkei und trifft sich mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Aus diesem Anlass haben die beiden Autoren einen Brief verfasst, in dem sie sich an Angela Merkel wenden.
Mely Kiyak
Sehr geehrte Bundeskanzlerin,
Sie reisen heute in die Türkei, um den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu treffen.
Wir sind zwei Autoren, die in Verbindung mit Schriftstellern und Künstlern in der Türkei und in Europa stehen. Nahezu täglich erleben wir, wie wichtig es ist, dass uns der Mut nicht verloren geht.
Darum wenden wir uns an Sie mit der Bitte, die angestrebte Verfassungsänderung in der Türkei in Ihren Gesprächen mit dem türkischen Präsidenten nicht auszuklammern. Wir bitten Sie hervorzuheben, wie wertvoll die Demokratie in der Türkei für die EU und die internationale Gemeinschaft ist.
Die Türkei steht vor einem Referendum, dessen Ausgang die demokratische Zukunft des Landes bestimmen wird. Die Frage lautet: Bleibt in der Türkei das Rechtsstaatlichkeitsprinzip mit Gewaltenteilung erhalten, oder werden Exekutive und Judikative bei gleichzeitiger Schwächung der Legislative zusammengelegt?
Wir alle wissen, dass sich die Türkei in einer tragischen Lage befindet; das weiß auch die türkische Regierung.
Was vielleicht nicht so offenkundig ist: ein Zerfall der türkischen Demokratie wird weder an Europa noch der EU und besonders nicht an Deutschland spurlos vorübergehen.
Türkeipolitik ist EU-Politik
Das ist keine Frage mehr von Zugehörigkeit oder Werten, sondern eine realpolitische Situation: Wenn der türkische Staat mit einer Bevölkerungsgröße von 80 Millionen Einwohnern in einen verschärften Bürgerkrieg stürzt, dann wird das die geschwächten Kapazitäten der EU (Brexit, Ausnahmezustand in Frankreich, Radikalisierung in verschiedenen Mitgliedsstaaten etc.) überfordern.
Türkeipolitik ist auch deutsche Innenpolitik
In Deutschland lebt eine große Zahl an Menschen, die entweder selbst oder deren Vorfahren aus der Türkei kommen. Wir sind zwar bei weitem noch nicht an dem Punkt, dass alle sozialen Konflikte gelöst wären, doch die Minderheiten haben hier immerhin eine Stimme und werden gehört. Wir befinden uns damit auf der Ebene des Dialogs und nicht der Abkehr.
Ein demokratischer Zerfall der Türkei wird direkt Einfluss auf diesen Dialog der Minderheiten in Deutschland haben. Und das, was gemeinhin als „Integration“ bezeichnet wird um Jahrzehnte zurückwerfen.
Als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland genießen Sie ein hohes Ansehen in der türkischen Bevölkerung. Jeder Geste und jedem Wort (auch das zwischen den Zeilen) wird bei diesem Staatsbesuch eine enorme Bedeutung beigemessen.
Deshalb bitten wir Sie gegenüber den demokratischen Kräften ein Zeichen zu setzen, indem Sie vor dem türkischen Präsidenten und vor der türkischen Bevölkerung verdeutlichen, wie sehr Sie, und wie sehr wir in Deutschland, die journalistische, künstlerische und kulturelle Arbeit so vieler Menschen und Gruppen in der Türkei schätzen.
Wir bitten Sie den Menschen in der Türkei Mut zuzusprechen. Wir bitten Sie den demokratischen Kräften Hoffnung zu machen und sie in ihrem Bemühen für eine demokratische Türkei im Sinne der Europäischen Union zu stärken.
Mit freundlichen Grüßen,
Deniz Utlu
Sasha Marianna Salzmann
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