Anis Amris Uhr, Anis Amris Unterhose, Anis Amris Diesunddas


Ich schwor niemals wieder Nachrichten zu lesen, in denen die Worte „Verfassungsschutz“ und „LKA“ vorkommen. Es bringt einfach nichts. Denn da, wo Licht ins Dunkel gebracht werden soll – was doch zur Hauptaufgabe einer Sicherheitsbehörde zählt – bleibt es in Deutschland bisweilen düster. Das hab ich aus dem Fall NSU gelernt. Wann immer die deutsche Polizei mit Terrorismus zu tun hat, beschleicht einen das Gefühl, dass man es mit einer Paralleljustiz in einer Parallelgesellschaft zu tun hat.
Ich berichtete eine ganze Zeit über die Aufarbeitung des NSU. Ich habe damit aufgehört. Aus vielerlei Gründen. Weil man, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht seriös arbeiten konnte. Fehlende Transparenz führte dazu, dass man sich unwillentlich zum Handlanger der Vertuscher und Mauschler macht. Man kann ja nicht selbst ermitteln, sondern muss sich auf Erkenntnisse stützen. Was aber, wenn sich „Erkenntnisse“ als manipulierte Informationen herausstellen? Immer zu. In einem fort.

Die PR-Agentur der deutschen Sicherheitsbehörden ist übrigens der Innenausschuss. Wenn der Innenausschuss tagt, heißt es anschließend immer, dass in den Behörden alles tipptopp läuft.

Verfassungsschutz, BKA, die verschiedenen Landeskriminalämter sind undurchsichtige Behörden mit eigenen Herrschern, politischen Interessen und Verstrickungen. Das war ja das Horrende am NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss. Dass das Kontrollgremium nicht untersuchen konnte, weil immer irgendwer den Schredder anwarf, sobald es interessant wurde. Irgendwann wurde der Begriff „Eigenleben“ für die dubiosen Machenschaften der Sicherheitsbehörden erfunden. Eigenleben klingt fast elegant, oder? Ich schloss mit dem Kapitel ab.

Dann fuhr ein LKW in einen Berliner Weihnachtsmarkt und ich verfolgte mit halbem Auge die Nachrichtenlage. Und dachte: Mannometer, das kommt einem doch alles wieder bekannt vor.

Auf dem Breitscheidplatz also fährt ein Lastwagen in die Menge. Es sterben Menschen. Dann läuft irgendwer einem Ausländer nach, der sich durch Wegrennen verdächtig macht. Dieser Jemand wird festgenommen und stellt sich als Pakistaner heraus, der in der Berliner Massenunterkunft Tempelhofer Hangar wohnt. Eine Hundertschaft stürmt am nächsten Tag den Hangar und befragt vier Afghanen. Warum man eine Hundertschaft braucht, um sich in der Unterkunft ein wenig umzuhören, erschließt sich einem nicht. Braucht es auch nicht. Die Stürmung soll heißen: Ermittlung läuft auf Hochtouren!

Der Pakistaner jedenfalls bestreitet die Tat. Dann – erst dann – kommt irgendwer auf die Idee und sichert Fingerabdrücke im LKW. Vergleicht sie mit dem des Pakistaners, Ergebnis negativ. Das Wegrennen stellt sich im Nachhinein als Hinrennen zur U-Bahn heraus. Angeblich. In welcher Sprache die Vernehmungen stattfanden, weiß man nicht. Vernehmer und Verdächtiger sprachen nicht die gleiche Sprache. In den deutschen Medien wird berichtet, dass der Pakistaner wegen Sexualdelikten aktenkundig sei. Aus den englischen Medien hört man, dass der Pakistaner sich über Misshandlungen in der U-Haft beklagt habe. Dabei wäre es eine journalistischere Haltung gewesen zu sagen: „Wir berichten erst, wenn der Täter gefasst ist!“

Dann denkt irgendwer noch einmal nach und schaut in den LKW. Und findet – Dasgibtsdochnicht!!! Was für ein Ermittlerglück! – die Papiere des Fahrers. Schön aufgeklappt liegt alles da. Also Sachen gibt’s manchmal! Verrückt, oder?

Dann wird tagelang nach dem Besitzer der Papiere gefahndet. Dann die erlösende Meldung. Ein tapferer italienischer Polizist hat Anis Amri in Italien erschossen. Schlauer Kerl! Sofort erkannt und reagiert. Noch aus dem Krankenbett heraus zum Held erklärt. Geht manchmal alles ruckzuck.

In der Zwischenzeit. Anis Amris Bruder. Anis Amris Flüchtlingsstatus. Anis Amris grinst in eine Überwachungskamera. Anis Amri war in dieser Moschee. Nee, doch in einer anderen. Anis Amris Uhr, Anis Amris Unterhose, Anis Amri diesunddas. Wochenlang.

Wie Amri nach Mailand kam, weiß man nicht.

Neue Faktenlage. Amri hatte soundsoviele Identitäten. Woher man das weiß? Weil er lückenlos überwacht wurde. Seit 2015. Angeblich saß er sogar einmal im Auto eines Verfassungsschützers. Blöde Panne, nicht wahr? Sagt man doch, „Panne“, oder? Einmal entwischt und schon einen Anschlag verübt. In der Zwischenzeit dementieren die Sicherheitsbehörden, Amri war kein V-Mann. Ach so? Wurde in der Zwischenzeit der Verdacht geäußert. Von wem?

Wie beim NSU. Wirklich, exakt das gleiche Spiel. Erst ist man erstaunt, dass es ihn gibt. Dann kommt raus, dass man ihn kannte. Dann erfährt man, dass der NSU dummerweise entwischt ist. Dann stellt sich heraus, dass der NSU mit den Sicherheitsbehörden verflochten ist. Dann schnelles Versichern seitens der Behörden, es handele sich bei keinem der NSU-Mitglieder um V-Männer.

In der Zwischenzeit, Berichte über Beate. Beates Katzen. Beates Gymnastikübungen. Beates Kochrezepte. Dann fragt man sich, ob es überhaupt d i e s e r NSU war, der die Leute ermordetet und ob nicht weitere Täter in Betracht kommen. Dummerweise sind die beiden mutmaßlichen Hauptterroristen schon tot. Vor den Augen der Sicherheitsbehörden haben sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Wohnwagen in die Luft gesprengt.

In Leipzig erhängte sich der mutmaßliche Terrorist Dschaber Al-bakr in seiner Zelle in der U-Haft. Ebenfalls vor den Augen der Justiz. Der Amokläufer aus München tötete sich auch. Vor den Augen der Polizei, die ihn stellte. Der Mann, der in Ansbach im Rucksack eine Bombe mit sich trug, ebenfalls erschossen.

Ist doch schade, dass es kein Terrorist lebend in eine deutsche Gefängniszelle schafft, nicht wahr?

So bleibt stets die offene Frage nach Tatmotiven, Hintergründen, Netzwerken. Sind Böhnhardt und Mundlos der Polizei durch die Lappen gegangen oder gegangen worden? Haben sie sich wirklich selber in die Luft gejagt? Hatte irgendwer in der JVA Leipzig ein besonderes Interesse daran, dass Übersetzer und mutmaßlicher Terrorist nicht mehr zueinander kommen? Hat sich der Mann wirklich selber erhängt? War Anis Amri der Fahrer am Breitscheidplatz? Lagen Amris Papiere tatsächlich versehentlich in der Führerkabine des LKW? Handelt es sich bei dem in Italien erschossenen Mann um den Amokfahrer vom Breitscheidplatz?

Seit dem Bekanntwerden des NSU – aufgedeckt wurde ja bislang kaum etwas – verfestigt sich der Eindruck, dass wir es mit einem seltsamen Sicherheitsapparat zu tun haben. Zu oft ist irgendetwas im Ungleichgewicht. Beim NSU dachte ich immer, dass ganz bald eine Welle der Rücktritte, Scham und Reue folgen würde.

Seinen Sicherheitsbehörden zu misstrauen ist ein katastrophaler Zustand.

Eigentlich gehört sich das nicht. Nicht in einer Demokratie. Denn der Staat ist in allen Bereichen ein Teil von mir. Er agiert in meinem Namen, steht in meinen Diensten, wird von meinen Steuergeldern bezahlt. Als Bürger will ich in Fragen der Sicherheit hinter ihm stehen. Ich will, dass angefangen vom Dorfpolizisten bis hoch zum Präsidenten des BKA oder Verfassungsschutz, trotz aller politischen Differenzen, kein Zweifel daran besteht, dass ich es mit einem integren Apparat zu tun habe. Verzeihung, was für ein romantisches Gefühl.

Ich will das hier nicht als hohlen Verschwörungsmist mit Alufolie auf dem Kopf verstanden wissen. Aber als V-Mann aus dem Bundesamt für Theaterkolumnen macht man sich halt so seine Gedanken.

Mely Kiyak
 
 
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