In der Mediathek irgendeiner Talkshow sah ich einen jungen Mann aus Sierra Leone. Er wurde gefragt, wie er sich Europa vorstelle. Er antwortete, Europa sei sicher wie das Paradies. Gutes Essen, schöne Kleider, ein Auto. Ich dachte, oh Mann, was für eine bescheidene Vorstellung vom Paradies.
Nahrung, Kleidung, Mobilität: für uns Europäer fängt ein würdevolles Leben erst damit an. Wir nennen es Existenzminimum. Paradies beginnt für viele erst ab Südseeinsel mit WLAN.
Wir haben die Schwelle zur Dekadenz schon derart überschritten, dass Warenhäuser wieder mit Küchengeräten werben, die keinen Strom benötigen. Männer greifen beim Rasieren zu Pinsel und Seifenschale. Frauen menstruieren in kleine Tassen, die sie sich einführen, und in einem Onlinehandel für Frauenhygiene sah ich eine Monatsbinde aus fair gehandelter Biobaumwolle. Das alles ist die Gegenbewegung zu den Mülltüten mit eingebautem Parfüm. Zu den Slipeinlagen mit Duft, zu den Schuhsohlen mit Duft. Zu den kleinen Duftbroschen, die eigens für die Geschirrspülmaschine entwickelt wurden, damit es beim Öffnen der Tür nicht nach schmutzigen Tassen und Tellern riecht, sondern nach dem Paradies.
Pardon, aber handelt es sich bei uns wirklich um ein alphabetisiertes Volk? Ich bezweifele es langsam. Die Leute sind ja schon nicht mehr in der Lage eine Nachricht zu verschicken, ohne mindestens fünf dieser albernen gelben Gesichter mitzusenden.
Ich bevorzuge bei der schriftlichen Kommunikation die Vorstellung, dass ich es mit erwachsenen Männern und Frauen zu tun habe, die im Zweifel die Geschirrspülmaschine einschalten, statt die chemische Duftbombe zwischen Bolognese-Resten acht Tage lang vor sich hindünsten zu lassen.
Hat schon einmal jemand versucht, schnell in einen Laden zu gehen und einen Regenschirm, ein T-Shirt oder eine Thermoskanne ohne Aufdruck zu kaufen? Es ist unmöglich. Überall Kinderzimmerästhetik. Herzchen, Pünktchen, Streifen, Glitzer, Glimmer, Buchstaben, Zeichen – ein Guantanamo der Typographie. Alles wird beduftet, alles bedruckt. Boah Leute, wir leben so abgefuckt. Der Kapitalismus fickt uns nach allen Regeln der Reklamekunst durch und in den Zeitungen versuchen sie uns wieder beizubringen, wie man Nudeln richtig kocht. Männern wird zum millionsten Mal erklärt, wie sie ihre Frauen anständig durchzubumsen haben. Also streifen sich die Männer nachts ihre bedruckten und parfümierten Kondome über und versuchen brav ihre frisch erlernte Penetrationstechnik anzuwenden. Sie haben es ja im Fernsehen gesehen. Da sitzt eine Dänin am Bettrand eines Paares und gibt Anweisung zum richtigen Stoßen „aus der Hüfte schwingen“. Man will alles richtig machen. Am nächsten Tag wird diese Geliebte nämlich Fotos ihrer Klamotten und ihres Smoothies veröffentlichen und ein paar Worte zu ihrem neuen Lover verlieren. Und überhaupt wird das ganze bedeutungslose Armseligkeitsleben in Fotos fragmentiert und hochgeladen. Was dann noch übrig bleibt wird getwittert oder, wenn es komplizierter ist, in einem Tutorial auf YouTube gesendet. Da klickt man sich dann durch die Exkursionen des Lebens. Wie poliert man Silber, wie cremt man sich richtig ein, wie verdammt schafft man es alles genauso zu machen, wie es Heerscharen von Erklärapparatschiks auf ihren Blogs und Kanälen einem einzuhämmern versuchen?
Wäre ich Kriegsreporterin, wäre der erste Schritt, mir ein Facebookprofil einzurichten. Wäre ich das Rote Kreuz, würde ich sofort anfangen zu twittern, sobald ich einen Engpass bei Blutspenden befürchte. Aber so? Das Internet hat zunächst den öffentlichen Raum digital demokratisiert und sich dann zu einer privaten Quasselbude und Selbstvermarktungsmaschine kolossalen Ausmaßes entwickelt. Wer sich als Unternehmen begreift, muss natürlich auch mit den Mitteln der Werbung agieren. Trotzdem bleibt die völlige Preisgabe des Privaten die unangenehmste Form sich permanent einen auf seine Ich–AG runterzuholen. Hier, mein neuer Artikel, guckt mal, in diesem Hotel habe ich geschlafen, schaut, wo ich gerade bin, im Fußballstadion. Ach ja und hier noch ein Retweet, ich wurde nämlich erwähnt. Am Ende bleibt die logische Frage: Sagt mal, habt ihr kein Leben. oder was? Ist ma’ langsam gut, oder!?
Unsere Art zu leben, heißt es immer so schön, wenn ein Terroranschlag geschieht, das war ein Angriff auf unsere Art zu leben. Und diese schöne, unsere Art zu leben, beschützen wir. Weil wir innerhalb der selbst errichteten Mauern ein so wertvolles Leben gestalten, das vor Würde, Erkenntnis und Liebe nur so strotzt und weil es viel zu viel kosten würde, einem jungen Mann aus Sierra Leone diese unsere Art zu leben beizubringen – die ja im Wesentlichen darin besteht, sich vom kapitalistischen Überfluss versauen zu lassen – sperren unsere europäischen Regierungen ihn lieber gleich ganz aus. Außerdem: Wenn halb Afrika zu uns käme, wie es im Horrorszenario der Faschisten heißt, wen könnten wir in Zukunft denn noch knechten?
Diese Denke, dieser Wohlstand, der im Wesentlichen aus gewissenloser Ausbeutung besteht, macht uns zu merkwürdigen Bürgern, die zu Zehntausenden auf die Straße gehen, weil wir gegen Freihandelsabkommen sind. Aber nicht gegen solche mit Afrika, wo wir uns bedienen, wie es unseren Konzernen passt und wohin wir unseren Müll auslagern, sondern gegen jene, die den Interessen Europas zuwider laufen. Wir wollen die Chlorhühnchen der Amerikaner nicht essen. Aber unsere hormonell gemästeten Hühnerreste sind für die Afrikaner in Ghana und sonst wo gut genug. Es ist nicht gelogen, wir schicken denen unsere abgenagten, abgefressenen Hühnerknochen. Wir nehmen das Geflügel aus, der Rest wird verschickt. Agrarsubventionierte, zerfledderte Hühnerleichen. Nein, nicht geschenkt, zum Verkauf natürlich.
Die AfD spricht immer von der Diktatur der Moral. So nennen sie es, wenn man die Welt als Wirtschaftskreislauf beschreibt, als Markt, der uns zerstört. Ich nenne es die logische Konsequenz sorgfältigen Grübelns. Am Ende steht nur diese Lösung: Teilen. Nicht Mauern bauen sondern Mauern zerstören. Wir müssen durchlässiger werden, in allem. Wir wären dann vielleicht auch weniger traurig. Es sind ja doch viele traurige Menschen unter uns. Kein Wunder.
Wir klicken ins Internet und sind live dabei. Wir sehen, hören und lesen alles in Echtzeit. Noch mehr als auf diese Weise kann man mit der Welt nicht verbunden sein. Wir wissen von Lastwagen mit Hilfsgütern, die auf dem Weg in die ausgebombte und ausgehungerte Provinz Aleppo waren. Wir erfahren von den Bomben, den zerstörten Lastwagen, mindestens 20 toten Helfern und Zivilisten. Wir wissen um die Menschen, die vor den Augen der Weltgemeinschaft, die eben keine Gemeinschaft ist, sterben. Wir sind empört. Wir posten uns die Trauer vom Herzen. Guck mal, ich bin total traurig. Selfie.
Die Kanzlerin hat angesichts der Berlin-Wahl an diesem Montag Folgendes gesagt:
Auch ich habe mich lange Zeit gerne auf das Dublin-Verfahren verlassen, das uns Deutschen – einfach gesprochen – das Problem abgenommen hat. Und das war nicht gut. Und wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen, um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können auf die Situation, die uns im Spätsommer 2015 unvorbereitet traf.
Freunde, das sagt die Kanzlerin! Gibt es eine größere Kapitulationserklärung als das? Sie sagt im Grunde genommen: Alles falsch gemacht. Und ihre Parteikollegen drehen durch. Werden noch absolut kirre mit dieser Frau. Zugeben, dass die eigene Politik sich als Schrott erwiesen hat, ist ja wohl das Allerletzte! Dann lieber noch zwei Zäune. Einen davon für den Verstand.
Als wir im Gorki vor drei Jahren anfingen, das Genre der Theaterkolumnerei zu erfinden, habe ich mir sehr gewünscht, dass viele Theater mitziehen. Wir müssen mehr beschreiben, was uns bewegt. Das Schreiben der Theaterkolumne wie das Schreiben für ein Theaterstück sind zwei Seiten des Dramatischen. Es geht um Konflikt und Lösung. Die Theaterkolumne ist der Monolog unter den Bühnentexten. Nun endlich darf ich den zweiten Theaterkolumnisten Deutschlands vorstellen. Er heißt Hartmut El Kurdi, gehört zu den raffiniertesten, warmherzigsten, lustigsten Denkern und Schreibern, die wir in Deutschland haben. Er wird künftig monatlich für das Staatstheater Hannover El Kurdis Theaterkolumne schreiben. Bitte lesen Sie künftig auch seine Texte.
Ansonsten, bleiben Sie gesund. Bleiben Sie wild. Hören Sie niemals auf, sich aufzuregen. Am liebsten natürlich über El Kurdi statt über mich. Mich bitte penetrieren Sie immer schön aus der Hüfte heraus schwingend mit einem liebevollen Retweet. Auch ich werde Sie stets nach rechts tindern.
Ihre Mely Kiyak
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