Ich befinde mich in meinem Winterurlaub auf der Insel Usedom. Jedes Mal wenn ich ankomme und einen Blick auf die beschilften Dünen werfe, denke ich: Wir haben das Meer vor der Tür und tun uns den Verkehr und die Lebensbedingungen in Berlin an – ham wa se noch alle? Obwohl seit zwei Jahrzehnten die Mauer gefallen ist, sind Unter den Linden und sämtliche ihrer Querstraßen unbefahrbar, weil gebaut oder eine Botschaft beschützt wird. Ins Theater gelangt man nur noch über einen Umweg über Göttingen und den Gotthard Tunnel. Wir sind doch wirklich verrückt, dass wir nicht alle ans Meer ziehen!
Auf der Ostseeautobahn ist man mutterseelenallein. Man könnte als Geisterfahrer im Gegenverkehr fahren und nichts würde passieren. Außer ein paar Spechten in den Bäumen, die behämmert vor sich hin hämmern, ist nichts los. Na gut, es gibt Nazis. Aber ich sage immer, Zivilcourage ist nicht, wenn man als Orientaleuropäer in Berlin-Kreuzberg wohnt. Zivilcourage ist, wenn man als Orientaleuropäer Urlaub in der Heimat der Kameraden macht. Gerade gestern ist mein indischer Kumpel, der auf der Insel zu Gast ist, mit „Hi Kanacke“ begrüßt worden. Aber ich finde, da grüßt man höflich zurück („Hi Arschloch!“) und jeder geht seines Weges.
Trug Brecht Schnauzer?
Ich spaziere viel. Wem begegne ich alle naselang? Dem heiligen Vater und Namensgeber unserer reizenden kleinen Schauspielstätte am Festungsgraben. Im Hotel Ahlbecker Hof, wo man vorzüglich eine Tasse Schokolade trinken kann, liegen prominent im Bücherregal neben einem großen Foto Maxim Gorkis, einige seiner ausgewählten Werke. Zum Beispiel „Die Mutter“. Das ist natürlich zum Piepen komisch. Denn ausgerechnet dieses Buch, das die literarische Epoche des sozialistischen Realismus einleitete, klagt an, was sich seit dem Entstehungsjahr des Romans vor hundert Jahren auch im piekfeinen Ahlbecker Hof nicht geändert hat: drohende Lohnkürzungen, verlängerte Arbeitszeiten. Die Arbeiterklasse klagt erfolglos gegen ihre Lebensbedingungen. Im Buch wie auch im richtigen Leben.
Sähe Gorki das Personal, wie es livriert, als befände es sich noch im ausgehenden 18. Jahrhundert, die Gäste begrüßt und ihre Edellimousinen in die Garage fährt, zwirbelten sich ihm im Grab vor Entsetzen sicher die Schnurrbarthaare. Und Bertold Brecht auch. Denn der schrieb für „Die Mutter“ eine Bühnenfassung. Obwohl. Trug Brecht Schnauzer?
Betriebsausflug in die „Irmgard“
Ein kleiner Spaziergang im benachbarten Seebad Heringsdorf führt einen auf die Maxim Gorki Straße zur Villa Irmgard, ehemals Maxim Gorki Museum. (Zu meinem 20jährigen Gorki-Kolumnistin Jubiläum im Jahr 2033 wünsche ich mir von unserer Intendantin einen Betriebsausflug in die „Irmgard“!) In diese Villa mietete sich der tuberkulosekranke Gorki im Sommer 1922 ein, um sich zu kurieren und zu schreiben. Sein Arbeitszimmer ist noch erhalten. Mit diesen fünf Monaten, die der Russe auf der Insel Usedom verbrachte, erklärt sich auch die Gorkiritis auf der Insel.
Jedenfalls ging ich in die Gorki–Buchhandlung und fand Bücher über „Küstenflieger“, und „Raketenspuren“, aber keine Zeile von Gorki.
Da fragt man sich, warum die Buchhandlung nach einem Dichter benannt ist, bloß weil er fünf Monate auf der Insel weilte, wenn ja doch kein Buch von ihm angeboten wird.
Wäre es nicht sinnvoller, die Buchhandlung nach dem Führer zu benennen? Der regierte immerhin 12 Jahre lang die Insel Usedom. Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg galt für das Ostseebad Zinnowitz das Prädikatsurteil „judenfreies Bad“. Man kann sagen, dass Hitler nachhaltig erfolgreich regierte. In manchen Städten wählen ein Viertel der Usedomer die NPD. Ach Gottchen, ich merkte schon wieder, wie ich mir viel zu viel Gedanken über alles machte, während ich in der Gorki-Buchhandlung Heringsdorf die Bücher „Ostseeküste 1933-1945“, „Klassische Küche Ostpreußens“ und „Gutes aus der alten Heimat“ in die Hand nahm.
Es ist eine Berufskrankheit. Man stolpert die Welt nach Widersprüchen ab. Wenn ich in Berlin in der Drogerie bin, fällt es mir nicht auf. Sobald ich in Mecklenburg-Vorpommern bei Rossmann im Regal „Bräunungsbeschleuniger“ sehe und Crèmes, die für „lang anhaltende Bräune werben“, begreife ich die Botschaft dieses wunderbaren Wortes und freue mich, wie sehr dieses Produkt am richtigen Ort zur richtigen Zeit liegt.
Herzlich willkommen im Neuen Jahr!
Ich liebe 2014!
PS: Gorki war fünf Monate auf der Insel Usedom zu Gast. Die Buchhandlung im Seebad Heringsdorf ist nach ihm benannt worden. Seine Bücher werden dort nicht verkauft. Meine Bücher kann man dort ebenfalls nicht kaufen. Ich reise seit zehn Jahren nach Usedom und war alles in allem länger als fünf Monate da. Sollte man die Buchhandlung nicht umbenennen?