Unser Manifest
Diese Woche gibt es statt einer Kolumne ein Manifest. Ich sage immer: Hauptsache ein Fest.
Ich danke allen europäischen Schriftstellern für ihren Besuch in Berlin und ihre Teilnahme an der Europäischen Schriftstellerkonferenz “Europa – Traum und Wirklichkeit” und wünsche eine gute Heimreise in ihre Heimatländer.
Vor allem danke ich meinen Mitinitiatoren Antje Rávic Strubel, Nicol Ljubic, Tilman Spengler und Frank-Walter Steinmeier. Ein Jahr lang haben wir zusammen gesessen und geplant und gesprochen. Es war eine irre schöne Zeit.
Die Krönung der Konferenz war die Verlesung unseres Manifestes der Europäischen Schriftsteller 2014 im Deutschen Theater.
Klicken Sie auf den Autorennamen, dahinter öffnet sich die Aussage.
Alle Aussagen zusammen lesen sich wie eine einzige große europäische Erzählung.
Bitte schön!
An jedem europäischen Ort – ob im Zentrum oder an der Peripherie – ist die Magie des Erzählens auf andere Weise gegenwärtig.
Das kulturelle Gedächtnis Europas ist der Roman.
Europas Zukunft liegt in der Vorstellungskraft und in der Fantasie.
Übersetzung: Doris Kouba
Übersetzung: Benjamin Langer
Übersetzung: Bettina Seifried
Wenn d a s Europa wäre, wie schön wäre das!
Ich, damals eine 16 jährige Gymnasiastin, überrascht und beängstigt von ihren Gedanken, die sie mir so kurz vor dem Ende anvertraute, rührte unendlich weiter den „Qumështor“, bis die sämige Konsistenz des Puddingkuchens nach ihren Anweisungen langsam kochte, und antwortete nicht. In der immer gleich kreisenden weißen Masse versuchte ich dennoch eine Vorstellung von Paris aufzuspüren. Vergebens. Wo ist Europa? Geographisch wusste ich es, trotzdem war es so weit entfernt, wie ein anderer Planet. Ich und viele Albaner hatten nur eine Traumvorstellung davon.
Diese Szene schlummerte lange in meinen Erinnerungen, und acht Jahre später, im Jahr 1995 wurde sie vor einer Passkontrolle lebhaft wach, als ich meinen Pass vorweisen sollte, gut gemustert von dem Beamten, bis er sich sicher war: Kein falscher Pass, kein gekauftes Visum, vom Typ her, keine Gefahr. Vorbei gehen lassen!
Ich spazierte nicht in Paris, wovon meine Großmutter insgeheim geträumt hatte, aber immerhin durch die Straßen einer europäischen Stadt. Und musste nicht zum Vogel werden, um die Grenzen zu überqueren, wie Ismail Kadare schrieb: In einem abgeschotteten Albanien konnten „nur die Vögel die Grenzen überqueren.“ Ich war endlich dort, wovon meine Großmutter im Stillen nur geträumt hat. Benebelt von der Flut der europäischen Eindrücke, von den gleichgültig laufenden Menschen, sauberen Straßen, einer Infrastruktur, die perfekt lief wie eine Schweizer Uhr. Mit Wohlstand prahlend, damals schien er unerschütterlich wie eine Festung. Mich sortierte er lautlos aus, aber unverkennbar. Das ist Europa, atmete ich tief! Ich war eingereist, aber sicher nicht angekommen! So war es damals!
Heute ist dieses Europa für mich eine Realität, täglich erlebbar, aber irgendwie scheint es immer noch ein Traum geblieben zu sein. Besonders in den letzten Jahren. Und nicht nur für mich. Und vielleicht, heute deutlicher denn je!
Übersetzung: Mely Kiyak
Übersetzung: Bettina Seifried
Europa begann mit dem Schwindel und dem Raub eines lüsternen Götterkönigs, kein glücklicher Gründungsmythos. Und gewiss eine Warnung an die allzu Gutgläubigen und Selbstgerechten vor kulturellem Hochmut. Hier begann das helle Nachdenken über den Sinn unserer Existenz, auf diesem Kontinent wurden aber auch mehr finstere Gräueltaten verübt, als Dichter sich erdenken konnten. Das müssen wir als Vermächtnis bewahren.
Der Gedanke an Europa wird das Böse nicht aus der Welt schaffen. Er kann und wird aber jene bestärken, die das Gute zu bewahren versuchen, weil sie wissen, dass man so handeln muss, als ob es möglich wäre, dass man so denken muss, als sei dies ein rationales Problem und dass man so schreiben muss, als wären die Gebote einer Erziehung der Herzen allgemeingültig. Auch das ist eine europäische Tradition, recht besehen ist sie die Allerbeste.
meine neue Erfahrung – die Grenzen sind offen, aber Europa ist begrenzt.
Übersetzung: Bettina Seifried
Ich möchte eine Geschichte über Europa zu erzählen, die diese fragile Union veranschaulicht, eine Union, die zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg gaben im wirtschaftlich zerstörten und politisch unterdrückten Griechenland einige Eltern ihren Töchtern Namen, in denen sich ihre unerfüllten Wünsche, verletzten Gefühle oder ihre Hoffnungen ausdrückten. Wäre es möglich gewesen, die Welt zu verändern, wären sie dazu bereit gewesen, sei es auch nur mithilfe eines Namens. So tauchten zwischen den wenigen Musen – Kalliope, Melpomene – und vielen Marias auch einige kleine Laokratias (Volksherrschaft) und Eleftherias (Freiheit) auf.
Jahre später kam in der Grundschule in Patras eine neue Mitschülerin in meine Klasse, ein dünnes, dunkelhäutiges Mädchen. Die anderen Kinder machten sich über ihren Namen lustig – sie hieß Europa. Ihre Familie hatte zweimal die Grenze überquert, ihr Leben war also zweifach stigmatisiert – zunächst als Exilanten in Bulgarien nach dem Bürgerkrieg und dann als Flüchtlinge in ihrem eigenen Land. Wer weiß, welche Träume ihre Eltern hatten, als sie ihr diesen Namen gaben? Das frage ich mich noch immer.
Übersetzung: Doris Wille
Übersetzung: Bettina Seifried
Übersetzung: Hüseyin Yildiz
Ankunftsdatum in Frankreich, mit oder ohne Erlaubnis:
7.IV.1959, ohne Erlaubnis.
Ursprünglicher Beruf:
Autoelektriker, Chauffeur.
Sprachkenntnisse (Muttersprache unterstreichen):
Kroatisch.
Warum sind Sie nach Frankreich gekommen?
Hier befindet sich mein Bruder, dies ist ein entwickeltes Land, und ich hoffe, dass Sie mir erlauben, auch hierbleiben zu können.
Unter welchen Voraussetzungen (Arbeitserlaubnis, illegal, Passierschein)?
Illegal.
Warum möchten Sie nicht in Ihre Heimat zurückkehren?
Aufgrund der jugoslawischen kommunistischen Politik.
Welche persönlichen Dokumente besitzen Sie?
Den jugoslawischen internationalen Führerschein.
Kurze Zeit später bekam mein Vater politisches Asyl in Frankreich. Arbeitete auf einem Schrottplatz und in einer Schlachterei. Verliebte sich in eine Deutsche, ging nach Deutschland, wurde Vater, Deutscher, Flugzeugtechniker im Auslandsdienst der Lufthansa. Sein Sohn wuchs in Jugoslawien, Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland auf, als erster in der Familie studierte er und ist mittlerweile selbst Vater zweier Söhne, die Ljubic heißen und in Berlin geboren wurden. Es sind solche Geschichten, die Europa ausmachen. Geschichten von Flucht und Zuflucht, von Möglichkeiten und dem Glauben an die Möglichkeiten. Europa muss offen bleiben für solche Geschichten, sonst verliert es seine Identität.
Eine Insel, wo man uns verlassen hat.
Man stirbt immer noch für Europa, auf der Insel, die niemand sieht.
Übersetzung: Brigitte Döbert
Übersetzung: Bettina Seifried
Du zielst auf das sarkastische Antlitz der Wintersonne
und schießt. Seit so vielen Monaten regnet es nicht – hast du es bemerkt?
Selbst der Himmel gibt dich auf. Und dennoch schießt du, kannst nur schießen.
Du täuscht dich, Europa. Bist alt geworden und hast deine Demut verloren.
Du schießt weder auf den Sarkasmus noch auf den Winter,
nicht einmal auf das Unglaubliche, auf die Verzweiflung.
Du schießt aufs Licht.
Du kannst uns alles entgegenschleudern, Europa: Bomben, Worte, Bilanzen.
Du kannst uns sogar einen Abgeordneten entgegenschleudern, ein Gipfeltreffen.
Aber deine Kinder wollen keine Krawatten. Deine Kinder wollen Frieden.
Deine Kinder wollen nicht, dass du ihnen Suppe vorsetzt. Deine Kinder wollen arbeiten.
Seit so vielen Monaten regnet es nicht – hast du es bemerkt?
Die Erde ist trocken. Nicht einmal Arm in Arm mit der Erde gelingt es uns einzuschlafen.
Während ich dir schreibe, rechnest du weiter ab, Europa.
Wer schuldet. Wer leiht. Wer zahlt.
Aber deine Kinder haben Hunger, sind müde. Deine Kinder haben Angst vorm Dunkeln.
Du musst deinen Kindern ein Lied singen, damit sie einschlafen können.
Ich habe an dich geglaubt, und du hast meine Zukunft und die meiner Geschwister geraubt.
Wenn wir schweigen, Europa, dann nur weil wir, im Gegensatz zu dir,
nicht schießen wollen.
Übersetzung: Timo Berger
Europa beginnt, wenn Ost und West, Süd und Nord bloß noch die Himmelsrichtung anzeigen.
Europa beginnt, wenn Hautfarbe und Geschlecht nichts sind als fliessende Attribute der Schönheit, wie Augenfarbe, wie Haar.
Europa beginnt dort, wo unsere Vorurteile enden.
Europa – American Dream
Europa – Freiheit auf Raten
Übersetzung: Brigitte Döbert
Übersetzung: Samir Sellami
Auf diesem Weg hat die Europäische Union die meisten der Ideale verraten, für die sie erdacht wurde. Für das 21. Jahrhundert müssen wir diese Ideale neu formulieren: die Würde des Menschen, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, indem wir eine Pädagogik und eine Schule des politischen Denkens schaffen, die unsere Kinder darauf vorbereiten, einen Raum jenseits von Identität, Nationalität und sprachlichen Unterschieden zu bewohnen. Nur wenn wir das „nomadische Europa“, das „kosmopolitische und intellektuelle Europa“ und das „Europa eines sozialen und ökologischen Aufbegehrens“ miteinander verbinden, wird es uns gelingen, dem europäischen Gedanken wieder Hoffnung zu geben. Dafür lohnt es sich zu kämpfen; ob innerhalb oder außerhalb der europäischen Institutionen.
Übersetzung: Samir Sellami
Übersetzung: Brigitte Döbert
Übersetzung: Ann Catrin Appstein-Müller
Küsse einen Europäer;
Die brauchen das.
Liebes Europa,
Küsse die Welt;
Du brauchst es.
Übersetzung: Bettina Seifried
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