Auch drei Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine habe ich kaum eine Ahnung, was da gerade vor sich geht. Ausgerechnet ich, die ich seit fast zwei Jahrzehnten politischen Schreibens eine Art Denkkompass trainiert und eingeübt habe, um Politik zu verstehen, ein wenig vorauszuschauen und zu kommentieren. Als der Krieg begann, wusste ich nicht einmal, welche Sprache man in der Ukraine spricht. Das ist insofern dumm und peinlich, weil ich auf der von mir mitinitiierten Schriftstellerkonferenz 2016 Serhij Zhadan aus der Ukraine einlud und er Russisch sprach – und also habe ich nicht weiter gefragt. Auf beiden Konferenzen (wir hatten zwei europäische Autorentreffen organisiert) haben wir über Politik und Kriege geredet, aber über das Wichtigste, nämlich die Sprache, kaum. Dabei sind Sprachen oft auch eine Art Kriegsanlass. Die Sprache einer unterdrückten Bevölkerung kann auch als Geste des Widerstandes funktionieren. Die Kurden in der Türkei beispielsweise sprachen trotz Repressalien und Verbot weiter Kurdisch und waren damit mächtiger als die Türkei mit Waffen, Vertreibung und Krieg. Kein Panzer und kein Gewehr konnte dem Sprechen, Dichten und Singen der Kurden etwas entgegensetzen. Dieser Kampf dauert bis heute an. Wenn die Ukrainer heute darauf bestehen, nicht Russen sein zu wollen, dann ist das nicht nur ein Kampf um Staatsangehörigkeit und nationale Eigenständigkeit, sondern auch einer, der mit kultureller Identität zu tun hat.
Serhij Zhadan beschrieb und verband in seinem vor drei Jahren bei Suhrkamp erschienenen Gedichtband Antenne (da dauerte der Krieg in der Ukraine bereits seit sechs Jahren an) den Verlust des Vaters und den Krieg mit der Sinnsuche im Dichten:
»Mag der nächste Frühling kommen. Mag uns der Optimismus peinlich sein. Mögen die Stängel des Schilfrohrs wie Antennen das Wichtigste aus der Luft filtern – Rhythmus und Vergebung.«
Sich selbst beschrieb er als kühnen Dichter »an den Schleusen der europäischen Flüsse«, als Dichter eines Landes, »das wehrlos stirbt, wenn es den Winter spürt«, der Winter auch ein Sinnbild des Krieges.
Es sind die Autoren, die an den Grenzposten zwischen Frieden und Krieg zusammentragen, was sie sehen und hören. Das und nichts Anderes sollten Schriftsteller tun. Schreiben und nicht unterschreiben. Wann fing das mit den offenen Briefen eigentlich an, was jetzt geradezu im Wochentakt inflationär genutzt wird? Der erste offene Brief verband eine atemberaubende Schicksalsgemeinschaft von Alexander Kluge über Gerhard Polt zu Dieter Nuhr. Sie forderten eine Art Waffenlieferungsstopp, oder was anderes, richtig verstanden habe ich es immer noch nicht. Der zweite offene Brief wurde von anderen Schriftstellern unterschrieben und verlangte das Gegenteil.
Mich hat keiner der Briefe erzürnt. Ich finde auch nichts daran verwerflich und kenne Unterzeichner aus beiden Lagern. Aber ich glaube, mich hat zum ersten Mal wirklich nicht interessiert, was deutsche Schriftsteller »fordern«. Mir käme als Autorin niemals in den Sinn, etwas von der Regierung zu verlangen oder zu bestellen, im Sinne von »Schickt Panzer!«. Die Vorstellung, dass der Kanzler an meiner Meinung interessiert ist, hatte sich in dem Moment erledigt, als ich mit Mikhail Shishkin und Frank-Walter Steinmeier 2014 von der ZEIT interviewt wurde und mein Kollege Mikhail den damaligen Außenminister für die deutsche Russlandpolitik zur Rechenschaft zog. Steinmeier hörte interessiert und aufmerksam zu, schmückte sich mit uns Autoren und tat im Laufe seines Berufslebens, was er für richtig hielt, ohne auf Schriftsteller oder andere Kulturschaffende zu hören. Vieles von dem, wozu sich die Autoren aus Osteuropa, dem Balkan und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion heute äußern, deckt sich mit dem, was sie schon immer erzählten. Aber damals vor fast 10 Jahren interessierte es niemanden. Jetzt, wo die Deutschen Angst vor einem atomaren Krieg vor ihrer Haustür haben, hören sie Mikhail, Serhij, Wladimir Kaminer, Herta Müller oder Swetlana Alexijewitsch und allen anderen interessierter und konzentrierter zu. Das ist schade, aber auch das ist nicht ungewöhnlich. Das Interesse der Deutschen an der Weltlage fängt immer da an, wo die Gefahr an ihre eigene Haustür klopft.
Die deutschen Schriftsteller, Publizisten und Journalisten können kaum etwas zum Verständnis dieses Konfliktes beitragen. Alles, was sie tun, ist der Versuch, die Politik dahingehend zu beeinflussen, dass ihr deutsches Künstler- und Journalistenleben beschützt wird. Damals wurden wir für unsere Konferenzen ausgelacht. Heute stehen die gleichen Journalisten Schlange bei unseren Gästen von damals und fragen: Was wird Putin tun? Reicht die Atombombe bis ins Bötzowviertel in Berlin-Friedrichshain?
Offene Briefe zu unterschreiben käme für mich nicht in Frage. Schon allein deshalb nicht, damit nicht das geschieht, was mit der preisgekrönten Schriftstellerin und meiner ehemaligen Dozentin vom Deutschen Literaturinstitut Leipzig, Katja Lange-Müller, geschah. Erst unterschrieb sie einen der beiden offenen Briefe und distanzierte sich anschließend von ihrer Unterschrift mit dem Verweis, nach der Unterzeichnung sei ihr aufgefallen, der Brief trüge eine Von-oben-herab-Attitüde und unklare Formulierungen. Eigentlich war das der Grund, weshalb man sie damals als Dozentin einlud, uns zu unterrichten. Dass sie uns, als zukünftige Schriftsteller, darin schult, Ungenauigkeiten zu erkennen und nicht von oben herab zu formulieren. Verblüffend, dass sie in ihrem Fachgebiet versagte. Ich glaube Katja Lange-Müller kein Wort ihres semantischen Balletts, das sie in wortreichen Interviews veranstaltete. Die Pose der Reue und Distanz ist vermutlich eine Reaktion auf die unglaubliche Häme, die ihr entgegenschlug. Na klar fiel auch der Begriff »wie in der DDR« an irgendeiner Stelle, weil darunter geht es nie. Auch so eine Attitüde unserer Zeit. Dass ostdeutsche Intellektuelle jede politische Widerstandsgeste mit ihren Erinnerungen an die DDR verknüpfen oder damit begründen. Kann man den Ton eines offenen Briefes in einer Demokratie wirklich in den unmittelbaren Vergleich einer Diktatur stellen? Als Dozentin und akribische Arbeiterin an Texten habe ich sie präziser in Erinnerung. Das alles sind lediglich Gedanken und stellen für mich keinen Grund dar, weder mit dem Lesen ihrer Bücher aufzuhören, noch sie zu verdammen, als hätte sie wer weiß was für ein Verbrechen begangen. Eine andere Kollegin und Kommilitonin aus dem Institut, ebenfalls Unterzeichnerin und Initiatorin eines Briefes, in dem Handlungsanweisungen an die Regierung adressiert wurden, ist Juli Zeh. Sie war im Jahrgang über mir, hat nebenbei noch Rechtswissenschaften studiert und später in Völkerrecht promoviert und machte als Autorin eine unglaubliche Karriere. Auch hier gilt, ich war mir mit ihr in keinem einzigen Punkt, an dem sie sich politisch äußerte, jemals einig. Aber die Reaktion auf ihre Unterschrift finde ich ekelhaft. Für sie tat es mir am meisten leid. Juli war kurz nach dem Krieg auf dem Balkan, bereiste das kriegszerstörte Bosnien und schrieb darüber, als wir noch im Seminar Scheine sammelten und uns darüber stritten, wer Frau Lange-Müller die Zigaretten anzünden und ihre Tasche tragen durfte.
Ist mein Punkt klar geworden? Diese offenen Briefe sind unwichtig. Interessant ist etwas Anderes daran.
Ich bewundere die Selbstsicherheit all jener, die sich von zu Hause aus mit Meinungsbeiträgen zu Strategien der Kriegsführung einmischen, obwohl sie hauptberuflich Krankenschwester, Lehrerin, Augenarzt, Regisseurin oder Tankwart sind. Ich habe kein technisches Wissen über Kriegsgerät. Bei der Bundeswehr war ich auch nicht, sodass ich nicht einmal weiß, wie man sich als Soldat in der Bodentruppe verhalten muss. Also weiß ich nicht, wie der Krieg ausgehen wird und was zu tun ist. Im ARD-Presseclub sitzen seit Kriegsbeginn keine Journalisten, sondern Militärexperten. So hört es sich jedenfalls an. Man kann sich in Umwelttechnik einlesen, man kann Sozialpolitik pauken oder die Rentenformel auswendig lernen und kommentieren. Aber einen Krieg lesen, erklären und seinen Ausgang vorhersagen, von zu Hause aus, abends nach Feierabend, das finde sogar ich, die ich von Geburt an Expertin für einfach alles bin, ziemlich haarsträubend.
Es gibt einen einzigen Krieg auf der Welt, in dem ich mich herkunftsbedingt gut auskenne. Diesen Krieg zu begreifen habe ich Jahrzehnte gebraucht. In der Mitte meines Lebens hat sich meine Meinung grundlegend geändert. Als Kind sah ich in der Nähe von Bingöl mal einen Panzer. Ich glaube, es war sogar ein deutsches Fabrikat. Majestätisch und mächtig fuhr er durch ein Tal. Das Bild war so unwirklich. Macht mich zu keinem Experten, aber zu jemanden, der einen großen Respekt vor schwerem Kriegsgerät hat. Das bedeutet alles Mögliche. Von »Bitte noch mehr reden und verhandeln« bis »Bitte aufhören zu reden und endlich handeln!«. Im Wesentlichen aber bedeutet es immer noch, ich habe wenig Ahnung und gar keine Meinung. Wenn mehr Waffen Kriege beenden können, okay, dann bitte mehr Waffen. Aber ist das eine sichere Gleichung? Ist Krieg wie Mathematik?
Jedes Land, jeder Konflikt haben eine andere Geschichte. Aber eines bleibt doch immer gleich. Man darf in einem Autokraten und Faschisten niemals hoffen, eines Tages einen Demokraten und Menschenfreund zu entdecken. Auf die Kriegslust eines Kriegsherrn werden niemals Skrupel, Einsicht oder Angst folgen. Umso mehr musste ich lachen, als ich hörte, dass der türkische Präsident als Friedensvermittler im Russland-Ukraine-Krieg seinen großen Auftritt hatte. Hier von Berlin aus unterstütze ich gerade eine Reihe von kurdischen Autoren und Autorinnen, die wie Hunde in Käfigen in türkischen Foltergefängnissen ausharren mussten, bevor ihnen die Flucht gelang. Manche sind noch dort geblieben, ihnen droht Haft, oder sie stecken in Prozessen. Der Hundekäfig ist keine Metapher. Meine Kollegin musste nackt im Käfig hocken, anschließend wurde sie verhört. Die Bilder von 2016 aus dem kriegszerstörten Sur, das war die Altstadt Diyarbakırs, gingen um die Welt und scheinen im Rahmen der Martin-Luther-King-Friedensmission des türkischen Königs im karierten Jackett dennoch vergessen. Vergessen auch das permanente deutsche Schweigen zum Krieg gegen die Kurden in der Türkei, dem Irak oder Syrien. Die Politik steckt voller Widersprüche und Eigeninteressen. Machen wir uns nichts vor, jeder Schritt, den die Bundesregierung in diesem oder einem anderen Konflikt unternimmt, ist der Versuch, etwas für die Deutschen zu tun. Vielleicht ist das richtig oder falsch. Wer Moral und Schönheit sucht, sollte nicht in der Politik nach ihr fahnden.
So ist wie immer alles im Leben, was der Mensch als politische Meinung formt, eine Frage der Perspektive, und die Summe aus Bildung, Art und Qualität der Informationsbeschaffung, und ja, auch von Herkunft. Vom Sofa aus, mit festem Wohnsitz und der Gewissheit, am nächsten Tag unversehrt im eigenen Bett aufzuwachen, ganz egal, ob man ein Russlanddeutscher der zweiten Generation in Berlin-Marzahn ist oder eine kanadische Intellektuelle, kämpft und fordert es sich zweifelsfrei selbstbewusst. Wer die echte Unübersichtlichkeit einer Kampfhandlung kennt, wird anders abwägen.
Jürgen Trittin gab diese Woche der ZEIT ein bemerkenswertes Interview, das ich von der ersten bis zur letzten Zeile interessant und lehrreich fand. Er sagte etwas ganz ähnliches:
»Meine Erfahrung mit denen, die ich in Afghanistan, in Mali, vor der Küste des Libanon getroffen habe, war: Ihnen ist die Begrenztheit der militärischen Mittel viel bewusster als manchen meiner Kollegen im Bundestag. Auch wenn ich über internationale Konflikte mit Offizieren rede, spüre ich eine stark ausgeprägte Zurückhaltung, was den Einsatz militärischer Gewalt angeht. Die fehlt mir bei vielen Feuilleton-Strategen und Twitter-Helden.«
Dokumentation scheint mir die beste Methode zu sein, um sich als Schriftsteller nützlich zu machen. Dokumentation ist es auch, die Kriegsverbrecher später vor Gericht auf rechtsstaatliche Art zu Verbrechern erklären wird. Wir können als Autoren das Leid festhalten, den Vertriebenen zuhören und, wo es nötig ist und sie es nicht können, ihre Geschichten aufschreiben. Vielleicht ist das der einzige Punkt, der mich an den offenen Briefen der Künstler störte. Dass sie weit unter dem künstlerischen, schriftstellerischen oder anderweitig handwerklichen Können ihrer Unterzeichner standen.
Ich hoffe auf die Vernunft derjenigen, die die Macht haben, Entscheidungen zu treffen, dass sie die Klugheit besitzen, sich von denjenigen beraten zu lassen, die Zweifel als Stärke begreifen.
Und von meinen unterschreibenden Kollegen wünsche ich mir: Schreibt! Nehmt Einfluss mit dem, was ihr am besten könnt.
Mit schönen Grüßen
Ihre Mely Kiyak
P.S.: Gerhard Polt gab der Süddeutschen Zeitung übrigens ein so tolles und fantastisches Interview, dass ich dachte, alter Doofkopp, Du bist so lustig und geil auf Deinem Gebiet, kein Mensch interessiert sich für Deine Meinung zu Waffenlieferungen. Lest selbst, hier.
Jürgen Trittin gab kurz nach Kriegsbeginn dem Spiegel ein sehr gutes Interview, hier, und das in der ZEIT bitte unbedingt auch lesen, hier.
Wer Anne Applebaum nicht kennt, sollte ihre Bücher lesen, sie schrieb vor Jahren über Putin und kann die Konflikte sehr gut erklären. Hier ein fabelhaftes Gespräch mit ihr als Einstieg, um ihre Arbeit kennenzulernen.
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