Bertolt Heinz Willy Yıldırım

Liebe Leserinnen und Leser,

hier bin ich wieder, Ihre Theaterkolumnistin aus dem Gorki. Sie wissen noch, wer ich bin?

Durch Krankheit bedingt, war ich in einer völlig anderen Sphäre unterwegs. Das Letzte, was ich sah, bevor ich in den Tiefen unseres Gesundheitssystems verschwand, war ein Deutschland, das sich wegen der Maskenpflicht im Supermarkt und einem kostenlosen Impfangebot kurz vor dem Bürgerkrieg befand. Ich war fast ein wenig froh, andere Sorgen zu haben, aber dann traf ich in den Kliniken, Wartezimmern und Arztpraxen erneut auf diesen ganz bestimmten Leutetyp. Vielleicht schreibe ich irgendwann einmal darüber. Aber nicht heute und nicht hier.

Nun bin ich mit einem halben Bein zurück und der größte Unterschied zwischen jetzt und vor 14 Monaten scheint mir der Krieg in der Ukraine zu sein – und dass Memo Vater geworden ist. Das ist insofern eine Überraschung für mich, weil ich nie davon ausging, dass Memo überhaupt weiß, wie das geht. Er ist für mich die reinste und unverdorbenste Seele der Welt. Ich kann mir Memos Vaterschaft nur so erklären, dass sie auf einem juristisch anfechtbaren Weg zustande kam.

Leser der ersten Stunde werden Memo kennen. Er ist derjenige Schauspieler im Haus, der auf der Bühne, wenn er Türken spielt, dafür nicht verkleidet werden muss. Er kommt in Privatklamotten und tritt ohne Kostüm und Maske auf, weil er auf 100 Kilometer Entfernung wie ein Türke aussieht. Kein Abiturkanacke mit Erasmushintergrund, Goldkettchen und weißen Tennissocken über Jogginghose, sondern wie ein klassischer Gastarbeiter, wie Onkel Iskender. Memos tiefe Gesichtszüge erinnern an Euphrat und Tigris. In seinen Nasolabialfalten trennen sich die Flüsse, an seinem Kinn finden sie wieder zueinander. Memo ist nicht Eastcoast, nicht Kanye, nicht Hip Hop. Memo, das ist Erzincan, Elâzığ, Erzurum, das sind Saz, Keman und Mey. Memos Cordanzug riecht nach Staub und getrockneten Rosinen, mittags sitzt er nach Türkenart auf der Parkbank und nascht Leblebi.

Memo zeugte seinen Sohn während der Pandemie. Dagegen ist nichts zu sagen. Im Gegenteil. Ich glaube, er tat das einzig Richtige. Wenn die Menschheit durch Krieg oder Krankheit bedroht ist, dann gilt es zu pflanzen und zu zeugen. Doch dann sah ich den Jungen. Ich sagte, »Memo, das ist nicht dein Sohn. Man hat dir was untergeschoben«. Wir standen gerade bei uns in der Gegend, Ecke Muskauer, oder wie die Türken hier sagen: Muskuwa.

Der knapp Einjährige hat blonde Locken, blaue Augen. Nicht nur phänomenologisch, auch habituell erkenne ich große Differenzen zu den dicken, kleinen Chipsfressern bei mir hier im Kiez. Morgens, bevor die anderen Kinder kommen, geht Memos Kleener in Klettsandalen und Jack Wolfskin-Fleecepulli zum Spielplatz, legt sein Handtuch auf die Rutsche, um sie für sich zu reservieren. Anschließend wäscht er sich die Hände am Brunnen, von denen bei uns hier ziemlich viele stehen. Dann holt er aus seinem kleinen Teddyrucksack ein weiteres Handtuch heraus, trocknet sich die Händchen und radelt mit Fahrradhelm in die Kita. Wenn dieser Junge groß wird und Schauspieler, müssten sie ihn mit großem Aufwand zum Türken verkleiden und er wäre immer noch wie eine Parodie.

Wie kann Memo ein Kind erschaffen, das wie das genaue Gegenteil von ihm aussieht? Schönen Gruß an alle Mendel-Skeptiker. Memos Junge scheint die berühmte weiße Erbse zu sein, die aus der roten Reihe tanzt.

Ich fragte Memo nach dem Namen des Kleinen. Meines Erachtens liegt es völlig auf der Hand, dass der Sohn eines Memo Cemo oder Kemo heißen muss. Da Memo mit Nachnamen Yılmaz heißt, hätte ich eine Alliteration gut gefunden. Yıldırım Yılmaz wäre mein Vorschlag. Der Junge heißt aber Bertolt Heinz Willy. Was natürlich sehr schön klingt und eine Hommage an Memos Theatervorbilder Bertolt Brecht, Heinz Rühmann und Willy Millowitsch ist, aber einer völlig anderen Tradition folgt als der heutigen deutsch-türkischen Namensgebungspraxis. Deutschtürken verpassen ihren Kindern Doppelnamen, mit einer türkischen und einer deutschen Hälfte, und das klingt dann so: Hedwig-Hatice, Bülent-Balthasar und Leman-Leonie. Nicht einmal meine Katze würde ich so nennen, aber gut, ich habe auch keine Katze.

Ich nahm also Bertolt Heinz Willy Yılmaz auf den Schoß, fütterte ihn mit einer pürierten Kohlroulade und fragte, »Memo, warum? Warum hat dieser Junge keinen Namen, der etwas mehr ›nach uns‹ klingt?« Und er antwortet, »Genau deshalb. Ich möchte meinem Jungen keine Hürden in den Weg stellen. Ein türkischer oder arabischer Name ist, als würdest du deinem Kind Steine in den Rucksack legen und ihn ins Meer stoßen. Er würde keine Wohnung bekommen, keinen Job, überall würde man ihn herausfiltern«. Tja, was soll ich sagen? Daran gibt es nichts zu beschönigen. Glaubt irgendwer, dass ich hier noch Kolumnen schreiben würde, wenn ich Willy hieße? Ich wäre schon längst Bundeskanzlerin. Willy Kiyak, ich sehe mich gerade beim Kniefall in Warschau. Aus mir wäre richtig was geworden.

Zu Memo sagte ich, »Pass auf. Ich unterstütze dich, was deinen Jungen angeht. Aber wenn du willst, dass er hier im Kiez überlebt, musst du ihm beibringen, mit der Schaufel den anderen Kindern eins über die Rübe zu ziehen. Das ist Kreuzberg, nicht Steglitz. Du liest ihm Tschechows Kurzgeschichten vor? Hör auf damit! Verbau ihm nicht die Zukunft. Zeig ihm, wie man im Späti für acht Gummitiere zahlt, aber de facto 20 in der Tüte hat. Denn so wie der Junge ist, hat er gerade nicht Steine im Rucksack, sondern einen ganzen Steinbruch, verstehst du? Später kann er immer noch etepetete sein tun.« Da unterbrach uns der kleine Willy und sagte, »Mely teyze, es heißt nicht sein tun, sondern nur sein.« Ich sagte, »Missgeburt, ich tu dir gleich ’ne Schelle geben tun, lan!«

Na ja, und Krieg ist auch noch. Niemand erwartet ernsthaft, dass ich meinen Senf dazu beisteuere, oder? Vorhin sprach ich mit einem Kollegen von einer überregionalen Zeitung, der erzählte, dass eine junge Kollegin in der großen Konferenz anregte, der Verlag möge »angesichts des Krieges in der Ukraine und der damit verbundenen Traumata« psychologische Betreuung anbieten. Ich fragte den Kollegen, ob denn Ukrainer in der Redaktion arbeiten und er sagte, »Nicht doch! Unsere deutschen Redakteure sind traumatisiert.« Und da war ich doch einigermaßen sprachlos. Ich rief natürlich sofort einen anderen Kollegen von einer anderen Zeitung an und erzählte ihm die Story brühwarm weiter. Er sagte mir, »Halt dich fest. Bei uns haben sie so eine psychologische Betreuungsstelle eingerichtet und die Schlange davor ist ziemlich lang.« Da war ich ja nun noch mehr baff.

Es herrschen so viele Kriege, wir sahen und sehen jahrelang buchstäblich live dabei zu, wie Menschen im Mittelmeer und in der Ägäis ertrinken. Flüchtlinge verhungern in Moria, aber jetzt geht es den Journalisten schlecht?

Der befreundete Redakteur erzählte noch etwas, »Den Kollegen geht vor Angst der Arsch auf Grundeis. Die schauen sich Baupläne der Stadt an, um herauszufinden, wo der nächste Bunker ist, damit sie im Fall eines Atomkrieges direkt dorthin laufen können.« Ich sagte, »Du, ich bin sicher, dass es hier in Berlin jede Menge Deutsche gibt, die gerade mit einem Handtuch auf dem Weg zur U3 sind und ihren Platz im U-Bahn-Schacht reservieren, für den Fall, dass der Russe Berlin beschießt.«

Nichts macht den Deutschen so sehr Angst, wie wenn woanders Krieg ist. Sofort wimmelt es nur so von Artikeln über Angstbewältigung, »Wie sage ich es meinen Kindern?« und »Jodtabletten oder Klopapier? Was wird zuerst alle?«. Woanders sterben Menschen und in Deutschland beginnt eine Besteuerungsdebatte. Wir hätten in Deutschland längst unabhängige Wind- und Wetterenergien, aber wenn der Deutsche was nicht mag, dann ist das Innovation gepaart mit Intelligenz und Weitsicht. Wir sind schließlich das Land, indem der Begriff Querdenker für Nazis in Vollkornsandalen mit Judenstern auf der Weste verwendet wird.

Erinnern Sie sich noch, als 2020 in einem Lager auf Lesbos 13.000 Menschen interniert waren? (Sie sind es immer noch. Aber die Lager heißen mittlerweile anders.) Die Flüchtlinge froren und hungerten. Damals ging es darum, dass 5000 Frauen und Kinder gerettet werden sollten. Wochenlang wurde gestritten und debattiert. Wissen Sie, wie viele man am Ende holte? 57 Kinder betraten nach einer unendlich widerwärtigen Debatte auf dem Flughafen Hannover deutschen Boden.

Siebenundfünfzig.

Heute begründet die grüne Außenministerin mit Tränen in den Augen die Aufnahme von fast 110.000 Flüchtlingen aus der Ukraine damit, dass es sich um kriegstraumatisierte Kinder und Mütter handele. »Dies kann nur der Anfang sein«, sagte sie in Moldau. Und in New York vor den UN begann sie ihre Rede mit einem Kind, das im U-Bahn-Schacht zur Welt kam und Mia heißt, »es geht um Mia«. Während Moria brannte und die Kinder im Schlamm ertranken, genehmigten die Grünen Abschiebeflüge nach Afghanistan. Keine paar Wochen später fiel Kabul und Menschen hängten sich vor Verzweiflung an startende Flugzeuge. Die fast personengleiche SPD von damals, die vor zwei Jahren namentlich gegen die Aufnahme der 5000 überwiegend aus Afghanistan, Irak und Syrien stammenden Mütter und Kinder im Bundestag stimmte, will heute am liebsten alle aus der Ukraine retten. Nun heißt es aber, man solle nicht so über Flüchtlinge sprechen. Sie doch um Himmels willen nicht gegeneinander ausspielen. Keine Neiddebatte, keine Vergleichsdebatte anstellen, aber ich finde, doch. Genau so muss man darüber sprechen. Und es der SPD und den Grünen vorhalten. Sie sollen und müssen sich erklären. Denn die Frage ist, was war damals anders als heute? Ist Krieg nicht Krieg und Kinder nicht Kinder? Wir wissen die Antwort. Nichts hat sich geändert. Es sind eben nicht die richtigen Kinder von den richtigen Eltern. Es sind die falschen Menschen.

Keine Lust, weiter darüber zu sprechen. Es ist alles so bigott. Wenn man sieht, zu was Deutschland in der Lage ist, wenn es nur will und es dann in den Vergleich stellt, zu dem, wenn es nicht will, dann kann ich nur sagen, Memo, du hast so recht mit allem. Dass du deinem Kind in einem freien und scheinbar aufgeklärten Land nicht den Namen schenkst, den du schön findest, sondern ihn abwägst und ausrechnest, womit du ihm am wenigsten Minus in seine Zukunft gibst, dann ist das alles mal wieder ganz schön schade.

Bis ganz bald wieder,
Ihre Mely Kiyak

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