Auf Strümpfen

Der Name des Fotografen wird in keinem Medium genannt. Vermutlich aus Sicherheitsgründen.

Es gibt ein Bild, das ich mir aufgehoben habe. Die Aufnahme ist über eine Woche alt und wurde seither in verschiedenen internationalen Medien veröffentlicht. Es wird vermutlich für sehr lange Zeit eines der letzten internationalen Pressefotos aus Kabul sein. Nicht nur die Afghanen fliehen. Auch die Journalisten und Korrespondenten verlassen Afghanistan. Vielleicht werden uns künftig Berichte von afghanischen Bloggern und Autoren erreichen, die aus ihrem Land senden. Wenn wir Glück haben, werden die Texte übersetzt und wir erfahren, was los ist. Vermutlich wird das nicht sehr häufig geschehen. Es wird wohl so laufen, wie es meistens ist. Man kennt wen, der kennt wen, und der hat mit jemanden von dort telefoniert und kann berichten.

Auf dem Bild, das ich meine, sieht man eine willkürlich in die Menge gehaltene Fotokamera. Ein kleiner Ausschnitt, repräsentativ für ein größeres Desaster. Ich zähle elf Erwachsene, die raschen, fast rennenden Schrittes auf dem Weg zum Flughafen in Kabul sind. Möglicherweise haben sie ihr ursprüngliches Fortbewegungsmittel – Bus, Taxi oder Auto – verlassen, um zu Fuß weiterzulaufen. Auf einem anderen Foto sah ich nämlich gigantische Staus in und um Kabul herum. Die Autos waren leer, sie wurden einfach auf der Straße stehen gelassen.

Die Fotografie zeugt von einer ungeheuer nervösen Hast. In der Obhut eines jeden Erwachsenen ist ein Kind, das gestresst und verängstigt mit den Erwachsenen Schritt zu halten versucht. Die Männer und Frauen halten die Kinder nicht an den Händen, sondern umklammern sie fest an deren Handgelenken. Keines der Kinder trägt geschlossene Schuhe, sie haben alle die ortstypischen Latschen und Flip-Flops an. Am äußeren Bildrand läuft eine kleine afghanische Frau ohne Schuhe. Sie flieht auf Strümpfen. Auch diese Frau umfasst ein kleines Mädchen am Handgelenk und zieht es energisch hinter sich her. Eine hat ein Baby über die Schulter geworfen. Jeder trägt ein Kind. Jeder dieser Erwachsenen hat statt Koffer oder Taschen ein Kind im Gepäck. Erwachsene, die Kinder in Schläppchen retten.

Es soll hier nicht, wie in den sozialen Netzwerken üblich, um pornographisch zur Schau gestellte Trauer und Hilflosigkeit gehen. Das geschah in den letzten Tagen mal wieder in einem unerträglichen Ausmaß. Das Publikum versichert sich gegenseitig sein Entsetzen.

Es geht um die Bilder. Nur um die Bilder. Um diesen kurzen Zeitraum, in dem es sie noch gibt, und demnächst nicht mehr.

Mit dem Abzug der internationalen Presse werden auch die Bilder verschwinden. Mit dem Verschwinden der Bilder wird die Anteilnahme der Weltöffentlichkeit verschwinden und damit der immense Druck, den man auf die Politik ausüben kann. Das war im Irakkrieg lange Zeit so, im Syrienkrieg ist es auf jeden Fall so, in Kurdistan auch; von überall dort gibt es schon lange keine Bilder mehr. Keine Fotos und Reportagen bedeuten, dass das Interesse an den Folterlagern in Libyen schwindet, dass man nicht erfährt, ob die Flüchtlinge in den Lagern im Libanon, Jordanien, der Türkei gut versorgt sind. Ob die Menschenrechtsstandards auf den griechischen Inseln mit ihrer unübersichtlichen Situation und anderswo in Europa eingehalten werden. Für die – ich glaube derzeit neun – bewaffneten Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent (Kongo, Äthiopien, Nigeria, Uganda, Somalia, Mali, Sudan, Mosambik, Eritrea) war die Beachtung seit jeher gering, der dortigen Hungersnot begegnet man mit atemberaubender Gleichgültigkeit. Es sind immer die ausbleibenden Bilder. Wo die Bilder fehlen, bleibt die Not der Betroffenen abstrakt, in gewisser Weise unvorstellbar. Das ist kein Vorwurf, sondern ein normaler Vorgang. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, eine Redewendung, aus der Menschheitserfahrung spricht.

Die Bilderlosigkeit betrifft nicht nur die Frage nach Empathie, sondern ist hochpolitisch. Denn wie will man angemessen über die Situation der Flüchtlinge in Kriegs- und Krisenregionen urteilen, auf welcher Grundlage entscheiden? Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich den vergangenen Jahren las, dass internationale zivile Organisationen wie Amnesty International und andere ihre Büros schlossen oder von Machthabern rausgeworfen wurden.

Wo der Fokus nicht mehr auf Krisen gerichtet wird, werden politische und gesellschaftliche Ressentiments die Fakten ersetzen. Die Rechtsradikalen haben diesen Mechanismus sehr gut begriffen. Ihre ständige Wiederholung der ewig alten Story über die marodierenden, den europäischen Kontinent bedrohenden Fremden, die mehr aus Abenteuerlust, denn aus Schmerz, Hunger, Verwundung um ihr Leben rennen, geschieht nicht aus einem Mangel an Erzählkunst, sondern ist Ausdruck ihrer vorzüglichen Kenntnis darüber, wie man effektiv den Leerstellen des Journalismus begegnet. Zuletzt konnte man das in Syrien beobachten. Erst als keine Berichte und Bilder von syrischen und russischen Fassbomben und Streumunition auf syrische Schulen und andere zivile Ziele veröffentlicht werden konnten, setzten die Erzählungen der Rechtsradikalen ein, die in Flüchtlingen nie Opfer, sondern immer potentielle Täter sehen. Niemals währenddessen. So lange veröffentlicht wird, schweigen sie, weil ihre Erzählungen gegen die ungeheure Macht der Bilder niemals ankommen können.

Laut aktuellen Umfragen erkennt ein Großteil der Deutschen in den Menschen, die sich an die Tragflächen von abhebenden Flugzeugen der US-Armee am Airport Kabul hängten, Verzweiflung. Demnach würden sie für eine großzügige Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen stimmen. Der Künstler Philipp Ruch hat recht, wenn er feststellt:

»Man hat gedacht, man könnte die Afghan:innen als Menschen siebter Klasse behandeln. Was für ein epochaler Irrtum. Dagegen erleben wir gerade einen breiten Bevölkerungsaufstand. Es ist die Detonation des Mitgefühls, unsere emotionale Reanimation.«

Stimmt, das ist gerade eine gewaltige Detonation des Mitgefühls. Aber sie wird abebben. So war es jedes Mal. So wird es auch dieses Mal sein. Sobald die Bilder aus Kabul ausbleiben, wird die übliche Täter-Opfer-Umkehr geschehen. Propaganda funktioniert nämlich nicht über Originalität und Faktentreue, sondern durch beharrliche Wiederholung der Lüge. Dann wird das Schicksal der Afghanen die Deutschen kalt und stumpf zurücklassen. So kalt und stumpf, wie sie seit Jahren den Abschiebungen nach Afghanistan begegneten.

Der Mangel an Bildern aus Afghanistan hat es den Grünen in den schwarz-grünen Landesregierungen in Baden-Württemberg und Hessen möglich gemacht, ihr Image als Menschenretter aufrechtzuerhalten. Seit Jahren schieben die dortigen Grünen kontinuierlich afghanische Flüchtlinge ab, die vor den Taliban nach Deutschland flohen. Die Begründung dafür lautet, dass Afghanistan sicher sei. Dann wird irgendeine Region genannt, die in Deutschland sowieso niemand kennt. Irgendein Dorf, irgendeine Straße oder ein talibanfreier Ast auf einem Baum, der angeblich ein bombensicheres Leben garantiere.

Die Grünen haben ihre fortwährenden Abschiebungen, zuletzt noch im Juni dieses Jahres, politisch vorzüglich überlebt. Obwohl es permanent Hinweise auf die Taliban gab, die die Abgeschobenen bedrohten. In den vergangenen Tagen wurde viel darüber berichtet, dass ein Antrag der Grünen im Bundestag – ebenfalls im Juni – zur Rettung von afghanischen Ortskräften keine politische Mehrheit fand. Die öffentliche Aufregung über die fehlende Zustimmung im Bundestag ist absolut bigott. Wenn Afghanistan im Juni sicher genug für abgeschobene Flüchtlinge war, warum war es dann nicht sicher genug für afghanische Ortskräfte? Die Antwort ist einfach: Weil die Grünen wussten, dass Afghanistan nicht sicher ist. Es fehlten aber Bilder von abgeschobenen Flüchtlingen, die vor den Taliban flohen, vielleicht auf Strümpfen, vielleicht mit einem Kind im Arm oder tot am Ast.

Mely Kiyak

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