Clit, Clit, Clit

»Is dit nich furchtbaa?« Die alte Frau adressierte ihr lautes und empörtes Geschrei eindeutig in meine Richtung. Wie eine Lehrerin, die ihre Schülerin an die Tafel zitiert, winkte sie mich an die Mauer heran. Irgendjemand hatte über Nacht eine Botschaft in lila draufgesprüht. Mit ihrem Gehstock hämmerte sie die Worte an der Wand entlanggehend ab, und ich stand wie eine Schülerin davor und hörte aufmerksam zu.

»Ick find dit richtig kriminell!«, schrie sie, und ich bekam ein wenig Angst, dass die anderen Menschen auf der Straße denken könnten, dass ich die überführte Täterin sein könnte, die gerade einen Anschiss erhält.

Ich dachte aber auch, das ist doch jetzt schon wieder wie immer! Hundert Passanten laufen eine Straße entlang, aber sobald jemand sein Entsetzen loswerden will, werde ich aus der Menge herausgegriffen. Ich sollte mir für meine Berliner Spaziergänge dringend einen Kampfhund zulegen. Denn Werner, mein Chihuahuawelpe, macht zwar in vielerlei Hinsicht Eindruck, aber er macht den Leuten eben keine Angst. Zumal ich ihn immer tragen muss, denn er weigert sich längere Strecken selber zu laufen.

Ich schwöre, ich hatte keine Lust ihr zuzuhören, denn Schmierereien an der Wand gibt es in Berlin wie Oliven in Kreta an den Bäumen. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass eine Textabgabe bevorstand und dass, wenn ich nur lange genug stehenbliebe und zuhörte, etwas dabei herauskäme, das ich für meine Theaterkolumne verwenden könnte.

»Watt soll dit überhaupt bedeuten?«, empört hämmerte die Frau mit ihrem Gehstock auf die Worte an der Wand: »Tzlitt, tzlitt, tzlitt?«

Mein Gespür hatte mich mal wieder nicht im Stich gelassen. Ich gab ihr in allem Recht und verabschiedete mich rasch von ihr. Am Abend kam ich in meine Straße zurück und schaute mir alles genauer an.

Mitten auf dem Gehweg hatte jemand vor ein paar Wochen einen gigantischen Pimmel aufgezeichnet, der an der Hausnummer 9 anfing und ein paar Hauseingänge weiter bis zur 13 reichte. Zwei gleichförmige Eier komplettierten das genitale Ensemble. Skizzenhaft angedeutet, ragten zudem aus den Rundungen der Hoden ein paar Schamhaare stachelig heraus.

Eine – wie ich fand – sehr schöne, klassische Arbeit. Und, na ja, was soll ich sagen, ich habe eine Schwäche für Kunst mit subtilen Botschaften (als ich es das erste Mal sah, habe ich vor Begeisterung laut gelacht), zumal ich diesen recht konventionell gezeichneten Riesenriemen lange nicht mehr im Straßenbild gesehen hatte. Die Straßenkünstler bemalen den öffentlichen Raum leider schon lange nicht mehr. Stattdessen wird – ganz klar ein Symptom unserer versabbelten Zeit – getextet. Das gesamte Stadtbild, vom Zentrum bis in die Peripherie, ist zugesabbelt. Wobei das meiste Gesabbel natürlich auf das Konto der Werbeindustrie geht, und das ist ja auch einmal einen Gedanken wert, wie wohl eine Welt aussähe, in der es der Werbewirtschaft untersagt wird, öffentlich zu werben.

Wenn eine Bushaltestelle einfach nur eine Haltestelle mit Fahrplanaushang wäre und ein Bus nicht mit Botschaften am Fenster beklebt, so dass man während der Fahrt gezwungen ist, durch eine verdunkelte und verpixelte Scheibe auf eine mit Botschaften zugekleisterte Stadt zu schauen, was wäre das für eine optische Entspannung. Was für eine Stille. Was für eine Ruhe.

Die öffentliche Botschaft, die der anonyme Asphaltkünstler mit seinem exorbitant rabaukigen Genital auf meine Straße gesprüht hatte, übrigens mit einer Farbe, die dem Regen und auch dem Abrieb der unzähligen Schuhschritte seit Wochen standhält, hatte ganz offensichtlich eine Antwort bekommen. Sie lautete Clit Clit Clit, was, wie ich finde, der Komplexität des Penis‘ und seiner reduziert filigranen Aussage ein angemessenes Gegengewicht verlieh. Warum die alte Dame sich aber an den Clits (»tzlitt«) störte, die eindeutig größere Arbeit auf der Straße aber nicht mitbekam, das weiß ich auch nicht. Und weil wir gerade so schön beim Thema sind, hier noch eine sehr interessante Meldung. Ich las, dass Frauen weltweit in den sozialen Netzwerken berichten, dass sie nach ihren Covid-19-Impfungen mit dem Pfizer Präparat Corminaty (im Volksmund auch Biontech genannt) Unregelmäßigkeiten bei ihren Regelblutungen feststellen. Am meisten wird von außergewöhnlich starken Blutungen erzählt, vor allem bei der ersten Menstruation nach der ersten Impfung. In den Nebenwirkungen wird dieses Symptom aber nicht aufgeführt. Was einigermaßen seltsam ist. Denn deutlich diffusere Symptome wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen werden in den Nebenwirkungen erwähnt, die offensichtlich alle geimpften Geschlechter betreffen, starke Blutungen und damit verbundene starke Schmerzen, die nur weibliche Körper betreffen, nicht.

Es ist allgemein bekannt, dass Medikamente in der Regel an Männern getestet werden und die Pharmaindustrie bis heute keine Notwendigkeit darin sieht, Studien immer auch an Frauen als weitere Kontrollgruppe durchzuführen. Weshalb in vielen Fällen die gleiche Wirkstoffdosis bei Arzneien verordnet wird, den Geschlechterunterschied und die damit einhergehenden Auswirkungen auf den weiblichen Organismus völlig ignorierend.

Man stelle sich nur einmal für eine Sekunde vor, was los wäre, wenn weltweit Männer nach ihrer Biontech Impfung von leichten Penisverkürzungen berichten würden. Ich bin mir sicher, dass es keine einzige Zeitung auf der Welt gäbe, die nicht groß berichten würde, und ich bin mir sicher, dass die Vakzinforschung auf der Stelle Penisstudien in Auftrag geben würde, und damit habe ich den Penis für heute angemessen ausführlich behandelt und klappe das Thema zu.

Neulich fragte mich jemand, warum ich denn nichts zu den Wahlen schreibe, und ich traute mich nicht zu sagen: Was soll ich denn, Ihrer Meinung nach, schreiben? Ich habe alles, was ich über dieses Land weiß, längst geschrieben. Dass die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt demokratisch desaströs ausgegangen ist und dass ich wie immer zu den wenigen politischen Kommentatorinnen gehöre, die sich über das tatsächliche Wahlergebnis sorgen? Soll ich das schreiben? Oder dass ich nicht wie der Großteil meiner Kollegen darüber verstimmt bin, dass die Wahlprognosen danebenlagen? Dass mich diese Prognosen noch nie gejuckt haben? Auf Prognosen verlässt sich nur, wer kein politisches Gespür und keine politische Bildung hat. Und davon wimmelt das politische Kommentatorengeschäft ja nun wirklich. Ich war besorgt, als die AfD gegründet wurde und sah sofort das rechtsradikale Potenzial, war besorgt, als Pegida mit 100 Leuten auf die Straße ging, war besorgt, als der NSU aufflog, war besorgt, weil der angeblich politisch neutrale Rechtsstaat – welch Wunder – es doch nicht ist. Wäre Rechtsradikalsein eine Hüftkrankheit, würde ich sagen, dieses Land humpelt schon seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber mich mein ganzes Leben lang an euch Humplern abarbeiten? Mein Talent, mein Schreiben, an euren alten Mist vergeuden? Och nö.

Über 222.000 sachsen-anhaltinische AfD-Wähler kann man sich beim besten Willen nicht freuen, denn sie sind gegenüber 400.000 CDU-Wählern eine relevante Größe. Stattdessen las ich in den Zeitungen: »Die Brandmauer gegen rechts hat gehalten.« In einem Bundesland, in dem ein Rechtsterrorist zwei Menschen erschoss (ursprünglich plante er betende Juden in der Synagoge zu erschießen), stellt man sich meines Erachtens nicht hin und jubiliert über die vermeintliche Einhegung der Faschisten. 220.000 AfD-Wähler gaben mit diesem Wahlergebnis ihre Antwort auf den rechtsradikalen Terror in ihrem Bundesland. Ich kann keine Brandmauer erkennen. Und schon hundertmal nicht in der Ost-CDU.

In fast 15 Jahren, die ich wöchentlich politische Kommentare schreibe, habe ich mich bezüglich des Aufstiegs der Faschisten kein einziges Mal korrigieren müssen. Der Grund dafür ist, dass ich Ich bin. Verstehen Sie? Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen verstehen, was ich meine.

Wer mich auf jeden Fall immer verstand, war Ludwig Haugk. Seit eineinhalb Jahren ist er am Theater mein Dramaturg, Lektor, Redakteur, freundschaftlicher Kollege und Lieblingsossi gewesen. Er betreute nicht nur diese Theaterkolumne, sondern auch den Theaterabend »Rechte Reden«, in dem ich 2016 gemeinsam mit Thomas Wodianka Reden der AfD im Original auf die Theaterbühne brachte. Dass Ludwig ostdeutscher Herkunft ist, war für mich sehr wichtig. Wenn ich über »meine Leute« herzog, dann konterte er immer mit »seinen Leuten«. Ich erinnere mich an stundelange Telefonate, wo wir uns gegenseitig fragten: Warum sind die so? Ludwig erzählte mir von seinem Vatersein, Ossisein, Pfarrersohnsein, Nazienkelsein, vom Mannsein, von einfach allen Aspekten seines Menschseins und umgekehrt erzählte auch ich ihm aus meinem Leben. Diese Geschichten, Anekdoten, Episoden, Erinnerungen und das ganze Repertoire an politischer, persönlicher und privater Erfahrung floss – das liegt am Charakter des Schreibprozesses – in die Theatertexte ein, denn nichts anderes sind diese Kolumnen.

Am meisten wird mir das gemeinsame Kaputtlachen fehlen. Ich bleibe dankbar aber traurig zurück. Und ja, ein bisschen klingt es wie ein Nachruf, wenn ich sage: Danke Ludwig! Unser gemeinsames Denken und Schreiben war ein Triumph über alles. Über alle Spaltungen, alle Zerrissenheit und alle anderen albernen Erzählungen und Erfindungen von angeblich unüberbrückbaren Hindernissen hinweg. Unterschiedliche Erfahrungen und Lebensläufe sind niemals ein Grund für Zwietracht, sondern immer nur ein weiterer Grund für Zusammenhalt. Viel Glück für alles, und bitte vergiss mich nicht!

Dass alle an mir vorbeiziehen und mich zurücklassen, beziehungsweise, dass alle immer gehen und ich immer bleibe, hat eine einfache Erklärung. Wo soll ich denn hin?

So lesen wir uns nach der Sommerpause erneut an dieser Stelle. Und bis dahin wünsche ich: keine angst für alle! Das stand nämlich auch an einer Mauer in meiner Straße, und würde ich eine Partei gründen, würde ich das zum Wahlkampfmotto machen.

Ihre Mely Kiyak

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Mely Kiyaks Theater Kolumne gibt es seit 2013. Alle 14 Tage kommentiert die Schriftstellerin und Publizistin Mely Kiyak radikal unabhängig das Weltgeschehen. Die Kolumne kann man auch mit dem 
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