Das Knistern der Zapfen

Es gab Jahre, da beschäftigte ich mich detailliert mit Untersuchungsausschüssen oder Gesetzesnovellen, lernte Daten, Zahlen, Fakten auswendig und musste dennoch ständig in meinen Notizen nachschauen, wer, wann, was, wo gesagt oder beschlossen hatte. Leider habe ich nicht das beste Gedächtnis.

Dort aber, wo Politik auf Klatsch, Skandal und Blamage trifft, bin ich eine lebende Enzyklopädie. Man kann mich wecken, und ich würde schlaftrunken jedes Detail des Polit-Gossips fehlerfrei aufsagen. Boris Jelzins betrunkene Eskapaden beispielsweise habe ich mir bis heute alle gemerkt. Als er 1992 zu einem Staatsbankett in Kirgisistan eingeladen war, trommelte er vollkommen besoffen mit zwei Löffeln auf den Köpfen seiner Sitznachbarn herum. Unter anderem spielte er ein Löffelchensolo auf der Glatze des kirgisischen Präsidenten Askar Akayev. Diese Art politischer Nachrichtenperle kann ich mir mühelos merken.

Oder Edmund Stoibers Wahnsinnssätze. Sie haben sich mir für immer in jenen Teil des Gehirns gebrannt, in dem das episodische Gedächtnis angesiedelt ist. Edmund Stoiber, als Hinweis für die Jüngeren in Theaterkolumnenborough, galt einmal als große politische Deutschlandhoffnung. Er war der letzte CSU-Kanzlerkandidat. Das war 2002. »Mit Laptop und Lederhose« wollte er, damals 61 Jahre alt, Deutschland zum modernsten Standort des Universums machen. Heute, zwanzig Jahre später, gibt es immer noch kein normales Internet im Land.

Für mein episodisches Gedächtnis war er, wie danach fast keiner mehr, ein immenser Gewinn. Als er bei einem Interview gefragt wurde, ob er genügend Zeit für sein Privatleben, den Garten und »Muschi« (so nannte er seine Ehefrau, wie er in einem anderen Interview erzählte) habe, war seine Antwort darauf, leider nein. Er verriet aber sogleich seine Lösung: Morgens sage er seiner Frau, was er gerne machen würde und »die macht das dann später mit dem Gärtner«. Solche Sachen gab er ständig von sich, und wenn sich Gelächter breit machte, verstand er nicht warum. Er fing an zu erzählen, verhedderte sich keine zwei Sätze später, stieg gedanklich in München in den Zug ein, weil er in Heathrow in London … äh, um zehn Minuten später auf dem Flughafen …äh, Charles de Gaulle oder Rom. Wo auch immer er landete, er landete stets ohne Satzanschluss. Das war in seiner berühmten Rede, in der er den »Transrapid« bewarb. Eines dieser Deutschlandprojekte, die niemals verwirklicht wurden, wie wahrscheinlich auch Doro Bärs Flugtaxi und Markus Söders Raumfahrtprogramm niemals Wirklichkeit werden. 700 Millionen Euro war Söder bereit locker zu machen, um eine Rakete mit seinem Gesicht darauf ins All zu schießen. Die Mission der »Bavaria One« wäre es, »die Erde besser zu verstehen«. Söder war ein paar Tage lang Kanzlerkandidat der CSU und Ostdeutschlands, und ich verstehe das Raumfahrtprogramm als Fortsetzung von »Laptop und Lederhose«. Die Rakete ist immer noch nicht gestartet, Internet funktioniert sowieso nicht, und wenn sie einen Flughafen bauen, brechen sich die deutschen Ingenieure jahrzehntelang einen ab. Deutschland ist, glaube ich, in gar nichts mehr gut, zumindest in nichts, was zeitgemäß und ökologisch ist, fährt oder fliegt. Das wird aber durch Labern ausgeglichen. Im Labern ist Deutschland Weltklasse. Es sind jedenfalls immer diese ganz gewissen Nachrichten, die mich zu satanischem Gelächter reizen und dafür sorgen, dass ich mir das dann wieder bis in alle Ewigkeit merke.

Über Söder und seine Hunde könnte ich auch stundenlang …, apropos Hunde.

Besonders ergriffen hatte mich eine wenige Wochen alte Bekanntmachung von Ex-US-Präsident Barack Obama, der in einer kurzen Nachricht der Weltöffentlichkeit mitteilte, dass der Familienhund Bo (»ein wahrer Freund und loyaler Begleiter«) verstorben sei. Bo habe »gebellt, aber nicht gebissen«. Eine Anspielung auf Joe Bidens Hund, der, seit er im Weißen Haus einzogen ist, einen »Beißvorfall« nach dem nächsten verursacht. »Beißvorfall« ist keine Worterfindung von mir, so kommuniziert man die Attacken der nervösen Präsidententöle in der amerikanischen Presse. Bidens Hund heißt Major und ist ein dreijähriger deutscher Schäferhund. Na klar ist er ein deutscher Schäferhund, fügt man in Gedanken hinzu. Wenigstens die deutschen Hunde funktionieren noch.

Bo, ein portugiesischer Wasserhund, war das Einzugsgeschenk der Eltern Barack und Michelle an die Kinder, als ihr Papa Präsident wurde. Er sei gerne in den Pool gesprungen, habe für Essensreste am Tisch gelebt und – nun folgt die mit Abstand herrlichste Stelle in der gesamten Kulturgeschichte der Sterbeanzeigen – er hatte »großartiges Haar«.

Ich wünschte, jemand würde nach meinem Tod so zärtlich über mich sprechen wie die Obamas über ihren toten Hund.

Mely sprang gerne in den Pool, lebte für Essensreste am Tisch und hatte großartiges Haar. Bye Mely, see you soon in eternity.

Wie immer, wenn mich eine aufwühlende politische Nachricht erreicht, rufe ich meinen Vater an, um alles zu besprechen. Als ich ihm erzähle, dass seit 120 Jahren Hunde im Weißen Haus leben und ihn raten lasse, welcher amerikanische Präsident erstmals mit der Tradition brach, errät er auf der Stelle, um wen es sich gehandelt haben muss. Natürlich, es war Donald Trump. »Kızım«, also »meine Tochter«, fragt er trotzdem ungläubig nach, »ist das wirklich wahr?« Dann folgte dieses Aperçu: »Mein Gott! Sogar Hitler hatte einen Hund!«

Brutal aufgewühlt hatte mich auch diese Nachricht. Boris Johnson hat wegen ein paar Tapetenrollen an der Wand des Apartments Nummer 11, Downing Street, seit Monaten heftigsten Ärger. Das ist ja immer so. Ganz egal wie verheerend ihre Politik ist, am Ende stolpern Politiker immer über Nichtigkeiten. Johnson bewohnt die winzige Stadtbutze mit seiner Verlobten Carrie und Söhnchen Willi. Für die Renovierung des gesamten Hauses stehen dem englischen Premier normalerweise 30.000 Pfund zu. Carrie aber hatte sich in eine sehr spezielle Tapete verliebt, von der eine Rolle 840 Pfund, also fast 1000 Euro kostet. Es handelt sich um eine Handarbeit der britischen Designerin Lulu Lytle, die das Papier in traditioneller Methode von Hand anfertigt. Heißt es.

Millimeterweise gelangen die Einzelheiten der Renovierung an die Öffentlichkeit. Immer nur so viel, wie Boris und Carrie preisgeben müssen, um die aufgebrachte britische Öffentlichkeit davon abzuhalten, die Bude zu stürmen und das Papier von den frisch tapezierten Räumen mit den Zähnen herunterzureißen. Jedenfalls wurde für 200.000 Pfund, also fast eine Viertel Million Euro, das handgeschöpfte, fußgeblasene, mundgehäkelte Papier an die Wände geklebt und, wie das im britischen Luxus-Interior-Segment offenbar üblich ist, keine Gewähr für irgendwas übernommen. In Berlin nennt man diese Methode »gekauft wie gesehen«. Ein Verkaufsmodell, das »Mängel inklusive« meint. Sobald die Tapete an der Wand klebt, ist das Geschäft abgeschlossen. Danach heißt es »No deal«. Das Tapetenthema löste einen Skandal aus, den die Tories, Johnsons Partei, damit aus der Welt schaffen wollten, indem sie einen Teil der Renovierungskosten rückerstatteten und sich die Summe von einem anonymen Spender wieder zurück überweisen ließen, die Boris Johnson dem Gönner angeblich wieder zurückzahlte, so die Beteuerung, Zahlungsbelege keine. Es gibt über die Finanzierung unterschiedliche Versionen, eine dubioser als die andere. Eigentlich spiegelt diese Affäre im Kleinen wider, was sich im Großen abspielte. Denn Boris Johnson bekam seinen Brexit nur, weil er den Briten das Finanzierungsmodell der Europäischen Union pfenniggenau falsch vorrechnete und sich bis zum heutigen Tag mit Lug und Betrug durchschlägt.

Nachdem sich die britische Öffentlichkeit irrsinnig aufregte und nur mühsam wieder beruhigte, um sich auf mindestens genau so wichtige, aber andere politische Vorgänge zu konzentrieren, meldete die Daily Mail »Boris’ Wallpaper is peeling off«. Das war letzte Woche. Auch der Spiegel schrieb, immerhin immer noch d a s Nachrichtenmagazin der Republik, weltweit bekannt und respektiert, nicht etwa im Ressort »Schrankwand, Plüsch und Kuschelkissen«, sondern im Politikteil unter »Ausland«, wo normalerweise über Krieg, Waffenruhe und Grenzziehungen berichtet wird, diese, wie ich finde, köstliche Schlagzeile: »Boris Johnsons Luxustapete löst sich offenbar von der Wand«.

Und nun habe ich eine perfekte, seitenlange Überleitung zu meiner neuen Lieblingsseite im Internet geschaffen, die »Sitzmuster des Todes« heißt, und die grauenhaftesten Sitzmuster aus öffentlichen Verkehrsmitteln der Welt versammelt und sie mit teuflisch lustigen Bildunterschriften veröffentlicht. Es sind zwei Schweizer, die den Jux veranstalten. Wenn ich sowas sehe, freue ich mich darüber, dass es irgendwo auf der Welt Fremde gibt, die mir nur über das Stilmittel Schabernack zu Freunden werden.

Ich möchte jeden Kulturliebhaber und jeden Musiknarren beknien, sich folgenden Film anzusehen. Er heißt Saz – The Key of Trust und ist eine Reisereportage der Musikerin Petra Nachtmanova und Stephan Talneau, die mich sehr berührte, um mal den abgenudelsten aller Kitschsätze zu verwenden, aber ich habe gerade keine bessere Formulierung zur Hand. Eine kurze und schlecht geschnittene Version des Films lief auf arte, die vollständige Version ist kostenlos aber mit Werbeunterbrechungen auf Youtube zu sehen und kostenpflichtig ohne Unterbrechungen auf Amazon Prime.

Saz ist ein Saiteninstrument. Auf Deutsch sagt man Langhalslaute, auf Türkisch Bağlama und sie klingt, je nach Region und Musiktradition, nach Epoche und Musikanlass mal schmerzvoll und jammernd, mal fedrig, fröhlich und leicht. Für das Alevitentum, eine Glaubensrichtung in Anatolien, beispielsweise ist sie ein heiliges Instrument, denn neben den Liedern, der Lyrik und dem gesprochenen Wort ist sie eine wichtige Säule der religiösen Liturgie. Es gibt kaum einen alevitischen Haushalt ohne Saz, und da die alevitische Religion verboten und verfolgt war und zum Teil ist, ist das Spielen der Saz gleichbedeutend mit einer Widerstandsgeste. Auf dem Balkan hingegen ist sie ein Instrument, das weniger gespielt als geschlagen wird, man tanzt zur Sazmusik. Die Saz ist älter als die Gitarre, älter als die Geige und hat ihren Ursprung in Khorasan im Iran.

An der Saz lässt sich sehr schön erzählen, wie Kultur funktioniert und dass es im engeren Sinne keine Urheber gibt, denn Kultur ist immer eine Gemeinschaftsleistung, die wie ein Turm funktioniert. Jede Zeit und jede Epoche baut ihre Etage darauf und deshalb lässt sie sich nie lückenlos bis zu ihrem Anfang rückverfolgen.

Dieser Film ist die mit Abstand schönste, innigste, klügste und warmherzigste Auseinandersetzung mit der Saz. Zudem ist er vorzüglich recherchiert und trägt wie ein Mosaik Teile zu einem Ganzen zusammen. Zusammen mit Florent, ihrem Tonmeister und einem sehr kleinen Team fährt »Madame Petra«, wie sie ein alter feiner Herr auf der Reise nennt, in Berlin mit dem Zug los und macht Halt in Bosnien, Albanien, Bulgarien, Istanbul, Ostanatolien –also Kurdistan –, Aserbaidschan und dem Iran. Die Version auf arte ist deshalb so schrecklich, weil hier ein Großteil der Länder rausgeschnitten ist, deshalb bitte unbedingt die lange Version anschauen!

In allen Ländern treffen die Reisenden auf Menschen aus der Bevölkerung, die die Saz spielen, bauen, oder etwas über sie erzählen können. Neben der großartigen Musik hört man überall wilde, sehnsüchtige, widerständige Stimmen, die alle ein Lied über das Menschsein anstimmen. Petra Nachtmanovas Reisegefährte fing schon in Bosnien an zu weinen. Die Offenheit der Menschen, ihre Natur, die Sorgfalt und Hingabe, mit der die Völker ihre Kulturen kennen, bewahren und schätzen, sind ein so erhabenes Erlebnis, ich kann Sie wirklich alle nur bitten, das nicht zu verpassen. Der Film zeigt Menschen, die ihre Arme für die Fremden weit öffnen und gemeinsam einen Klangkörper bilden. Sie leben nicht weit von uns, aber irgendwie eben doch.

Die Aufteilung in Ost und West ist imaginär, angesichts des Films über die Saz begriff ich es mal wieder, sie hat keinerlei Bedeutung. Ein Lied, das von einem Berg handelt, ist immer auch ein Lied, das ich singen kann, weil es von mir handelt. So funktioniert Kultur, mag eignet sie sich an. Das ist nicht nur ein legitimer, sondern ein menschlicher Vorgang.

Zwei Berliner Musiker, die beide Saz spielen und die ich zutiefst verehre, sind der Komponist Nevzat Akpınar und der Sänger und Bağlamacı Haydar Kutluer. Ich schrieb mal ein ganzes Buch in der Türkei, indem ich immer wieder dieses Stück von den beiden hörte, weil es den perfekten Takt für die angestrebte Satzmelodie meines Textes enthielt.

Das ist das Schöne am Leben. Man hat es selber in der Hand, wohin man seine Aufmerksamkeit lenkt. Ob auf die öffentlichen Skandale und Obszönitäten, die so viel, vielleicht sogar zu viel, Raum im Leben beanspruchen, oder die eigenen Anliegen. Als Autorin war meine wichtigste Schreibregel immer, zu beschreiben, was ich sehe und nicht, was andere sehen, wichtig finden und beschrieben wissen wollen.

Als ich in den vergangenen Tagen im Mittagslicht am Waldrand stand und hörte, wie sich die Zapfen an den Kiefernbäumen in der Wärme ausdehnten und knisternd aufplatzten, dachte ich zunächst, es handele sich um Regen, weil es so gleichmäßig priskelte. Und ich wusste, wenn ich heute ein Gedicht schriebe, das nur davon handelt, wie ich mein Gesicht zu den Kiefernzweigen neige, und der Frühsommerwind an meinem Kinn herab perlt, und sich die Zeit für einen kurzen Moment vor dem Knistern der Zapfen verneigt und vergisst ihre Zeiger zu drehen, dann wäre dieses Lied, ihr könnt mir vertrauen, für dieses Jahr und diesen Tag und diese Stunde das relevanteste und wichtigste Zeitdokument, das auch noch in zweihundert oder zweitausend Jahren gesungen, mehr über das Leben zu erzählen weiß, als irgendetwas anderes. Das Knistern der Zapfen. Sonst nichts.

Ich grüße Sie alle, wo auch immer Sie gerade staunen,

Ihre Mely

Foto: Barack Obama/Twitter

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