Väterliche Vergewaltiger

 Deutschlands Film- und Fernsehgeschichte

Eine Reihe namhafter deutscher »Stars«, darunter auffallend viele Tatortkommissare, hat unter der Regie eines Querdenkers Videostatements (#allesdichtmachen) veröffentlicht. In teilweise primitiver und teilweise sehr primitiver Bildsprache spotten sie über die Schutzmaßnahmen während der Pandemie, aber mehr noch über die Bevölkerung, die sich an die Maßnahmen hält. Kaum war die konzertierte Aktion online gestellt worden, distanzierten sich die Schauspieler von ihrer eigenen Performance allerdings schon wieder. Ihnen war, vor allem von ihren eigenen Kollegen, Christoph Waltz oder Ulrich Matthes, um nur zwei zu nennen, eine derart harsche und harte Kritik entgegengeschlagen, dass keine vierundzwanzig Stunden später eine beträchtliche Anzahl der Tatortkommissare der Reihe nach einknickte und ihre Videos wieder löschte. Das Projekt war übrigens, so las ich es, bereits seit November letzten Jahres organisiert worden. Kein Schnellschuss also.

Ich möchte es gleich vorab sagen: Mich haben Jan Josef Liefers‘, Heike Makatschs, Richy Müllers oder Meret Beckers virologische, epidemiologische, soziologische oder politische Sicht auf die Pandemie noch nie interessiert. Deshalb hat mich die Aktion weder mitgenommen, noch erregt oder erzürnt.

Es gab mal eine Zeit in (West-)Deutschland, in der man von Filmschauspielern am allerwenigsten erwartete, dass sie irgendetwas Kluges zur gesellschaftlichen und politischen Gegenwart beitragen. Das ist heute anders. Eine politische Talkrunde im Fernsehen mit einem mitdiskutierenden Schauspieler ist vollkommen üblich.  Da der deutsche (Fernseh-)Film für mich und mein Leben keine Rolle spielt, ist es für mich nicht von Belang, ob ein deutscher Schauspieler links, rechts, vertikal oder radikal wählt, ob er ein Elektroauto fährt oder Mitglied der Grünen ist. Obwohl.

Es gab mal einen Schauspieler in der Lindenstraße, der den Ehemann von Hausmeisterin Else Kling spielte. Er war in der Rolle als Egon Kling ein reaktionärer Bayer, so richtig schön dick und dumpf und dermaßen überzeugend (Wolfgang Grönebaum war eigentlich Theaterschauspieler), dass einen schon der Ekel überfiel, wenn man ihn nur sah, wie er stiernackensteakig durch die Tür trat ohne auch nur eine Silbe gebiermöselt zu haben. Über ihn gab es das Gerücht, dass er privat die Grünen wählte, und da hatte ich mir immer sehr gewünscht, dass der mal seine politischen Ansichten äußert. Aber da war ich fünfzehn Jahre alt und ohne nennenswerten politischen Kompass.

Das jedenfalls sollte das Thema meiner Theaterkolumne sein. Mein Nichtinteresse gegenüber deutschen Filmschauspielern. Und dann sah ich etwas ganz Wunderbares und stellte fest, dass das gar nicht stimmen würde.

Auf arte wurde ein ungemein raffiniert gemachtes Porträt über die 2019 verstorbene Hannelore Elsner gesendet. Der Film heißt Der ganze Wahnsinn, der mich ausmacht, ist erst vor wenigen Tagen erschienen und auch auf YouTube verfügbar.

Die Filmemacherin Sabine Lidl hat Iris Berben, Henry Hübchen, Dany Levy und Adriana Altaras zu einem eleganten Essen in einen wunderschönen Hinterhofgarten gebeten und sie über Hannelore Elsner sprechen und sich an sie erinnern lassen. Ergänzt wird Lidls Film durch Hannelore Elsners Stimme, die ihre eigene Biographie liest. In dem Film kommen weitere Kollegen vor, die die Filmemacherin besuchte: Doris Dörrie, Mario Adorf, Oskar Roehler. Auch der Sohn, Dominik Elsner, kommt zu Wort. Sein Vater ist übrigens Dieter Wedel, was in dem Film interessanterweise aber keine Rolle spielt. Dieter Wedel wird nämlich beschuldigt, Schauspielerinnen bedrängt zu haben und in gewisser Weise ist das Thema Sexismus und Ausbeutung auch die Grundmelodie des Filmporträts.

Obwohl es in dem Film keine Sekunde um Politik geht, ist es ein sehr politischer Film geworden. Denn er schildert die Bedingungen, unter denen eine deutsche Schauspielerin angefangen von den 1950ern bis in die jüngste Gegenwart hinein arbeiten musste. Er handelt von der Suche nach künstlerischer Selbstverwirklichung. Es geht um die Geschichte einer Schauspielerin, die nicht sein kann, die sie sein will und gezwungen ist, dem reaktionären und teilweise extrem ekelhaften deutschen Filmbusiness hinterherzuhinken. Der Film erzählt Hannelore Elsners Leben, ihre Kunst, ihre Einsamkeit. Beschreibt ihren feministischen Kampf, was ja immer auch ein politischer Kampf ist. Das interessierte mich auf einmal alles sehr wohl.

Der Film macht aber noch etwas deutlich: Wenn in jüngster Zeit immer mehr Vorwürfe gegen die sexistische und in Teilen gewalttätige Filmszene laut werden, beschreibt dies nicht nur einzelne Exzesse an der Peripherie. Sexismus und Gewalt haben nicht nur eine lange Tradition in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft hinter den Kulissen, sie sind sichtbar in den Filmen selbst. Wir haben es nur offenbar vergessen. Vor einigen Jahren erzählte Ingrid Steeger in einem Filmporträt über sich selbst, wie sie teilweise vor der Kamera (!) und vor allem hinter der Kamera misshandelt, erniedrigt und vergewaltigt wurde. Die Reaktion darauf war: nichts. Einfach gar nichts.

Hannelore Elsner erzählt über ihren ersten Film Immer die Mädchen von Fritz Rémond Junior aus dem Jahr 1959: »Alles war damals gleichzeitig frivol und bieder«. Die Frauen liefen für den Film im Bikini herum und mussten sexy sein. In einer Szene, sie ist wirklich hochnotpeinlich, nimmt Hans Joachim Kuhlenkampf sie hoch und versohlt ihr den Hintern. Da war die Elsner schon eine junge Frau. In einem Interview vor vielen Jahren meinte sie, dass das Wichtigste an den Dreharbeiten war, dass sie in Wien sein konnte und in einer Jazzkneipe Ella Fitzgerald erlebte. Ich dachte, ja, das kennt man. Man ist jung und unerfahren, will seinen Beruf mit einer Mischung aus Lust und Ernsthaftigkeit betreiben und landet in der moralischen Vollkatastrophe. Und immer wird man aus Gründen des Selbstschutzes doch noch diesen einen Moment finden, für den alles gut gewesen zu sein scheint.

In dem Film über Hannelore Elsner erzählt Mario Adorf eine andere ungeheuerliche Geschichte. Für eine winzige Rolle in Die endlose Nacht (1963), Elsner spielte darin ihre erste große Hauptrolle, spielte Adorf ohne Gage. Beziehungsweise nicht für Geld. Der Autor des Films, Will Tremper, winkte Adorf nach seinem Auftritt zur Seite und sagte: »Jetzt stelle ich dir deine Gage vor«. Vor ihnen standen ein paar junge Frauen, und Adorf wurde eingeladen, sich eine von ihnen auszusuchen.

»Ich hätte kluge Freundinnen gebraucht«, sagt Elsners Stimme in dem Film und dann diesen wirklich niederschmetternden, skandalösen Satz: »Stattdessen begegneten mir – wie so vielen anderen jungen Frauen auch – väterliche Vergewaltiger, die mich angeblich fördern wollten, mich aber nie ernst genommen haben.«

Passend dazu ein Einspieler aus der Talkshow Samstagsclub im Bayerischen Rundfunk aus dem Jahr 1982, in der Elsner von dem Moderator als »Sexmieze« charakterisiert wird, woraufhin Elsner ihn und eigentlich die ganze deutsche Öffentlichkeit mit der Korrektur zurechtweist, dass sie von Journalisten mit diesem Begriff »denunziert« worden sei.

Ziemlich viel Energie sei damals draufgegangen, so Iris Berben an der schönen In- Gedenken-an-Hannelore-Elsner-Tafel, »ständig zu erklären, dass man in der Lage war, drei zusammenhängende Sätze zu sagen u n d schön zu sein.«

Man erfährt, dass Elsner sich nach einer künstlerischen Gruppe sehnte, mit der man leben und arbeiten konnte. In Edgar Reitz fand sie so jemanden, der auf ganz tolle Weise ihren »Handausdruck« beschreibt, womit er die Art meint, ihr Handgelenk auf eine ganz bestimmte Weise zu überdehnen.

Es folgen Sätze, von Hannelore Elsner geschrieben und vorgelesen, die hinreißend poetisch sind. Sie erzählt von ihrem Vater. Wie er, »der schönste Mann der Welt«, ihr das Schwimmen beibringt, und später, als er krank war, wie Franz Kafka ausgesehen habe. Zum Tod des Vaters dieser eine bewegende Satz: »Ich bin das Gefühl nie losgeworden, dass mein Vater aus der Welt geflohen ist.«

Krankheit und Tod als Flucht aus der Welt.

Nach nur einer Stunde ist der Film vorbei, aber ich könnte tagelang schwärmen. Ich sah ihn offenbar genau zur richtigen Zeit. Als ganz Deutschland sich in sinnlosen Kämpfen um eine Handvoll Tatortschauspieler gegenseitig in der Luft zu zerreißen drohte und zu  einem Politikum aufblies, und Ministerpräsidenten bis aufwärts zum Außenminister sich genötigt sahen, auch noch ihren Senf dazu zu geben, sah ich dieses wunderbare Stück, das mir in einer Stunde mehr über das Leben erzählen konnte, als es irgendein Fernsehpathologe jemals könnte.

Mely Kiyak

PS: Vielen Dank für die vielen, freundlichen Zuschriften und besorgten Nachfragen in den vergangenen Monaten meiner Abwesenheit. Ich bin wieder da und werde versuchen regelmäßig zu erscheinen.

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