Hallo alte Freunde im neuen Jahr

Ist schon wieder eine Weile her, dass ich hier war. Gelegentlich, so berichteten es mir die Freunde aus dem Theater, wurde nach mir gefragt, warum und wo, weshalb und so weiter. Habe viel gegrübelt, ob ich das beantworten mag. Doch weiß ich nicht, ob mir die Balance zwischen persönlich bleiben aber nicht privat werden, direkt sein aber nicht mit Intimitäten zu belästigen, gelingen würde. Ist ohnehin nicht leicht an alte Zeiten, Stimmungen und Theaterkolumnen anzuknüpfen. Deshalb ein einfaches Hallo alte Freunde im neuen Jahr. Schön wieder da zu sein.

Vor einigen Wochen bekam ich Margret Atwoods Gedichtband Dearly/Innigst. Die zweisprachige Ausgabe mit der Unterzeile Poems of a Lifetime ist zwei Jahre alt. In lyrischer Zeitrechnung also superneu. Atwood zu lesen ist, als schwebte man bei guter Sicht im Heißluftballon über dem Leben. Ihre Gedichte erklären nichts. Sie schaut bloß und beschreibt. Dabei kramt sie auch im kleinen, läppischen, alltäglichen Um-uns-herum und wird fündig. In ihren späten Gedichten versucht sie, womöglich altersbedingt (sie wird 84), ihre Erinnerungen umkrempelnd den Sinn vom Dasein zu begreifen. Zusammen mit dem lyrischen Du ist es die schönste sich in Versen zu zeichnen. Als Aktivistin und Unterzeichnerin von offenen Briefen und Petitionen mag ich sie nicht. Da gefällt mir sowieso fast kein Künstler. Ihre Romane kenne ich nicht. Für mich ist sie eine wichtige zeitgenössische lyrische Stimme aus Kanada.

In »Eines Tages werde ich alt sein« beschreibt sie ihre Suche mit dem zwar gängigen aber doch schönen Trick das Leben als Garten zu allegorisieren. Das Älterwerden ist ein herbstverlassener, stiller Ort.

Heute stocherst du mit deinem Stock
in den welken Taglilien
des ruhigen Gartens.
Wo ist sie?, sagst du
zu den späten blauen Astern,
zu den gelben Blättern, die im Becken
der runden Vogeltränke aus Stein treiben.
Wo ist diese Weisheit?
Von der Musik ganz zu schweigen.
Sie muss irgendwo hier sein.
Jetzt, da ich sie brauche.

Und ein paar Strophen später:

Du stöberst mit deinem Stock:
Nur Erde und Wurzeln. Ein Stein.
Vielleicht ist es eine Tür, sagst du.
Yeah, yeah, flüstern sie.
Aber nichts ist verschlossen. Es ist keine
Zauberei. War es nie,
Öffne sie einfach.
Geh einfach hinab.

Dieses »Geh einfach hinab«, ist ein Gefühl, das mich schon oft lebensrettete. Wem sich das Geheimnis des Lebens schon offenbarte (es geht wirklich nur darum auf die Welt zu kommen, zu leben und wieder zu gehen, und alles daran ist gleichwertig), hat ein anderes Verhältnis zum Loslassen. Auch zum Lieben. Zum Leben. Und zum Sterben auch, na klar. So ein Gedicht akzeptiert die Endlichkeit aus vollem Herzen. Das ist sie schon, die ganze Weisheit. Unser Leben beinhaltet exakt das, was wir selber hineinstecken. Da kommt hinten raus nicht überraschend noch was Fabelhaftes.

Manchmal, das war in den letzten beiden Jahren so, geschah draußen die Welt und je mehr alle wüteten, umso mehr dachte ich, Frauen und Männer, die ihr diese Welt lenkt, euch ist aber schon klar, dass ihr bald abtreten müsst? Ist es das, was ihr euch erhofftet? Dass alle Menschen nach eurer Pfeife tanzen? War es eure früheste Sehnsucht andere Länder zu überfallen? Menschen einzusperren, zu verletzen und zu töten? Wie klein eure Sehnsüchte doch sind, wie winzig und erbärmlich, angesichts eines einzigen mit Sinn zu füllenden Menschenlebens. Und am Ende, wenn man Bilanz zieht, wie geht es dann? Denkt ihr dann nicht, dass ihr recht wenig zustande brachtet? Da kriegst du ein Leben geschenkt und verplemperst es für anderer Leute Angelegenheiten. Was geht es dich an, ob woanders eine Frau ein Tuch über ihren Kopf zieht oder nicht. Ob sie zur Abtreibung geht. Ob ein Mann mit einem anderen Mann schmust. Ob eine Bevölkerung eine Sprache spricht, die nicht deine ist. Was für eine Verplemperung von Lebenszeit, seine Nase in anderer Leute Leben zu stecken. Gilt auch für Demonstranten, die auf ihre Schilder »Freiheit« schreiben und »ich, ich, ich« meinen. Ich will mich nicht in politischen Einzelheiten verlieren. Aber eine Sache überraschte mich doch. Ich dachte immer, die Deutschen drehen bei der nächsten Flüchtlingswelle auf nie dagewesene Weise durch. Tatsächlich revanchierten sie sich für die freundliche und großzügige Einladung ihrer Regierung sich freiwillig impfen zu lassen mit Radikalisierung. Die Antwort auf Premiummedizin und kostenlose Taxifahrten ins Impfzentrum war die Stürmung des Reichstags und die Gründung einer Terrortruppe. Es sind bewaffnete Extremisten, die sich dem Adel oder toten Diktatoren zugehöriger fühlen als einer freien Republik mit freien Bürgern. Und dann das Personal! Eidechsen, Elitebullen und über Rundbürste geföhnte Phantasieprinzen. Die Reichsbürger haben recht. Die Deutschen wurden gegen ihren Willen in die Demokratie zurück gebombt. Das war kein freiwilliger Akt. Es handelte sich um eine von außen aufgezwungene politische Entscheidung, die von den Radikalen als illegitim betrachtet wird. Damit liegen sie im Trend. Der sehnsüchtige Blick in die undemokratische Vergangenheit, in der es soziale Hierarchien gab, wo Kaiser, Könige, Sultane, Mullahs, Kolonialherren oder Herrenmenschen über Mitbürger bestimmen durften, ist gerade Mode. Wladimir Kaminer sagte im Magazin Der Spiegel etwas sehr Schönes: »Putin ist ein Zauberer, der eine seltene Gabe besitzt: Alles was er berührt, verwandelt sich in Scheiße«. Das Zitat ist göttlich, aber es stimmt natürlich nicht. Es ist keine seltene Gabe. Es sind gerade viele Zauberer unterwegs.

Ich vermisse im Trubel das Schöne, Erhabene, aber auch so etwas simples wie Weltenliebe. Zu gerne träfe man viel mehr Menschen, die sich und ihrem Leben mit Respekt und Würde begegnen. Gestern verabschiedete sich Europa von der Würde. Der polnische Ministerpräsident Morawiecki sprach sich unmissverständlich für die Todesstrafe aus. Ich komme immer wieder zu dem Schluss: Schade um alles. In einem größeren Maßstab betrachtet, handelt es sich womöglich nur um ein paar Dekaden oder Dezennien, in denen es menschenrechtlich rückschrittlich wird. Irgendwann werden sicher wieder mehr Staaten zu einer dem Menschen und der Natur zugewandten Politik zurückkehren. Aus der individuellen Perspektive ist die Gegenwart natürlich dramatisch, weil jeder nur ein paar Jahrzehnte zur Verfügung hat.

Am kommenden Montag, den 9. Januar, werde ich gemeinsam mit Fatih Akin und Max Uthoff im Gorki Studio darüber sprechen, wie sich persönliche Ansichten und Kunst vereinen lassen. Der Münchener Kabarettist Max Uthoff (u.a. ZDF – Die Anstalt) und der Hamburger Filmemacher Fatih Akin (u.a. Gegen die Wand, Aus dem Nichts, Rheingold) und ich, versuchen uns an der Frage, ob politische Urteile in unserer Arbeit überhaupt etwas zu suchen haben. Vielleicht gelangen wir dabei auch zu dem Aspekt von politischer Verantwortung. Wir besprechen das anlässlich Kurt Tucholskys Geburtstag, ein Künstler, über den Erich Kästner sagte, dass er »mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten« wollte. Ich glaube, dass man als Künstler nicht die Macht hat zu verhindern, aber vor allem ist es auch nicht mehr Kunst, wenn man es versucht. Jedenfalls nicht, wenn man nicht in den Grenzbereich von Agitation und Propaganda geraten will. Aber es gibt Ausnahmen, gute Beispiele, ein bisschen ist es auch eine Frage der ästhetischen Mittel, Formen, Gattungen; mal sehen was die anderen beiden Künstler beitragen werden. Die bis heute nervtötende und tot genudelte Frage »Was darf Satire?«, ist nicht unser Maßstab. Wir fragen prinzipieller: »Was darf Tucholsky?« und meinen damit natürlich die Reflektion über unsere eigenen Methoden und Techniken. Mehmet Yılmaz wird dazu passend Tucholskytexte lesen.

Einige politische Urteile von Tucholsky erwiesen sich übrigens als sehr falsch. Am Ende war es aber auch egal. Er wurde ausgebürgert, seine Bücher verbrannt. Tucholsky hielt es im Exil nur drei Jahre aus. Resigniert und traurig nahm er sich dort das Leben. Vorher gestand er sich noch das ein: 

Dass unsere Welt in Deutschland zu existieren aufgehört hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Und daher werde ich erst mal das Maul halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – ich bin damit fertig. Über den großen Knacks meines Lebens komme ich nicht hinweg: dass ich mich in der menschlichen Natur so getäuscht habe – und nun mag ich nicht mehr.

Der Abend »Was darf Tucholsky?« wird live gestreamt, ist anschließend online aber nicht mehr abrufbar.

Ich beginne dieses Jahr und diese Kolumne übrigens mit einem neuen Team. Der Dramaturg Johannes Kirsten, besser bekannt als »Cashmere-Jo«, besorgt die Redaktion. Jona macht die Grafik, und die Intendantin baut auch im 10. Jahr dieser Kolumne das Haus, in dem die Kunstform beherbergt, behütet und gepflegt wird. Karen sitzt jetzt am Atomknopf und verbreitet den Text. Wenn Sie auf die Antwortfunktion in der Email drücken, landen Sie bei ihr. Bitte bedenken Sie das, wenn Sie schimpfen wollen. Es trifft immer erst Karen, bevor es bei Cashmere-Jo und mir landet. Aber generell gilt, schimpfen Sie nicht.

Bis bald
Ihre Mely Kiyak

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