Nichts Neues aus Nichtberlin

Foto: Christian Seifert

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Senioren,

diese Anrede werde ich mir künftig angewöhnen, denn ich wurde Ohrenzeugin von einem bemerkenswerten Gespräch. Das war noch an der Küste, weit vor dem Lockdown, als die Geschäfte geöffnet hatten.

Eine ältere Dame betrat in einem der feinen Seebäder ein Bekleidungsgeschäft und lief, ohne einen Blick auf die Waren zu werfen, zur Verkäuferin:
»Sie führen Damen- und Herrenoberkleidung?«
Die sehr freundliche Fachverkäuferin bejahte die Frage.
Die ältere Dame: »Für Senioren haben Sie nichts?«
Die sehr freundliche Verkäuferin fragte zurück: »Was suchen Sie denn genau?«
»Mein Mann und ich wollen erstmal schauen. Wir sind aber Senioren. Für Senioren haben Sie nichts?«
Die freundliche Verkäuferin antwortete: »Es kommt doch nicht aufs Alter an, sondern auf den Stil.«
»Das mag sein«, beharrte die potenzielle Kundin, »wir suchen aber immer speziell für Senioren« und ging, schnurstracks geradeaus schauend, hinaus.

Diese Kolumne, das möchte ich betonen, ist keinesfalls eine Frage des Stils, sondern eine altersgruppengerechte Maßanfertigung. Ich schreibe sie für Leser zwischen 26 und 86 Jahren. Mir kommt immer wieder zu Ohren, dass sie auch von 94jährigen oder 15jährigen gelesen wird, aber gut, Exzentriker und Individualisten gibt es überall. Ich sage es dennoch ganz deutlich: Es gibt keinerlei Gewährleistung, falls es außerhalb der Zielgruppe zu unerwarteten Nebenwirkungen kommt. Innerhalb der Zielgruppe gilt die dreistündige Umtauschfrist mit Geld-zurück-Garantie.

Themawechsel: Warum heißt diese Serie eigentlich immer noch Kiyaks Dienstreise »Nichts Neues aus Nichtberlin«, wo ich doch in der letzten Briefkolumne lang und breit die Fahrt zurück nach Berlin beschrieb? Bitte in dieser Angelegenheit keine Leserbriefe schreiben! (»Hätte die Rubrik nicht umbenannt werden müssen?«, »Warum wird mit Strand und Meer geworben, liegt Berlin neuerdings an der Ostsee?«)

Folgende Anmerkung. Wenn in einer Werbung für Käse gezeigt wird, wie ein granteliger Zausel-Öhi auf seiner Alm die Milch direkt aus der Kuh in den Kupfertopf melkt und anschließend mit einem Kiefernzeisig das Lab einrührt, wir aber alle wissen, dass dieser Käse niemals einen Almöhi zu Gesicht bekam, vielleicht noch nicht einmal eine Kuh, fallen die Reaktionen doch auch großzügig aus. Auf diese Großzügigkeit hoffend, habe ich beschlossen, alles beim Alten zu belassen. Als Raider in Twix umbenannt wurde, waren es doch immer noch zwei Schokokaramellriegel auf Keks. Ähnlich dem »Schnitzel nach Wiener Art«, handelt es sich bei diesem Text um ein Journal »Nach Art« von Nichts Neues aus Nichtberlin.

Die Wahrheit ist allerdings auch, dass ich mich frage, ob es eines Journals aus Berlin bedarf. Es gibt eine ganze Reihe von Corona-Tagebüchern, die von Berliner Autoren aus Berlin geschrieben werden. Was könnte ich dem hinzufügen? Wir schauen alle traurig aus unseren Fenstern und sehen, dass abends die Straßenlaternen brennen. Als ich noch an der Küste war, war die Situation besonders, weil unser Theaterjournal eine Mischung aus Lokalzeitung, amtlicher Bekanntmachung und Spaziergangsreportage war. Weil der Großteil unserer Leser weder den Nordkurier noch die Ostsee Zeitung liest, konnte ich auf einen Trick zurückgreifen und die Perlen der Berichterstattung, oder besser der Nichtberichterstattung, ins Bühnenlicht rücken. Stand da nichts Verwertbares drin, ging ich einfach raus, und da war dann etwas los. Irgendwen traf ich immer, der mir etwas erzählte, das sich im absoluten Premiumbereich, diesem hauchdünnen Grenzbereich zwischen Gerücht und Denunziation, abspielte.

Was aber soll ich in einem Tagebuch aus Berlin berichten? Jede überregionale Zeitung berichtet aus Berlin, ja sogar aus meiner Straße, denn ich treffe alle naselang Lokalreporter, die verzweifelt auf der Suche nach neuen »Clangeschichten« sind. Sie latschen jedem amca hinterher, in der Hoffnung, dass der arme alte Mann den Journalisten zu seinen Söhnen und der Goldmünze führt. Ich wohne mitten in Berlin-Kreuzberg. Aber nicht im feinen Kreuzberg, wo Johannes mit Elena in einer Genossenschaft zusammen mit 15 anderen Eigentümern ein Haus aus dem vergangenen Jahrhundert gekauft hat, weil der Jo einen direkten Draht zum Stadtbaurat hat.

Ich wohne downtown, wo die amcas die U-Bahnhaltestelle Möckernbrücke und Görlitzer Bahnhof türkisch aussprechen (»mötschkänbrütschkä« und »guliserbonhoff«). Bei uns kommt der Postbote nur einmal die Woche, der 140er Bus fährt nur an Tagen mit M, und im Aldi ist das fertig abgepackte Mischbrot in der Plastiktüte immer ausverkauft.

Hier schlüpft man rasch in seine terlik und rennt damit zum Arzt, um das Rezept abzuholen (»bitti eine resept meinä tohta angerufen«). Und wenn man auf der Straße sieht, dass einer der ungezogenen Nachbarsjungen Scheiße baut, dann wirft man mit dem terlik aus zwei Straßenblöcken Entfernung nach dem molligen, kleinen Ömer, und schreit ihn an, dass er gefälligst den terlik zurückbringen soll. Was er auch umgehend macht. Natürlich entschuldigt sich der mollige, kleine Ömer tausend Mal, denn auf einen terlik folgt immer die Drohung, dass man die Sache umgehend seinem Vater melden wird (was in der Regel weitere terliks zur Folge haben könnte), was man aber nie tut, weil auf dem Herd steht noch ein tencere fasülye, das nicht anbrennen soll, und darüber vergisst man dem kleinen, molligen Ömer sein Papa. Downtown gibt es prinzipiell keinen Genitiv, nur Dativ und Datteln.

Das alles hat jedenfalls keinerlei Erkenntniswert. Aus einer Stadt zu berichten, aus der alle berichten. Und die Zeitungsmeldungen möchte ich auch nicht nachbeten, das hat in einem Tagebuch nichts zu suchen. Deshalb verabschiede ich mich an dieser Stelle in die Winterferien.

Im Namen von Ludwig, dem Dramaturgen, der mich redaktionell betreut, im Namen von Caro, unserer Fachfrau für den technischen Anschluss der Kolumne in die Welt, im Namen von Werner, meinem Chihuahuawelpen (er ist so süß, er steigt neuerdings auf Katzen und will sie offenbar »bewelpen«, aber er rutscht immer ab), wünschen wir Ihnen und Ihren Familien Unversehrtheit und eine fröhliche und friedliche Zeit. Und vergessen Sie nicht, was der Kleine Prinz sagte: Die Läden sind zu. Man kauft nur mit dem Herzen gut. Oder wie ich es mal dichtete:

All die Glücke
Die kommen und kamen
Haben keine Namen

23. Dezember 2020

Ihre Mely Kiyak


Dienstag, 22. Dezember

Habe mir überlegt, ob ich mir ein bunt blinkendes Döner-Schild als Weihnachtsschmuck ins Fenster hängen soll. Bin mir allerdings nicht sicher, ob man mir nicht die Bude einrennen wird. Dies ist der verfressenste Bezirk der Welt. Die essen einfach alles auf. Auch da, wo es nichts zu essen gibt, essen sie es. Da fällt mir die Geschichte von Haci Hüseyin ein. Der ging mal unten in der Straße in den Imbiss und bestellte sich einen Kebab im Brot. Die Wartezeit überbrückte er damit, dass er sich die Plastiktomate vom Tresen nahm, reinbiss und runterschluckte. Natürlich glotzten sie ihn alle ungläubig an. Daraufhin er: »Waaas? Dann setz’ es halt auf die Rechnung, mein Gott!«

Montag, 21. Dezember

Gibt in Berlin eine Sportart. Sie heißt »Post abfangen«. Dazu geht man auf die Straße und rennt jedem DHL-Auto hinterher, das man sieht, und fragt den Postboten, ob er ein Paket hat. Er wird es verneinen. Dann bietet man ihm Geld, eine Wohnung und ein Auto an, damit er die Tür hinten öffnet und nachsieht. Man zeigt ihm die Paketverfolgung und  die Meldung, dass das Paket in seinem Auto ist. Er wird hinten im Laderaum rumrumpeln und mit leeren Händen wiederkommen. Dann legt man auf die Wohnung und das Auto noch ein Pferd drauf und darf mit dem Zeigefinger auf das richtige Paket zeigen. Das wird er missmutig und muffelig rausrücken. Man muss sich demütig bedanken. Man rennt schnell nach Hause und findet dort einen Paketabholschein eines anderen Transportunternehmens an der Tür kleben. Das Paket ist zwanzig Bezirke weiter in einem Bonbonladen mit angeschlossenem Briefmarkenverkauf abgelegt worden. Man fährt zum Bahnhof, steigt in den Regionalexpress, fährt in das Bundesland Brandenburg, nimmt sich dort ein Taxi (an dem Tag werden in Brandenburg garantiert die Busse bestreikt) und holt das Paket ab. Nach Sonnenuntergang kommt man zu Hause an und findet eine email, in der steht, dass das Paket, dass man am Vormittag auf der Straße abfing, angeblich beim Nachbarn abgegeben wurde. Dieser Nachbar klingelt wenige Stunden später bei einem und will ein Paket abholen, das man aber gar nicht angenommen hat, er hat zum Beweis einen Paketschein in der Hand, und – falls das hier mal olympische Disziplin werden sollte – ich hole garantiert wenigstens Silber für Deutschland.

Samstag/Sonntag, 19./20. Dezember

Oh Mann, das ist so schrecklich. Entwicklungsminister Müller war im Flüchtlingslager auf Lesbos. Das neue Lager Kara Tepe, das anstelle von Moria errichtet wurde, ist ungeeignet, um darin zu leben. Eigentlich hat es den Namen Lager gar nicht verdient. Hilfsorganisationen berichten seit Jahren über die Gefahr von Missbrauch und Vergewaltigung für Flüchtlingsfrauen und Kinder. Das ist überall auf der Welt so und man kennt es ja auch aus der Geschichte. In Kara Tepe aber soll ein dreijähriges Mädchen vergewaltigt worden sein. Natürlich wurden und werden viele Mädchen und Frauen vergewaltigt, aber diese Meldung hat es nach Deutschland geschafft. Sicher nur, weil es sich um ein sehr kleines Kind handelt. Außerdem ist von Ratten die Rede, die nachts im Schlaf in den Zelten die Kinder beißen. Und von Typhus. Und Corona. Und …

Freitag, 18. Dezember

Heute ein super Interview mit der Virologin Isabella Eckerle in der ZEIT gelesen. Sie ist Expertin für neuartige Krankheitserreger. In Afrika erforschte sie Fledermäuse als Reservoir für Viren wie Tollwut, Ebola und Sars. 2011 schloss sie sich dem Team um Christian Drosten in Bonn an. Derzeit ist sie Professorin am Zentrum für neu auftretende Viruskrankheiten in Genf.

Eckerle ist also genau die Art von Wissenschaftlerin, deren Forschung jetzt gebraucht wird. Ganz kurz wird in dem Interview ein Themenbereich gestreift, der – so glaube ich – aus sehr guten Gründen von der Bundesregierung wie auch von den Parlamenten bewusst ausgeblendet wird.

Es geht um Landwirtschaft und Umweltschutz. Eckerle sagt:

Man kann künftige Pandemien nur verhindern, indem man Ökosysteme schützt und Artenreichtum erhält. Industrielle Tierhaltung ist ein Risikofaktor, das haben wir gerade bei den Nerzfarmen in Dänemark wieder gesehen, als das Virus in den Tieren mutierte und die veränderte Variante dann erneut auf den Menschen übersprang. Bei Influenzaviren spielen Hühner und Schweine eine große Rolle.

Der Zusammenhang von Pandemien und Umweltschutz wird im öffentlichem Diskurs nahezu komplett ignoriert. Wenn die Kausalität von Tierhaltung, Bodenqualität, Diversität und global diseases evaluiert ist, ist es natürlich ein Skandal, dass Agrarministerin Julia Klöckner am Montag dieser Woche eine »Notfallzulassung« für das von der EU verbotene Pestizid Thiamethoxam aus der Gruppe der Neonikotinoide genehmigte.

Die Verordnung besagt, dass Zuckerrübensaatgut, das mit dem nicht nur für Bienen gefährlichen Gift behandelt worden ist, von Januar bis April 2021 in Nordrhein-Westfalen ausgesät werden darf. Die Reaktionen der Umweltverbände kamen prompt.

Christine Vogt, Referentin für Landwirtschaft bei der Organisation Umweltinstitut München, beispielsweise klärte die Agrarministerin darüber auf, dass die Gifte im Guttationswasser, das die Pflanzen über die Blätter ausscheiden, auch mehr als 200 Tage nach der Aussaat in hoher Konzentration nachweisbar seien. Insekten nehmen die Flüssigkeit auf und werden unmittelbar dadurch geschädigt. Klöckner hatte die Notfallzulassung damit begründet, dass von Januar bis April nichts blühe, folglich würden auch keine Insekten gefährdet sein.

Natürlich weiß Klöckner, dass ihre Aussagen falsch sind (wüsste sie es nicht, dürfte sie diesen Ministerposten nicht haben). Der Schaden, der durch ihre permanenten Anbiederungen an die Landwirte angerichtet wird, wird nur schleichend sichtbar, über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Da wird sie aber schon längst ein anderes Amt inne haben, oder gar nicht mehr in der Politik sein.

Den Deutschen ist die Agrarpolitik weitgehend wurscht. Es interessiert sie schlicht nicht, was auf den Äckern, Feldern und Wiesen los ist. Sie sind immer nur dann bereit, ihr Konsum-, Lebens-, und Essverhalten zu ändern, wenn ihr Arzt ihnen mitteilt, dass sie Krebs haben, oder Diabetes, Allergien, Covid 19.

Es interessiert die Bundesbürger nicht, wenn wieder ein paar Bauern auf ihren Treckern die Straßen blockieren und einen Aufstand anzetteln, weil irgendeine Umweltverordnung ihnen gegen den Strich geht und ihre horrende Überproduktion und Monokultur gefährdet ist. Wie neulich, da war ich noch im Norden, als vermeldet wurde, dass am voran gegangenen Freitagmorgen hunderte Traktoren bei Rostock, Neubrandenburg, Greifswald, Stralsund und in Westmecklenburg in Korsos losfuhren, um die Straßen zu blockieren und den Verkehr im Bundesland lahm zu legen.

Die Meldung las sich eher wie eine Verkehrswarnung als eine Aufklärung darüber, was die Bauern antrieb. Sie gingen nämlich gegen die neue Düngeverordnung auf die Straße (im Nordkurier immerhin konnte man es nachlesen), weil sie künftig nicht mehr monströs, kolossal überdüngen dürfen, sondern nur noch den Hauch eines Schattens weniger monströs, kolossal.

Diese Pandemie, wie auch alle anderen Pandemien stehen aber in einem Zusammenhang mit dem, was auf die Felder gespritzt wird, wie man Tiere hält, was man isst und wie man es mit der Biodiversität hält.

Ich könnte mir vorstellen, dass ich es noch erleben werde, dass alle Lebensmittel aus kontrolliert biologischem Anbau stammen werden. Es wird dann sicher Abstufungen geben, wie viel Bio im Biosiegel sein wird und die vermögenden Menschen werden alles in Demeterqualität kaufen und die Armen eben Aldi-Bioqualität – aber ist doch egal.

Ach mann, kaum bin ich in Berlin, verstricke ich mich wieder in politische Gedanken.

Heizungsmonteur war da. Vorher war es eiskalt. Jetzt dampft die Bude wie eine Sauna nach dem Aufguss.

Donnerstag, 17. Dezember

Gucke alte »Das Literarische Quartett« – Sendungen von den 1980er Jahren aufwärts. In einer der Folgen entgegnet Marcel Reich-Ranicki auf den Einwurf eines Diskutanten, dass ein Schriftsteller eine völlig andere Position bezogen habe: »Ach Gottchen, die meisten Schriftsteller haben von der Literatur genauso wenig Ahnung wie Vögel von der Ornithologie.«

Literaturkritik unterscheidet sich fundamental vom »Reden über Bücher«. Nur die professionell Geschulten können über Ästhetik und Poetik, also über Strukturen und Formen eines Werkes sprechen, wohingegen alle anderen immer nur über den Inhalt reden. Der Inhalt von Büchern spielt aber immer die geringste Rolle, weshalb ich schier verrückt werde, wenn es in sämtlichen Literaturformaten in Deutschland nur noch darum geht, wovon »die Geschichte handelt«. In den alten Quartett-Folgen geht es dagegen um Fragen wie den Umgang mit Literatur von Faschisten oder Antisemiten, oder mit Stellen, die die Vergangenheit verklären oder beschönigen. Wie erkennt man, ob die Figur spricht und nicht der Autor?

Ich las viel über die Kabarettistin Lisa Eckhardt und ihren Gastauftritt im Literarischen Quartett. Dabei fiel mir auf, dass alle Kritiken, die zu ihren Bühnenprogrammen geäußert werden, sich ausschließlich auf den Inhalt beziehen, nie aber auf die Struktur, wie zum Beispiel das Verhältnis von der Kabarettistin zur Ich-Erzählerin. Nie kommt das Wort »Erzählperspektive« vor. Eine echte Kabarettkritik gibt es ja leider auch nicht, weshalb es auch niemandem wirklich gelang, Eckhardts Methode zu benennen. Denn die »Erzählmasche« entlarvt sie, nicht der Bühnentext. Dass sie Ressentiments gegen Schwarze und Juden hat, lässt sich am besten nachweisen, wenn man die Methode aufzeigt. Rolf Miller oder Gerhard Polt wurden nie missverstanden, da war immer klar, dass das Bühnen-Ich in absoluter Distanz zum Künstler steht. Der Unterschied besteht nicht darin, was gemacht, sondern wie es gebaut wird.

Meldung des Tages: Angela Merkel konferiert mit dem Forscherpaar Özlem Türeli und Ugur Şahin und sagt, dass die Bundesregierung »mächtig stolz« darauf sei, dass es in Deutschland so eine Forschung gibt. Ich habe in der Zwischenzeit gelernt, dass Forschungsgelder oft nur für wenige Jahre bewilligt werden (meistens nur zwei), aber um wirklich gründlich Erkenntnisse zu gewinnen, bräuchte man eine Planungssicherheit von wenigstens 10 Jahren. Das Paar hat gesagt, dass in dem Impfstoff, den sie gegen Covid entwickelten, die Arbeit von 30 Jahren Forschung stecke.

Mittwoch, 16. Dezember

Schaue mir ein paar Leserbriefe an, die ich als Reaktion auf meine Zeitungskolumnen bekam. In einem Text kommentierte ich die Entscheidung des Möbelhauses IKEA, künftig keine Kataloge mehr zu drucken.

Ein Leser ist empört.

Die Sache mit dem Katalog interessiere ihn herzlich wenig. Ich solle mich gefälligst um den Warenkorb auf dem Onlineportal kümmern. Immer wenn er im Onlineshop, sagen wir, drei Artikel eines Produktes anklicke und anschließend zur Kasse geht, um den Bestellvorgang mit einer Zahlung abzuschließen, bekomme er erst bei diesem Schritt mitgeteilt, dass zwei der drei Artikel nicht vorrätig sind. Wie wäre es, wenn ich mal darum bemühen würde?! Aus seinen Zeilen quillt unbändiger Zorn.

Kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so lachen musste. 

Auf Anhieb fallen mir hunderte solcher Briefe ein. »Frau Kiyak, ich benötige eine Krankschreibung von meinem Arzt, der sie mir aber…«, »Frau Kiyak, ich brauche dringend eine Betreuung für meine beiden Kinder, 4 und 6 Jahre alt…«

Dienstag, 15. Dezember

Im unteren Teil meiner Straße, downtown sozusagen, um den Block mit der Hausnummer 100 herum, gibt es eine Brutzelbude, die bei meiner Abreise noch ein Köfte-Imbiss war. Nun ist es ein Asia-Schnellrestaurant. Davor war es ein Burgerladen. Alle vier bis sechs Monate wechselt der Laden das Konzept. Offenbar liefen auch die gebratenen Nudeln nicht, denn es lehnen schon die neuen Ladenschilder am Hauseingang. Als nächstes wird Sushi angeboten. Wer von den Bewohnern hier wird denn mitten im eiskalten Winter kalten Fisch in Algenpapier essen? In dieser Gegend kaufen sich die Leute einen Beutel frische Sardellen vom Fischladen in der Adalbertstraße und lassen sie zuhause ins zischende Öl gleiten.

Auf dem Balkon im dritten Stock, Hausnummer 50, sitzt ein mittelalter, adipöser Mann und hustet wie verrückt. Ich kenne ihn, im Sommer sitzt er immer vor dem Haus. Um besser abhusten zu können, hat er den Mundschutz unter sein Kinn geschoben und hustet von der Balustrade herunter. Um der Virenfontäne zu umgehen, wechsele ich die Straßenseite, doch wo ich auch laufe, immer bin ich es, die Slalom um die entgegen kommenden Passanten geht. Die Mütter panzern stoisch ihre Kinderwägen über den Gehweg, die jungen Rabauken mit Undercut im ölschwarzen Haar und den rasierten Lücken in den Augenbrauen, fühlen sich ohnehin als Helden der Straße, sie weichen keinen Millimeter zurück. Nur die älteren Herren treten einen Schritt zur Seite, warten galant, bis man sich ihnen nähert, und sagen: »Bittaschon mayna Dama!«

Meine Heizung ist kaputt und das Internet ist extrem lahm, es funktioniert nur in der Küche. Willkommen in der dritten Welt, begrüße ich mich selber.

Sitze auf meinem Sofa im Büro und schaue raus. An der Spree haben die neuen Häuser in der Zwischenzeit auch noch eine neunte und zehnte Etage bekommen. Und die grellbunte Laufschrift, die sich alle paar Millisekunden farblich ändert und hoch oben auf einem Gebäude angebracht ist, verkündet schrill in den Nachthimmel leuchtend, dass Bauhaus mir eine »Merry x-mas« wünsche.

Berlin. Erste Woche immer ein Schock.

Montag, 14. Dezember

Abreisetag. Traditionell immer ein Wirrwarr.

Obwohl ich Tage vorher alles vorbereite, womit nicht Koffer packen und Wohnungsübergabe gemeint ist (das sind Nebenbei-Erledigungen), sitze ich vor jeder Abreise nach egal wohin zwei Minuten, bevor es losgeht, wieder an einem Text, der geändert und dringend an eine Redaktion geschickt werden muss. Und noch auf der Fahrt tippe ich ins Handy, erfinde Überschriften, kümmere mich um Themenabsprachen und habe den Übergang von Mecklenburg-Vorpommern nach Brandenburg verpasst.

Irgendwann kreischen keine Möwen mehr am Himmel. Dabei wollte ich mich von jeder Kiefer, jedem Gras und jedem Sandkorn persönlich verabschieden. Doch als ich den Kopf das erste Mal hebe, liegt die erste Hälfte der Strecke bereits hinter mir.

Erinnere mich an einen Reporterkollegen, mit dem ich fröhlich SMS austauschte. Wir juxten herum, es ging unter anderem um sein neues Buch, er benötigte einen Rat, da fragte er, »Wo steckst du eigentlich gerade?« und ich antwortete: »In der Notaufnahme der Charité. Und du?« Ich fragte mehr aus Höflichkeit denn aus Neugier zurück. Und er schrieb: »Bin gerade an der Absturzstelle des Germanwings-Maschine in den südfranzösischen Alpen. Gleich Abgabe.«

Es war das Jahr 2015, als ein Pilot absichtlich seinen Airbus auf dem Flug 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf zum Absturz brachte und 150 Menschen mit in den Tod riss. Mein Kollege berichtete darüber für eine Tageszeitung. Er schrieb noch an der Absturzstelle und später auf dem Rückflug ein Dossier mit fast 30.000 Zeichen. Viele gute Texte werden zwischen Tür und Angel, zwischen Ankommen und Abreisen geschrieben. Die Leser wären erstaunt, wüssten sie unter welchen Umständen manch exzellentes Stück entstanden ist. Der Effekt wäre vergleichbar mit der Verblüffung des politischen Beraters Dick Morris, als er erfuhr, dass sich Bill Clinton während eines wichtigen und wegweisenden Telefonats mit ihm, in dem es um eine Verhandlungsstrategie mit republikanischen Kongressabgeordneten ging, zeitgleich von Monica Lewinsky einen blasen ließ.

Am Abend, ich lag in meinem Berliner Bett, fiel mir ein, dass ich morgens im Wald hinter dem Haus eine Runde spazieren war, es über den Tag hinweg aber vergessen hatte.


Liebes Publikum,

am Himmel sah ich gestern einen Schwarm Zugvögel, die in eleganter V-Formation Richtung Süden flogen. Majestätisch und würdevoll sahen sie aus, wie sie diese schwungvollen Linien unter den Wolken zogen. Nicht zu fassen, wie viel Schönheit das Leben birgt. Man muss nur den Blick schweifen lassen und schon entblättert sich die Pracht von allein. Vorausgesetzt man will es sehen.

Vor Jahren regte ich an, statt der Veröffentlichung der Lottozahlen und der Bundesligatabelle doch besser Vogelnachrichten in der Tagesschau oder im Heute-Journal verlesen zu lassen. Ob ich die einzige Bundesrepublikanerin bin, die gerne erfahren möchte, welche Vogelarten in den verschiedenen Regionen Deutschlands gerade ankommen, nisten, wegfliegen?

Die Vögel reisen ab, so do I. Bevor am Mittwoch die bundesweite Schließung des öffentlichen Lebens beginnt, verlasse ich den Norden. Wann und ob ich wiederkomme, weiß ich nicht. Wie sehr ich mich auch bemühe, nie gelingt es mir, zu wissen, wo ich im Folgemonat sein werde.

Wenn mein Vater früher, also vor 50 Jahren, sich im Sommer von seinem Vater in dem kurdischen Bergdorf verabschiedete, um zurück nach Deutschland zu kehren, dann wusste er ganz genau, dass er im kommenden Sommer an genau der gleichen Stelle wieder da sein würde. Er wusste, dass er auch im kommenden Jahr tagelang mit dem Auto unterwegs sein würde, mehrere europäische Länder passieren, den eisernen Vorhang umfahren, den Balkan verlassen, den Kontinent wechseln, um dann noch weiter zu fahren. Er wusste, dass er erst knapp vor dem Verlassen der Türkei in seinem kurdischen Dorf ankommen würde, und dass wieder ein paar Menschen gestorben sein würden, neue geboren, andere wegzogen, er aber würde pünktlich selbe Stelle, selbe Welle wieder da stehen, wo er sich ein Jahr zuvor verabschiedet hatte.

Schöne Monate waren es an der Küste. Der späte Oktober war gigantisch mild, der November hat wie eine Diskokugel geleuchtet, der nahende Dezember versank in diesem sehr milden blauen Licht und nun, die Wintersonnenwende steht bevor, ist es zappenduster und eiskalt. Ich schwöre, ich war nie eine Kerzenfrau, ich verabscheue jede Art von Dekofirlefanz, aber nun zünde ich mir doch tatsächlich abends eine Kerze an (ich werde wohl alt und sentimental) und kann nicht fassen, was für ein ungeheuer bequemes Leben ich habe. Und ja, es ist alles immer ein Nebeneinander. Natürlich habe ich, schon berufsbedingt, die politischen Verhältnisse immer im Blick und keinerlei Grund mir etwas vorzumachen. Trotzdem, oder vielleicht sogar: deshalb, wird mir in diesen Tagen klar, dass das hier meine schönsten und besten Jahre gewesen sein werden. Noch besser kann es nicht kommen, denn was gibt es höheres als Arbeit und ein Dach über dem Kopf, und sollte es schlechter werden, habe ich das Maximum aus allem herausgeholt. Dank der Wolken, des Himmels und des Windes habe ich es sehr gut. Ich kann nicht begreifen, dass keine einzige Person – außer meinen eigenen Familienmitgliedern, wir sind irgendwie anders drauf – auf die einfache Frage »Wie geht’s?« mit »Blendend« antworten kann. Letzte Woche lag eines meiner Familienmitglieder auf dem Operationstisch, weil ein faustgroßer Tumor entfernt werden musste, doch die Telefonate, die wir führten, waren trotz Angst und Sorge, dass hier ein Ende naht, ein Bekenntnis zum Leben und zur Schönheit des Daseins. Und ja, der Tod gehört dazu. Das ist doch der Witz. Nur wenn man das einkalkuliert, wenn man bereit ist, loszulassen und zu sterben, wird es richtig gut. Ich kann das nicht besser beschreiben, weil sich diese Schwelle ohnehin nicht mit Worten beschreiben lässt, sondern nur durch Erfahrung vermittelt.

Gut leben und gut sterben sind, meiner Meinung nach, die Themen dieser Zeit. Wir aber reden über Glühwein und den Einzelhandel. Ich denke, dass wir darüber reden müssten, dass hunderte Menschen täglich sterben und niemand über die Bedingungen des Abschiednehmens spricht. Jeden Tag verlieren Tausende von Mitbürgern durch Corona ihre Angehörigen und nur ganz wenige durften zu ihren Kranken und sich verabschieden. Die Hygieneregeln sind gnadenlos und sie sind es wegen uns. Damit wir weiterleben können. Das heißt, wir, die Davongekommen, profitieren davon, dass anderen das Herz gebrochen wurde, indem sie ihre Eltern, Kinder oder Partner haben gehen lassen müssen, bevor sie sie noch einmal umarmen oder küssen durften. Wer unbedingt eine Weihnachtsbotschaft braucht, hier ist sie: Die Coronakranken waren allein und einsam, als sie von uns gingen, und dieses große Leid nahmen sie und ihre Angehörigen für uns auf sich. Damit wir frei von dem Virus bleiben, der sie zerstörte. Ich denke, mehr Botschaft steckt in Jesu Leid auch nicht drin.

Apropos Jesus. Ich hatte das große Glück, dass mein Freund Milo Rau, den ich für einen der bedeutendsten politischen Theatermacher unserer Zeit halte, mir seinen Film »Das Neue Evangelium« zeigte. Der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung schrieben Jubelarien über den Film, ich schließe mich an und möchte zudem sagen, dass ich tief traurig und beschämt war. Beschämt, weil ich mein schönes und bequemes Leben auf den Schultern der Sklaven von heute führe. Nicht, dass ich nicht hunderte Male darüber schrieb, aber es macht einen Unterschied, ob man die Gesichter zu den afrikanischen Erntehelfern in Italien sieht, die mitten unter uns in Europa Hunger und Durst leiden, damit wir eine Dose Tomaten für unter 50 Cent kaufen können. Es beschämt, auf der anderen Seite einer Dose Tomaten geboren zu sein. Jesus war ein Sozialrevolutionär, und in Milo Raus Film spielt Yvan Sagnet Jesus. Sagnet entschied sich gegen eine Karriere an der Uni und ging stattdessen zu den Erntehelfern, um an ihrer Seite dafür zu kämpfen, dass ihnen die gleiche Würde und die gleichen Rechte zugesprochen werden, wie uns Europäern. Sagnet kannte die Erntehelfer, weil er selbst einer von ihnen gewesen war. In einem Interview erzählte er davon:

Ich habe 16 Stunden gearbeitet, und oft hatte ich abends nichts. Null Euro. Wasser kostete 1,50 Euro. Das Sandwich: 3,50 Euro. Hin- und Rückfahrt: fünf Euro. Eine volle Kiste Tomaten, das sind 300 bis 400 Kilo Tomaten, bringen 3,50 Euro. Ich habe vier Kisten geschafft, manchmal fünf, aber das meiste Geld war gleich wieder weg. Wenn du das erlebst, weinst du. Ich habe abends geweint.

Da die Kinos geschlossen sind, kann man sich ein Ticket auf der Homepage kaufen und den Film anschauen. Außerdem empfehle ich noch die Arte-Reihe »Über die Geburt des Christentums«, die herausragend und grandios ist. Meine Erfahrung mit deutschen Christen ist, dass sie sehr wenig über die Entstehung ihres Glaubens wissen und jedes Mal sehr empört sind, wenn man ihnen erzählt, dass Jesus als Jude geboren wurde und als Jude starb, dass er den Sabbat einhielt und beschnitten war, dass er nicht die Kirche gegründet hat und dass er als dunkelhäutiger Orientale mir, Mely Kiyak, mehr ähnelte, als Herrn Müller aus Dresden. Allen Jüdinnen und Juden wünsche ich eine friedliche, helle und heitere Zeit.
Chanukka Sameach! Allen anderen Gläubigen auch.

So, ich flattere jetzt den Vöglein hinterher. Bis bald, meine sehr verehrten Damen, Herren und Inbetweens, wenn es wieder heißt, Nichts Neues aus mal sehen, wohin es mich dieses Mal verschlagen haben wird.

Ihre Mely

15. Dezember 2020


Samstag/Sonntag, 12./13. Dezember

Freitag, 11. Dezember

Keine Ahnung, wie es jetzt eigentlich mit dem Innenminister in Mecklenburg-Vorpommern weitergeht. Der alte ist ja noch im Amt und den neuen kenne ich nicht. Das letzte, was ich hörte, war, dass Lorenz Caffier sich vor jeder Sitzung krankschreiben ließe und einfach untergetaucht sei. Vielleicht könnte Kai Dieckmann, Ex-Chefredakteur der Bildzeitung, ja interimsweise übernehmen. Der hat sich auf Usedom ein großes Anwesen gekauft und lässt es gerade herrichten. Thilo Sarrazin wohnt auch auf der Insel. Könnte mir vorstellen, dass die politischen Ansichten zu denen der Nordost-CDU nicht sehr differieren.

Amüsant ist jedenfalls, dass es ohne aktiven Innenminister in Mecklenburg-Vorpommern gerade besser läuft, als vorher. Neulich wollte der Neonazi und Ex-Vorsitzende der Brandenburger AfD, Andreas Kalbitz, in Stralsund auf einer Coronaleugnerdemo sprechen und bekam von der Polizei eine Ausreiseforderung. Mit anderen Worten, kaum war er angekommen, wurde er abgeschoben. Nein, nein, jetzt bitte nicht missverstehen, er wurde nicht rausgeworfen, weil er ein Nazi ist, sondern wegen des Verdachts des Verstoßes gegen die Corona-Landesverordnung MV. Den Straftatbestand »Verdacht des Verstoßes gegen die Neonazi- und Rechtsterrorismus-Landesverordnung MV« gibt es hier nicht. Also bitte nicht voreilig Hoffnung schöpfen, wo es keine gibt!

Donnerstag, 10. Dezember

Heute fiel mir ein, dass ich ja selber aus dem Norden komme und dass ich vielleicht deshalb so gerne an der Küste bin. In letzter Zeit fallen mir häufig zusammenhangslose Erinnerungsschnipsel aus dieser Zeit ein. Dass man bei uns früher (ich ging in der Nähe von Bremen in die Schule), wenn man jemanden lange nicht sah, mit den Worten begrüßte: »Sach ma, bist Du gestorben, oder was?«, woraufhin das Gegenüber antwortete: »Nee, ich lebe noch«. Solche Nicht-Gespräche waren vollkommen üblich.

Ich erinnere mich, wie mal von Kuhstall zu Kuhstall gerufen wurde: Bäuerin1: »Hast Du’s mitbekommen, die Resi ist gestorben«.
Antwort: »Die war doch schon alt. Irgendwann is auch ma gut!«
»Die war doch nicht alt, die war Fuffzich! Der Heiner hat sie im Suff erdrosselt«
»Solche Leute muss es auch geben!«

Mittwoch, 9. Dezember

Wahnsinn, wie die Bundeskanzlerin heute im Bundestag die Parlamentarier geradezu anfleht »Lösungen zu finden«, damit der Anstieg der Todeszahlen auf derzeit 590 Corona-Infizierte endlich gestoppt werden kann. Sie findet die Situation »nicht akzeptabel«, ihre Stimme überschlägt sich, sie ballt die Fäuste und dirigiert sie im Takt ihrer Worte. Für einen Moment denkt man, weint sie oder ist sie erkältet?

Sie hat völlig recht mit ihrer Verzweiflung. Alle drei Minuten stirbt ein Coronakranker in Deutschland. Vergangene Woche war es nur alle vier Minuten. Die Menschen sind so obrigkeitshörig und autoritär eingestellt, dass sie tatsächlich darauf warten, bis die Regierung ihnen alles verbietet. Bis dahin wird alles mitgenommen, was geht.

Die Kanzlerin hat recht, wenn sie in die Zukunft blickend argumentiert, dass man sich im Rückblick auf diese Zeit an den Kopf fassen wird. Weihnachten im Kreis der Familie zu feiern, ist schon krass arg asozial, wenn man dafür in Kauf nimmt, dass es deren letztes Weihnachten sein könnte.

Als mein Vater im Sommer aus der Türkei kam, lachten uns die Leute im Prenzlauer Berg aus, als wir mit ihm auf der Straße mit aufgesetztem Nasen-Mund-Schutz spazierten. Und als mein Onkel kam, saßen wir im Wohnzimmer weit auseinander, bei geöffneter Balkontür und natürlich auch in den Innenräumen mit Maske. Als ich den Vater am Flughafen verabschiedete, ging er, ohne mich zu umarmen. Ich war so schockiert und rief, Papa!, und dann fiel mir ein, ach Quatsch, Corona!, doch er lief  zurück und drückte mich fest und mein erster Gedanke war, merke es Dir, es war sicher das letzte Mal. Als Lungenkrebskranker wird er diese Pandemie nicht überleben. Aber er ist klug und umsichtig und hat das Haus seit sechs Monaten nicht verlassen. Morgens macht er, wenn es keine Ausgangssperren gibt, einen Spaziergang, einmal war er beim Friseur, zweimal beim Arzt. In der Türkei ist es so organisiert, dass der Brotwagen mehrmals täglich an jedes Haus heran fährt und dann kann man durch Plexiglasscheiben seine Bestellung aufgeben. Jeder darf nur zum Laden um die Ecke, seit März werden die Marktplätze desinfiziert, wie auch die öffentlichen Verkehrsmittel mehrmals täglich mit Sprühgeräten komplett eingenebelt werden, danach läuft ein weiterer Trupp nach und wischt die Flächen ab. Trotzdem ist die Türkei weltweit auf Platz 3 der Länder mit den meisten infizierten Menschen.  

Wir sprechen unseren Vater regelmäßig – sonntags ruft immer er mich an, das macht er seit 25 Jahren so – loben und ermutigen ihn. Und, na klar, wir verarschen ihn auch, so gut wir können. Mein Bruder teilte unserem Vater mit, dass wir beschlossen hätten, dass er den BioNTech Impfstoff als erster aus der Familie ausprobieren soll. Er ist der Älteste, er hat sein Leben schon gelebt. Sollte er abnippeln, wüssten wir Bescheid und nehmen lieber die russische oder chinesische Impfung. Fand er gut. Hat zugestimmt. Aber er hat auch gesagt, dass wir unverschämt seien und uns zur Strafe selber eine scheppern sollen.

Dienstag, 8. Dezember

In der Kurklinik nebenan haben die Patienten bis letzte Woche noch Gymnastikmatte an Gymnastikmatte liegend ohne Mundschutz geturnt. Auch die Physiotherapeuten trugen keinen Mundschutz. Die Morgenlaufgruppe am Strand – ebenfalls ohne Mundschutz und Abstand. Abends, im Schwimmbad, manchmal zwei, manchmal drei Patienten im gleichen Becken. Der Speisesaal, dicht an dicht, alle beieinander. Vor der Tür wurde geraucht, gelacht und sich anaerosolt. Dann gingen alle wieder rein und dann wieder raus. Als gäbe es keine Epidemie. Da Turnräume, Schwimmbad und Speisesaal verglast sind, konnte ich das alles beim Spazierengehen sehen.

Die Rehaklinik ist auf Lungen- und Atemwegserkrankungen spezialisiert.

In der Zeitung las ich nun die Meldung, dass sich 66 Patienten und das Klinikpersonal angesteckt hätten. Klinik wurde dicht gemacht.

Montag, 7. Dezember

War kurz im Nachbardorf und wurde von einer Passantin angesprochen. »Are you the author?« War so perplex, dass ich antworten wollte: »No, but I know her«. Sie hat mein neues Buch gelesen und mich vom Foto auf der Umschlagklappe erkannt. Wir kamen ins Gespräch, sie erzählte, dass sie aus Christchurch in Neuseeland käme, hier an der Küste gestrandet sei und nicht nach Hause zurück könne. Sprachen über dies und das und es stellte sich heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Dafür, dass ich hier eigentlich fremd bin, treffe ich, sobald ich einen Fuß vor die Tür setzte, ständig jemanden, den ich kenne. Auch in den Nachbardörfern und den übernächsten Orten. Manchmal werde ich eingeladen, auf einen Kaffee, einen Spaziergang, oder vorbeizukommen und gemeinsam zu kochen. Mache ich natürlich alles nicht. Bin kein geselliger Typ. Habe auch keine Zeit. Aber schön finde ich es trotzdem.


Liebe Nichts-Neues-Leserinnen und Nichts-Neues-Leser,

was war das für ein kolossaler Leserbrief-Wahnsinn vergangene Woche! Kaum hatte Caro den roten Atomknopf gedrückt und das Journal per Mail versendet und in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, flatterten die Leserbriefe rein. So viele auf einmal waren es noch nie. Danke.

Ihre Briefe landen immer erst bei Caro, die leitet sie an mich und Ludwig weiter. Ludwig ist mein Dramaturg und betreut mich redaktionell. Er hat eine erstaunliche Karriere im Gorki-Theater gemacht. Er ist vom Chefdramaturgen zum Fachdramaturgen aufgestiegen. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich denke, dass so eine Position es sicher nicht mehr zulässt, gemütlich mit einem Rucksack um Zwölfuhrdreißig ins Theater zu schlonzen, sondern dass er nun eine Aktentasche trägt, gebügelte Jeans und Punkt acht die Herren und Damen Künstlerinnen aus dem Ensemble einzeln anruft und weckt.

Ich arbeite seit so vielen Jahren im Theater und habe es weder zur Chef- noch zur Fachkolumnistin gebracht. Wenn ich ins Theater reintänzele, heißt es nie, »Achtung, macht Platz, die große Mely Kiyak kommt!«, sondern allenfalls, »Ach guck«, und »Na, auch mal wieder da?«

Wir lesen Ihre Briefe und kommentieren sie zu dritt im magischen Dreieck (Caro-Ludwig-Mely). Dann wählen wir diejenigen darunter aus, in denen wir am unglaubwürdigsten und übertriebensten in den Himmel gelobt werden und überbringen sie der Theaterdirektorin (»La Langhoff«) mit dem Vermerk »kritische Leserstimmen«. Bevor die Corona-Epidemie ausbrach, legten wir die Briefe ausgedruckt auf ein Samtkissen und überbrachten sie ihr. Im Sommer hatte ich meinen Chihuahuawelpen Werner so dressiert, dass ich ihm das Kissen mit den Briefen auf den Rücken schnallte und er in den großen Saal lief und sich vor ihr verbeugte. Das Hygienekonzept lässt diese bewährte Praxis inzwischen aber nicht mehr zu, so dass wir die Briefe mit einer Drohne zur Direktorin fliegen. Per Zoom dirigiere ich Ludwig den Weg und er steuert das Fluggerät von seinem Fachdramaturgenbureau aus.

Wir können auf die Briefe nicht persönlich antworten. Leider.

Sie sind oft so schön, lustig oder bewegend, dass sie eigentlich nicht unbeantwortet bleiben können. Aber Ludwig ist von morgens bis abends auf der Probe, ich muss ständig Texte schreiben und Caro das Internet steuern. Wir freuen uns wirklich über jede Zeile. Bei der Gelegenheit möchte ich mich für die Hinweise der Leser bedanken. Vorletzte Woche schrieb ich versehentlich von einer Coronaleugnerdemo in Neuruppin. Totaler Blödsinn, Sie haben recht, ich meinte natürlich Neubrandenburg.

Und nein, Anne Frank starb vermutlich nicht in der Gaskammer, sondern an Flecktyphus, wobei man hier wirklich betonen muss: vermutlich. Ich schrieb, sie sei in der Gaskammer ermordet worden. Ich habe noch einmal nachgeschaut und erfuhr, dass man es genau genommen nicht weiß. Sie kam von Auschwitz nach Bergen-Belsen und noch im Jahr 2015 hat das Anne-Frank-Haus in Amsterdam in einer aufwendigen Arbeit recherchiert, dass sie Wochen vorher starb als jahrzehntelang angenommen und immer noch versucht man ihre letzten Tage zu rekonstruieren.

Viele Leser waren erschüttert über die politischen Verhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern, die sich so ähnlich übrigens auch in Hessen finden lassen. Was kann man tun, fragen viele. Ich denke, jeder muss in seiner Stadt, seiner Straße, seinem Haus das Nötige tun. Ob im Betrieb oder am Gartenzaun, ansprechen, aussprechen. Seine Zeitung, seine Politiker zur Rede stellen, Rechenschaft verlangen, sobald es rechtspopulistisch wird oder radikal. Ist nicht leicht, ich weiß. Ich streite mich seit eineinhalb Jahrzehnten mit Verlegern, Redakteuren, Künstlerkollegen, und auch in meiner Straße, überall wo ich sehe und höre, dass jemand sich nicht demokratisch korrekt verhält. Und nie außer acht lassen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse die Voraussetzungen für die sozialen sind. Man muss versuchen zu verstehen, dass die Unternehmen, Banken und Finanzwirtschaft ein Interesse daran haben, dass die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ungleich bleiben. Man stimmt übrigens nicht nur alle vier Jahre bei der Bundestagswahl ab, sondern auch mit den Füßen, jeden Tag, in der Bank, im Supermarkt, bei der Wahl der Kita oder Schule für seine Kinder. Mein Beruf ist Schreiben. Jeder hat seinen Beruf und muss ihn gebrauchen, um Widerstand zu leisten.

Mir ist es zutiefst unangenehm, wenn man mich fragt, wie man für Demokratie streitet. Ich bin keine Demokratieberaterin, sondern nur ein Mensch. Eine Mitbürgerin. Insgeheim denke ich auch immer: Ihr fragt mich? Denkt doch mal bitte eine Sekunde lang darüber nach.

Mein alter Freund Günter aus Leipzig schrieb auch. Weggefährte seit 20 Jahren, Schauspieler, der an der Schauspielschule in Leipzig unterrichtet.

aber da gibt’s nichts schönzureden
wir (das heißt ich und meine altersgenossen)
haben in der erziehung einer ganzen generation offensichtlich versagt

demokratie gibt’s nicht umsonst
ich hab das nicht gewusst, »ichschwör«
ich dachte, vernunft kann man nicht mehr so ohne weiteres aus einer gesellschaft herausdividieren
aber oh doch!

ich bin damit groß geworden
dass brandt mehr demokratie wagen wollte

dass politisches bewußtsein immer zum umschlagen neigt,
das habe ich erst sehr spät begriffen

ich unterrichte ja theatergeschichte
und bei der analyse der antiken stücke taucht immer wieder der heftige impuls
zur kritik an den verhältnissen
zum politikerbashing
zum krassen herausstellen politischer bequemlichkeit
zum appell an die einsicht in menschliches verhalten
etc etc auf

und in den biographien?
nicht nur eine
verbannung
vertreibung
selbstisolation

seit 2500 jahren schlagen wir theatermacher uns also damit herum
aber entmutigt oder ermutigt das?
ich weiß es nicht immer

Ich weiß es auch nicht immer, aber ich danke Ihnen allen, dass Sie sich nicht von der Welt abwenden.

Herzlich
Ihre Mely

7. Dezember 2020

Sonntag, 6. Dezember

Vor einigen Monaten las ich eine Reportage über Helsinki und seine neue, prächtige Bibliothek. Die Fotos sind atemberaubend. Jeder Bürger der Stadt kann sich dort nicht nur Bücher und Filme leihen (das Angebot an Literatur ist sagenhaft!), sondern auch Tageszeitungen lesen oder sein Musikinstrument in Übungsräumen spielen. Wer sich kein Instrument leisten kann, darf sich eines leihen. Sogar Handwerkszeug ist vorhanden. Man spaziert einfach rein, nimmt sich eine Bohrmaschine oder einen Akkuschrauber mit nach Hause und bringt die Geräte wieder zurück, wenn die Reparatur erledigt ist. Die Räume sind hell, freundlich und modern. Es ist sogar erlaubt, seinen Geburtstag dort zu feiern. Viele ältere Menschen nutzen die Gelegenheit, tragen sich für einen bestimmten Tag und Raum ein und dürfen auch die Küche nutzen.

Die Bürger von Helsinki sind unglaublich stolz auf diesen großzügigen und warmherzigen Ort. Die Bibliothek von Helsinki erzählt viel über die Mentalität und den Gesellschaftssinn der Finnen. Und ja, ein bisschen traurig bin ich schon, dass ich nicht in so einer Gesellschaft lebe, die eine Bibliothek ins Zentrum ihrer Stadt stellt und sie zu einem Ort des Lebens macht.

Samstag, 5. Dezember

In Island, dem Land der Märchen, Sagen und Mythen, erzählte man sich früher wohl, dass Menschen, die zu Weihnachten keine neuen Kleidungsstücke bekamen, vom Weihnachtskater geholt würden. Der Mythos hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und gilt, da nun alle Menschen genug Kleidung haben, für Bücher. Dementsprechend stehe die gesamte Vorweihnachtszeit auf Island ganz im Zeichen der Bücher. Alle Haushalte des Landes werden mit einem kostenlosen Katalog versorgt, der sämtliche Neuerscheinungen des Jahres präsentiert – und zu Weihnachten stehen vor allem zwei Geschenke hoch im Kurs: Bücher und Schokolade (die erste Weihnachtsnacht wird nämlich traditionellerweise lesend und naschend zugebracht).

Jólabókaflóð, die weihnachtliche Bücherflut, wird das Ganze genannt. Woher ich das weiß? Stand in einem Brief vom Dumont-Verlag, der heute im Kasten war. Meine Weihnachtsfeste sind immer schon, egal mit wem ich sie feierte, Feste des Lesens gewesen. Nun hat das wenigstens einen schönen Namen und ich kann mich damit auf eine isländische Tradition berufen, was einigermaßen belesen klingt!

Freitag, 4. Dezember

Drei Versuche gestartet, das System der staatlichen Überbrückungshilfe für Künstler zu kapieren. Nichts kapiert. Beschließe zu verzichten. Weiß noch nicht einmal, ob ich antragsberechtigt bin. Ich spreche deutsch und kann lesen und schreiben, aber das hier übersteigt meinen Horizont.

Die Sorge, dass man aus Versehen Geld bekommt, das einem nicht zusteht, betrifft fast alle meine Künstlerkollegen. Der Reisekonzern Tui bekommt zum dritten Mal staatliche Zuschüsse. Dieses Mal einen 1,8 Milliarden-Kredit. Wie und wann wollen die den denn zurückzahlen? Würde mich echt interessieren, wie viel Papierkram sie dafür ausfüllen mussten.

Wenn ich es richtig verstanden habe, müsste ich, um Hilfsgelder zu beantragen, meinen Steuerberater beauftragen. Was machen denn Künstler, die keinen Steuerberater haben? Mein Steuerberater ist sehr nett, aber er ist nicht der günstigste auf der Welt. Wenn ich den jetzt beauftrage, für mich die Hilfen anzufordern, wer bezahlt denn den Steuerberater? Der Staat oder ich? Fragen über Fragen. Nein, ich will wirklich nichts haben.

Donnerstag, 3. Dezember

Heute Schnee. Das erste Mal in diesem Jahr. Weder im Januar noch im Frühjahr hatte es geschneit. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.

Die aufgewehten Sandhügel am Strand sehen wie mit Puderzucker bestäubte Christstollen aus. Tapfer kämpfe ich mich durch den Wind. Auf dem Hinweg ins Dorf friert mir die rechte Körperhälfte ein. Auf dem Rückweg die linke Hälfte.

Sie schließen die Läden schon um vier Uhr. Nur das Feinkostgeschäft und die Drogerie haben etwas länger auf. Auf der Piazza haben sie etwas Weihnachtsbeleuchtung aufgestellt, aber es sind keine Menschen unterwegs. Die beleuchtete Sternschnuppe und ich – niemand sonst auf dem Platz.

Die Juweliere, Restaurants, der Handtaschenladen und die Buchhandlung haben schon Mitte November geschlossen und die Apotheke ist der einzige Ort, wo ich mehrmals die Woche hin muss, um etwas abzuholen. Der DPD-Bote und die DHL-Botin grüßen mich, wenn sie an mir vorbeifahren, die Frau von der Post ruft mich beim Namen. Hier und da winken mir die Leute zu. Es sind Gesten, die mich in der abgeschiedenen und selbst gewählten Einsamkeit den ganzen Tag lang freuen.

Jetzt aber, Donnerstagnachmittag um halb fünf, nur ich und diese beleuchtete Sternschnuppe. Mehr Stern als Schnuppe, hinten am Schweif die Birnen leuchten nicht.

Mittwoch, 2. Dezember

»Mein Mann muss zur Hüfte nach Greifswald!«, schreit mir die Frau von hinten ans Ohr. Ich falle vor Schreck fast in die Düne, so sehr war ich in Gedanken versunken, drehe mich um und erkenne die Frau, die bei uns im Haus immer putzt. Sie dehnt die Vokale so dermaßen lang (»Hüfteeee«), weshalb jede Plauderei unendlich lange dauert. Die sprechen hier oben ja nicht viel, aber die hier, die hört gar nicht mehr auf, wenn sie einmal damit anfängt.

Nehme an, es handelt sich um eine Operation an der Hüfte in der Uniklinik Greifswald. »Das ist ja schlimm«, sage ich, »der Ärmste«. »Neeee«, schreit sie mich an (sie schreit immer sehr laut, wobei schreien nicht ganz richtig ist, es ist mehr knödeln), »neeee«, knödelt sie mir die Ohrmuschel auseinander, »wir waren zur Voruntersuchung, ich durft’ ja nicht mit, jetzt hab’ ich Kälte, na das kann ja was werden«.  Wobei sie nicht »werden« sagt, sondern »weeeern«.

»Ach so«, sage ich und versuche mir alles zusammenzureimen. Der Mann wird demnächst operiert, zuvor fand eine Voruntersuchung statt, sie durfte aufgrund der Coronabestimmungen nicht in das Krankenhaus, sondern musste drei Stunden lang draußen spazieren. Ihr war anschließend sehr kalt, beziehungsweise hält der Zustand noch an. Nun macht sie sich Sorgen, wie sie die Kälte erneut aushalten soll, denn sicher muss sie auch beim nächsten Mal draußen warten, während ihr Mann operiert wird.

Ich zermartere mir die Birne darüber, was ich Sinnvolles sagen könnte. Ich weiß es nicht. Wir stehen draußen. Ich habe es eigentlich eilig, aber ich kenne nicht viele Menschen, und die paar, die ich kenne, will ich mit meiner blöden asozialen Art nicht vergraulen und also grübele ich und grübele, und auf einmal sagt sie: »Von meiner Freundin ihr Auto is’ kaputt«.

Aha, denke ich, vielleicht hat sie sich beim ersten Mal das Auto ihrer Freundin geliehen, um damit zur Voruntersuchung nach Greifswald zu fahren. Das geht nun aber kein zweites Mal, weil der Wagen reparaturbedürftig ist und sie damit in der Bredouille ist. Will sie mich um mein Auto bitten, oder um Geld für die Fahrt anpumpen? Meine Erfahrung mit bedürftigen Menschen ist, dass es gut ist, sie einfach direkt zu fragen: »Wie kann ich Ihnen helfen? Sagen Sie es bitte frei raus und wir finden eine Lösung!«
»Neeee«, knödelt sie, »neeeeeeeeeee. Ich mein’ nur.«

Ich bin vollkommen überfordert: wie »nee«, wieso »neeee«? Wir stehen draußen im Nieselregen, die Sonne ist untergegangen, ich will wirklich rasch nach Hause. Ich nehme noch einmal Anlauf. »Wie kommen Sie denn nun nach Greifswald, wenn Sie zur Hüfte müssen?«

»Na, mit mein’ Auto«, sagt sie. Und ich bin wirklich ratlos. »Dann haben Sie ja alles, was Sie brauchen.« »Na klar doch!«, sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht. »Ach so«, sage ich, »ich dachte, Sie erzählen mir das, weil Sie meine Hilfe benötigen.«

»Ach was«, sie winkt ab, »ich mein doch bloß«, dreht sich um, »man sieht sich«, sagt sie noch und weg ist sie.

Dienstag, 1. Dezember

Der Wildfleischhändler versuchte mich heute zu überreden, eine Scheibe Hirschsalami zu probieren. Ich wollte nicht und redete mich damit raus, dass ich keine erschossenen Tiere esse. Daraufhin er: »Der ist mir vors Auto gelaufen.« Ich natürlich Riesengelächter und Nachfrage, ob Diesel oder Benziner. Er: »Ihrem Getue nach muss ich wohl Elektroauto sagen, damit Sie endlich probieren?!«

Montag, 30. November

Mein Gelübde gebrochen und doch einen Blick in die Berliner Presse geworfen. Jetzt erst vom Kannibalenmörder aus Pankow erfahren. Der Berliner Monteur Stefan S. traf wohl auf einer Datingplattform den Mann, der ihn später tötete und aß. Die Polizei geht von einem Kannibalenmord und Sexualdelikt aus. Tatverdächtig ist ein 41jähriger Lehrer aus Berlin-Pankow. In der Zwischenzeit wurde auch der Torso des Opfers gefunden und weitere Leichenteile. Offenbar hatte der tatverdächtige Lehrer, der in Untersuchungshaft sitzt und schweigt, aber nicht alles gegessen. Da waren die Augen wohl größer als der Magen. Typisch deutsch. Wie bei diesen all-you-can-eat-Buffets. Erstmal alles auf den Teller spachteln und schichten, aber dann die Hälfte liegen lassen und anschließend unter zerknüllten Servietten und Bananenschalen verbuddeln. Auf einem Feld in Blankenfelde vergrub der Kannibale die Reste seines Dates.

Das Knallblatt Berliner Kurier berichtet sehr gewissenhaft. Es gibt sogar Fotos vom Fundort der Leichenteile, über die sich im dichten, dunklen Nebel Polizeibeamte beugen. Schaurig und sehr klassisch. Klassisch, weil der Kurier pietätvoll und neutral sein möchte und gleichzeitig Wert auf liebevolle Details bei der Beschreibung des Tathergangs legt. Ich sage nur: »die Knochensäge, die man im Keller fand …«

Die mit Abstand aufregendste Kriminalnachricht im Nordkurier war, dass auf der Insel Rügen Unbekannte einen »spitzen Gegenstand« vergruben, woraufhin zwei Autos drübergefahren sind und drei Reifen beschädigt wurden. Gesamtschaden: 300 Euro. Die Kriminalpolizei bittet dringend um Mithilfe. Wer was weiß, soll sich bitte an die Kollegen in Sassnitz wenden. Riesensache. Drei Reifen.


Liebe Leserin, lieber Leser,

ist Usedom eine Nazi-Insel? Verzeihung für den plumpen Einstieg. Ich habe viel von den Küstenregionen auf dem Festland erzählt, von den beiden Lokalzeitungen (Nordkurier und Ostseezeitung) aber über Usedom selten genaueres. Ich musste mich erst etwas bilden, um Meinung von Wissen unterscheiden zu können.

Für Usedom gilt folgende grobe Unterteilung: Die Ausländer arbeiten und die Einheimischen machen Urlaub. Die polnischen Arbeitskräfte kommen täglich aus der Grenzstadt Swinemünde und anderen kleineren Gemeinden (viele mit dem Fahrrad) und erledigen 75 Prozent sämtlicher Servicedienstleistungsjobs. Sie sitzen in den Supermärkten an den Kassen, stehen in der Apotheke, putzen in Hotels, machen Maniküre oder braten Fischfrikadellen. Ansonsten sind die Orte absolut reinrassig und homogen. Bis auf die paar Imbiss- und Restaurantbesitzer mit Biografien aus dem Mittelmeer- und ostasiatischen Raum gibt es auf Usedom keinen sichtbaren Beleg dafür, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Usedom ist der urdeutscheste Ort der Welt. So deutsch wie 1933.

Die Zehntausenden von Türken aus Berlin ziehen es vor, ihre Sommersitze in der Türkei zu kaufen statt auf Usedom, was von Berlin bloß drei Stunden entfernt ist. Schwarze Urlauber, oder solche mit dunklem Teint und internationaler Biografie sieht man kaum. Der politische Ruf der Insel ist miserabel.

Nicht nur, dass sich hier eines der militantesten rechtextremen Netzwerke (»Nordkreuz«) in aller Seelenruhe ausbreitet, auch die drei Terroristen des NSU haben in Mecklenburg-Vorpommern jahrelang ihren Urlaub verbracht. Da waren sie bereits im Untergrund. Untergrund natürlich in Anführungszeichen. Denn sie bewegten sich absolut frei und unbehelligt vom Verfassungsschutz und der Polizei.

Von dem Jahr 2000 an (da begann die NSU-Mordserie mutmaßlich) bis Mai 2011 (also ein Jahr vor der vermeintlichen Selbstenttarnung) verbrachte die Kerntruppe des NSU (Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und Holger Gerlach) ihre Campingurlaube in der Seebad-Gemeinde Lubmin, das östlich von Greifswald liegt. Im Mai 2011 verschlug es das Kerntrio auf die Ostsee-Insel Rügen. Im vorpommerschen Salchow feierten bundesweit vernetzte Gewaltstrategen aus dem Umfeld des NSU im Mai 2011 das 15-jährige Bestehen des »Kameradschaftsbundes Anklam«. Der Platz hier reicht nicht aus, um aufzuzeigen, wie eng das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und der NSU miteinander verflochten waren oder sind. Hinzu kommt die militante und bewaffnete Neonaziszene von heute (u.a. »Nordkreuz«). Auch deshalb ist die Causa des zurückgetretenen Innenministers Lorenz Caffier kein Ausnahmeskandal und Einzelfall, sondern eine Episode in einem sehr lange andauernden Zusammenhang zwischen dem Bundesland und der gewaltbereiten Naziszene.

Schlendert man auf Usedom, begegnen einem die Aufkleber von den Identitären, der Neonazipartei III. Weg oder den rechtsradikalen Hansa Hools, aber die Hotel- und Ladenbesitzer halten mit ihrer politischen Meinung gegenüber Dritten eher hinterm Berg.

Schaut man sich aber die Wahlergebnisse der letzten Landtagswahl von 2016 von Usedom genauer an, so ergibt sich ein eindeutiges Bild. Der Anteil der Wähler von AfD und NPD sind in der Mehrheit.

Hier ein paar Beispiele:

Peenemünde:              AfD 46,8/ NPD 5,6
Wolgast:                     AfD 35,9/ NPD 6,0
Trassenheide:           AfD 40,7/ NPD 3,3
Zinnowitz:                 AfD 31,4/ NPD 4,3
Rankwitz:                   AfD 31,1/ NPD 11,7
Heringsdorf:              AfD 32,8 / NPD 6,0
Garz:                           AfD 42,3 / NPD 9,3

Bei der Landtagswahl 2011 hatte die NPD in diesen Orten noch zweistellige Wahlergebnisse, oft um die 22 bis 25 Prozent.

Das sind erstaunliche Parallelen zu Sachsen (der überproportional hohe Anteil an sächsischen Touristen auf Usedom und Rügen ist vielleicht deshalb kein Zufall?). Wie auch in Sachsen ist die NPD bei der letzten Landtagswahl von der AfD verdrängt worden, wie auch in Sachsen ist die NPD in Mecklenburg-Vorpommern eng mit der Neonaziszene verbunden, wie auch in Sachsen kann man in der Ost-CDU im Sprechen über Muslime und Flüchtlinge keine inhaltlichen Unterschiede zur AfD erkennen.

Nun kann man sich natürlich fragen, warum sich eine Inselbevölkerung in ihren politischen Einstellungen vom Festland unterscheiden sollte. Ich finde aber, dass eine Insel, deren Geschäft Tourismus, Gastfreundschaft und Weltoffenheit sein müsste, es sich nicht leisten kann, rassistisch und menschenfeindlich zu sein. Aber ich irre mich.

Als die NSDAP 1933 an die Macht kam, hatten es die Insulaner eilig, sofort die Nazi-Flaggen zu hissen. Usedom war eine der ersten Gegenden Deutschlands, wo an der Promenade das Hakenkreuz und der Hitlergruss gezeigt wurden. Es gibt Filmdokumente darüber, die man aber leider in keinem Museum auf Usedom sehen kann. Die wichtigsten kulturellen Highlights von Usedom sind das U-Bootmuseum und das Historisch-Technische Museum in Peenemünde, das von 1936 bis 1945 das größte militärische Forschungszentrum Europas war. Dort arbeiteten bis zu 12.000 Menschen gleichzeitig an neuartigen Waffensystemen, wie etwa dem weltweit ersten Marschflugkörper und der ersten funktionierenden Großrakete, die größtenteils von Zwangsarbeitern gefertigt wurden. In jeder Usedomer Buchhandlung findet man direkt am Eingang viel Literatur über Kriegswaffen und Vertriebenengeschichten, aber wenig Werke zu Zwangsarbeit auf Usedom.

Nennenswerten Widerstand gegen Faschismus gab es auf der Insel nicht. Das ist auch der Grund, warum nur bestimmte Künstlergruppen mit bestimmten politischen Gesinnungen sich auf der Insel wohl fühlten. Kurt Tucholsky liebte Usedom auch, aber blieb nicht. Unter seinem Alias Peter Panter schrieb er bereits 1922 über Zinnowitz: »Ein herzerfrischender antisemitischer Wind pfeift brausend über den judenreinen Strand des anmutigen Badeörtchens.« Usedom war die Insel für glühende Antisemiten, Mitmacher und Mitläufer. Und sogar jetzt noch, nach über siebzig Jahren, erreichen nicht die demokratischen Parteien eine Mehrheit, sondern zwei offen faschistische Strömungen. Im politischen Diskurs wird dafür der Begriff »Kontinuitäten« verwendet.

Selbst unter den polnischen Gastarbeitern gibt es rechtsextreme Äußerungen, weil auch sie eine politische Gegenwart mitbringen, die man nur verstehen kann, wenn man weiß, was gerade in Polen los ist. Das sind unheilvolle politische Allianzen und Gemeinsamkeiten, die daraus entstehen wogegen man ist: Muslime, Kanzlerin, Flüchtlinge.

Ist das schon eine Berechtigung für das zugegebenermaßen scheußliche Etikett »Nazi-Insel«?

Die Menschen an einem bestimmten Ort können massivste rechtsextreme Ideologien und Mentalitäten haben, sie können skrupellos antidemokratisch wählen und trotzdem merkt man die Infiltrierung neonazistischen Gedankenguts einer Gegend nicht an. Usedom ist so ein Fall. Es hat ein unwiderstehliches Ferienflair im Sommer und im Winter ist es umwerfend pittoresk naturgewaltig. Die Kulisse verdeckt, was hinter dem Vorhang los ist.

Ich kriege von Bekannten und Freunden im Norden manchmal ins Ohr geflüstert: »Tolle Kolumne neulich«, wenn ich mal wieder was über die politische Situation schrieb. All diesen Leuten will ich sagen: Wenn ihr nicht kämpft, werdet ihr die längste Zeit eures Lebens meine Texte gelesen haben. Bitte bewegt euch! Zeigt euch, kriecht aus euren Verstecken. Denn sonst bleibt alles, wie es immer war.

Was diese Woche außerdem wichtig war? Der Milka-Weihnachtsmann aus Schokolade wiegt 10 Gramm weniger und kostet mehr. Damit der Schwindel nicht auffällt, hat die Firma die Falz unten am Sack des Weihnachtsmannes verstärkt, damit der Kerl nicht umfällt.

Das ist der Unterschied zwischen Nichts Neues aus Nichtberlin und dem Weihnachtsmann von Milka. Die tägliche Theaterkolumne kostet Sie das gleiche wie im Frühjahr (nämlich nichts), aber es steckt mehr Text denn je drin. Und ich finde, dafür könnte mir die Verbraucherzentrale auch mal ’ne Medaille umhängen.

Herzlich
Ihre Mely

30. November 2020

Wochenende, 28./29. November

Die beste Live-Aufnahme von Michel Godard zu Trace of Grace gefunden.

Wie sie aus aller Welt in dieser Musik zusammenfinden, Godard aus Frankreich, Alim Qasimov und Rauf Islamov aus Aserbaidschan, Hüsnü Şenlendirici aus Istanbul, einfach fantastisch.

https://youtu.be/cHkXM-i_1MU


Freitag, 27. November

Kann kaum den Samstag erwarten. Die Titelgeschichte zum Tod von Diego Maradona im neuen SPIEGEL morgen ist von Juan Moreno geschrieben. Bester Sportreporter Deutschlands. Sie hätten ihn, nachdem er den Relotiusskandal aufgedeckt hat, die Leitung des Sportressorts geben sollen. Niemand sonst schreibt so gute Sportlerporträts wie er. Sie sind politischer als mancher politische Leitartikel im übrigen Blatt.

Schlimmste Nachricht des Tages: In den USA werden Hinrichtungen künftig auch mit Schießkommandos oder Vergasen erlaubt sein.

War heute dreimal spazieren. Seltsame Gleichzeitigkeiten des Lebens. Vom Unheil auf der Welt wissen und trotzdem für einen langen Moment befreit und glücklich unter der tiefen Novembersonne gehen.

Donnerstag, 26. November

Jetzt beginnt die Scheiße richtig zu brodeln. Es steht die Frage im Raum, ob nicht nur der zurückgetretene Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier, sich bei Frank T. (Neonazi-Terrornetzwerk »Nordkreuz«) eine Waffe kaufte, sondern weitere CDU-Mitglieder aus der Landesregierung. Seit einiger Zeit gibt es Gerüchte darüber und so stellte Peter Ritter, Innenexperte der Linksfraktion, eine kleine Anfrage. Der Wortlaut:

»Waffenkäufe der Firma Baltic Shooters, bzw. beim Güstrower Waffenhändler und Schießplatzbetreiber Frank T.

Wie viele Beamtinnen und Beamte sowie Angestellte der Landesregierung, der Ministerien und Landesverwaltung, haben im Zeitraum 2002 bis 2019 bei der o. g. Firma, bzw. Händler, Waffen käuflich erworben?«

Seit März 2018 wurden Unterlagen und Informationen über das Terrornetzwerk »Nordkreuz« an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergeleitet. Caffier, dem als Innenminister das Landesamt für Verfassungsschutz und die Polizei unterstehen, will aber erst im Mai 2019 erfahren haben, dass sein Waffenhändler ebenfalls bei der rechtsextremen Terrorgruppe war. Dass Caffier Schirmherr des Schießstands von Frank T. in Güstrow war und dort regelmäßig ballerte, pardon »ein Schießtraining absolvierte«, erwähnte ich schon an anderer Stelle. Und dass auf diesem Schießstand zehntausende (!) Schuss Munition beiseite geschafft wurden, um am »Tag X« Muslime, Flüchtlinge und Linke damit zu erschießen. Leichensäcke hatten sie auch gehortet.

Innenminister hat nichts gewusst. Dabei bleibt er. Vielleicht klebten am Schießstand weiße Friedenstauben auf blauem Grund? Vielleicht hatten sie »refugees welcome« Aufkleber auf den Wummen angebracht? »Baltic Shooters« klingt ja alles in allem auch sehr seriös.

Wenn es stimmt, dass die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern Kunde bei Neonaziwaffenhändlern ist, dann möchte ich eigentlich freiwillig sterben, bevor ich von irgendeinem von denen erschossen werde. Denn diejenigen, die meinen Mord untersuchen müssten, stecken dann mit denen, die ihn ausübten, unter einer Decke. Klingt verrückt und wie nie dagewesen, ist aber natürlich eine olle Kamelle. Ich sage nur NSU.

Ohmannohmannohmann.

Das muss man sich mal vorstellen: Die Landesregierung sorgt nicht dafür, dass die militante Neonaziszene entwaffnet wird, sondern umgekehrt. Die Politik geht zu Neonazis, um sich zu bewaffnen.

Den Namen Peter Ritter, Mitglied der Linksfraktion und Innenexperte muss man sich merken. Er scheint gerade der Einzige in Schwerin zu sein, der beharrlich an der Sache dranbleibt.

Erfahren habe ich das alles vom NDR und vom Nordkurier.

Die Ostseezeitung hingegen stellt den Rücktritt des Innenministers in Frage und veröffentlicht eine Umfrage mit der Überschrift: »Geteilte Meinungen über den Rücktritt von Lorenz Caffier«. Demnach finden 60 % der CDU-, und AfD-Sympathisanten, er hätte im Amt bleiben sollen, und immerhin noch 30 % aus dem Lager SPD, Die Linke, und Grüne.

Klar, wenn keine Zeitung über diese Vorgänge exakt berichtet, wie sollen die Leute diesen Skandal ermessen und einordnen können? In der Ostseezeitung steht einfach  N I C H T S  über die militante Neonaziszene Mecklenburg-Vorpommerns.

N
I
C
H
T
S


Mittwoch, 25. November

Ich glaube, Karl Lauterbach liest meine Kolumnen. Vergangene Woche schrieb ich, dass das Unternehmen FlixBus seinen Betrieb für November in Deutschland ausgesetzt und staatliche Hilfen beantragt hat, weil niemand mehr verreisen soll. Also schlug ich vor, FlixBus könne für umme Kinder zu Kita, Schule, Sport und Spielplatz chauffieren, wenn das Unternehmen schon Wirtschaftshilfen bekommt. Es macht doch wenig Sinn, wenn die Kinder in der Klasse mit Abstand und im Schulbus wieder zusammengedrängt sitzen, weil es zu wenig Schulbusse gibt. Und nun lese ich, dass Karl Lauterbach fordert, die Reisebusunternehmen könnten doch die Schulbusse entlasten. Will nicht kleinlich sein, aber ein Täfelchen Schokolade hätte Lauterbach mir zum Dank senden können. Ist schließlich nicht meine Aufgabe, die Regierung mit praktischen Konzepten zu versorgen.

Während ich das gerade aufschreibe, fällt mir auf, dass in der vergangenen Zeit ein Haufen Artikel über Karl Lauterbach erschienen sind. Zeitungsübergreifend gleicher Tenor. Der Politiker sei überall zu sehen und zu hören, trage komische Klamotten (dabei ist er einfach nur anständig gekleidet), rheinischer Akzent, pipapo, nerve ungemein, habe aber – und jetzt kommt es! – uneingeschränkt immer Recht.

Der Besserwisser. Vor nichts haben die Deutschen mehr Angst als vor Menschen, die etwas besser wissen oder überhaupt etwas wissen. Im Grunde genommen teilt Lauterbach das Schicksal von Professor Drosten. Ihnen wird zum Verhängnis, dass sie Wissenschaftler sind und nicht Meinungsspaltenkrieger.

Dienstag, 24. November

Jetzt geht das wieder los. Kaum ist Lockdown, wird in den Zeitungen wieder erklärt, wie man Kartoffeln richtig lagert und wie man seinen Haushalt klug organisiert, um nicht für jede Tüte Mehl in den Laden zu laufen und sich der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen. Ist dieses Land wirklich eine Ansammlung von unerwachsenen Menschen, die nicht in der Lage sind, Vorratshaltung zu betreiben? Ausgerechnet dieses Land?

Montag, 23. November

Die neue Woche hat begonnen. Texte müssen geschrieben, Absprachen mit Redaktionen getroffen werden, Verlage warten auf Post und Antworten – ich aber hänge wieder bei Margaret Atwood fest.

Eines Tages wirst du eine Biegung im Leben erreichen/
Die Zeit wird sich wölben wie ein Wind

Kann mich nicht satt stöbern in Die Tür. Lese seit Monaten darin, entdecke immer Neues. Es gibt wohl einen neuen Gedichtband von ihr, ich aber brauche nur The Door – poems. Leider ist die Ausgabe vergriffen. So wird mein PDF leider niemals Spuren des Blätterns und Innehaltens, des aufgeregten Seiteaufschlagens, kurz: szenetypische Zeichen der Lesegier aufweisen.


Liebe Leserin, lieber Leser, hallo Kinder,

als Kinder aßen wir Obst und Gemüse nur dann, wenn Vater oder Mutter es schälten, schnitzten und uns die Teller mit dem Geschnurps auf den Schoß legten. Wir aßen alles auf und dann moserten wir. Ich liebte Kohlrabi mit Zitronensaft und Salz, das Geschwister war verrückt nach Gurken. Weil meine Eltern eine gnadenlos harte Erziehungskultur hatten, lagen auf dem Teller Möhren und Äpfel, aber nie unsere Lieblingssorten. Das war immer so. Sobald wir sagten: »Das ist toll, das schmeckt uns«, gab es etwas anderes.

Ich glaube, die Idee dahinter war, dass wir allen Lebensmitteln gegenüber demütig und dankbar sein sollten, oder anders ausgedrückt, meine Eltern, insbesondere die Mutter, verabscheuten den Gedanken, dass die Kinder bestimmen, was es zu essen gibt.

Einmal wagte sich mein Geschwister besonders weit aus dem Fenster und warf unserer Mutter vor, dass auf dem Nachmittagsteller nie ein Keks oder eine Süßigkeit in Knisterpapier aus dem Kassenbereich eines Supermarktes lag. Meine Mutter kriegte einen hysterischen Schreianfall (»Bist Du kaputt im Kopf? Willst du Zucker essen und sterben? Willst du, dass Papa dich ins Grab stecken muss? WILLST DU DAS???«).

Manchmal warfen wir unserer Mutter vor, dass sich unser Elternhaus weniger wie ein behütetes Zuhause anfühlte als vielmehr wie ein Gefangenenlager. Unsere Mutter strahlte dann immer über das ganze Gesicht und antwortete mit gerolltem R: »Freut mich zu hören, Kinderrr!«

Man kann es sich nicht vorstellen, aber außer Butter, Käse, Tomatenmark aus der Tube und geschälten Tomaten in der Dose gab es bei uns keine verarbeiteten Lebensmittel. Meine Eltern machten Rillettes als Brotaufstrich, den Yoghurt setzten sie selber an und wenn sie gut drauf waren, durften wir uns Honig ins Dessert tropfen. War meine Mutter weg, brachte mein Vater uns manchmal Fischstäbchen mit, die wir aßen und dann erpressten wir den Vater anschließend damit, dass wir ihn verpetzen werden. Auf diesem Weg kamen wir an andere Dinge aus dem Supermarkt ran.

Das alles fiel mir vorgestern nur deshalb ein, weil ich eine Mutter mit ihrem Kind im Supermarkt beobachtete, die sich ständig mit dem maximal Fünfjährigen absprach.
»Soll Mama am Donnerstag Reisauflauf machen?«, fragte sie den Kleinen, dem eine beachtliche Rotzspur aus der Nase schleimte. »Nein«, krächzte der höchstwahrscheinlich nicht alphabetisierte lückenhaft bezahnte Kerl, »Kartoffelbrei!«, und die Mutter wiederholte: »Kartoffelbrei?«. »Ja, Kartoffelbrei«, gab der Kleine zur Antwort. Die Mutter drehte auf der Stelle mit dem Einkaufswagen um und fuhr zurück zum Gemüseregal.

Später sah ich sie bei den Getränken wieder. Natürlich sprach sie sich auch hier in allen Fragen, die ein Wochenendeinkauf aufwirft, mit dem Kurzwüchsigen ab. Ich war derart fasziniert, dass ich ihr bis nach draußen folgte, wo sie einen Hund ableinte, der groß wie ein Strandkorb war. Und dann fragte sie – und ich will tot umfallen, wenn ich mir das ausdenke – den Hund: Na Tappsi, willst du, dass wir noch Gassi gehen oder sollen wir direkt nach Hause? Der Hund sagte: Nee, lieber sofort nach Hause.

Liebe Leserschaft, danke für Ihre freundlichen und freudigen Reaktionen von vergangener Woche. Sie können jederzeit hier das Tagebuch in der Woche mitlesen. Caro meint allerdings, dass der Hinweis zwecklos sei, die Leute lesen es lieber, wenn das Journal als Email mit einem possierlichen Anschreiben im Postfach landet.

Ich verurteile Sie nicht! Ich verstehe es. Es ist wie mit den Obst- und Gemüsetellern in der Kindheit. Wenn es schon mal da steht, greift man zu. Also schnitze ich kleine Gesichter in Paprikaspalten und stiftele Ihnen die Möhrchen.
Gern geschehen! Alles andere anbei,

Herzlich
Ihre Mely

23. November 2020

Wochenende 21./22. November

Schlafen, träumen, dösen/
Chihuahua-Werner liebkösen

20. November

Das erste Mal seit über einem Jahrzehnt ziehe ich den Waldspaziergang einem Strandspaziergang vor. Der Herbst in diesem Jahr ist eine einzige Kitschkulisse. Selbst im trübsten Nebel leuchtet alles in grün, gelb, rot und braun. Wenn man durch den Wald läuft, raschelt es, als wanderten Mäusekolonnen durch das Laub. Im Wald treffe ich auf Spaziergänger, die nett, fröhlich und redselig sind. Jedes Mal, wenn mich einer anspricht, drehe ich mich nach einer Weile um und schaue der Person hinterher. Kannten wir uns?

Zu Hause angekommen, habe ich das Gefühl, ich komme aus einem fremden Land. Was war das denn bitte? Freundliche Leute mit Bock auf Sabbeln?? In Emmpfau? Bin erschüttert.

19. November

Schon seltsam, dass die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder meinen, den Lockdown (der diesen Namen eigentlich nicht verdient) mit der Rettung des Weihnachtsfestes begründen zu müssen. Wenn man mich fragt, ist Weihnachten schon lange verloren. In der Drogerie Rossmann sind gerade Pinguine mit Weihnachtsmütze auf Servietten und Geschenkpapier der letzte Schrei. Jesus hätte sich im Grabe umgedreht, hätte er es vor 2000 Jahren nicht eigenmächtig verlassen.

Unabhängig davon, wie und ob man Weihnachten feiert, braucht man während einer Pandemie, die bislang in sehr kurzer Zeit sehr viele Todesopfer kostete, doch keine separate Begründung für Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Reicht der Schutz von Menschenleben – allen voran des eigenen – als Grund für die Reduzierung der sozialen Kontakte nicht aus?

Mittwoch, 18. November

Heute früh im Deutschlandradio Kultur fast eine Heiligsprechung Lorenz Caffiers gehört. Extra nur mit halbem Ohr zugehört, und gerade so mitbekommen, dass er die NPD geächtet habe. Da dachte ich, ganz Deutschland hat die NPD geächtet und das war außerdem in einem anderen Jahrhundert. Unbehelligt von der regierenden mecklenburg-vorpommerschen CDU ist hier ein Terrornetzwerk entstanden. Keine Bier trinkenden Feierabendnazis, sondern echte Terroristen, darunter Elitepolizisten und Spezialkräfte aus Sondereinheiten. Und nun schwingt der Radiosender den perforierten Weihrauchkessel über Caffier. Unangenehm. Richtig unangenehm.

Die Ostseezeitung nicht aus dem Briefkasten geholt. Gestern hatten sie den gleichen kleinen Kasten rechts unter dem Knick für die Affäre reserviert. Warum ist das so? Sympathisiert die Zeitung mit Rechtsextremen? Sind sie ihnen egal? Jeder Hirsch, der an der B 110 am Laub schnuppert, wird zur Titelstory aufgewertet, aber ein Innenminister, der Schulter an Schulter mit militanten Neonazis Waffendeals macht, nicht.

Keine paar Stunden später Nazis vor dem Reichstag, die angeblich gegen das Infektionsschutzgesetz demonstrieren, das sie mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 vergleichen.

Vor einigen Tagen fand in Frankfurt am Main eine Coronaleugnerdemo statt, auf der sie ein elfjähriges Mädchen auf der Bühne sprechen ließen, die erzählte, dass sie gezwungen gewesen sei, ihren elften Geburtstag »wegen Corona« in mehreren Schichten zu feiern. Das arme Ding musste  f ü n f m a l  feiern und Kuchen essen. Es ging ihr so schlecht wie damals der Anne Frank.

Da dachte ich, so stellen sich also heutzutage Kinder das Leben der Anne Frank vor, die jahrelang in einer kleinen Kammer hinter dem Bücherschrank in den Niederlanden gefangen war, hungerte, fror und am Ende in der Gaskammer ermordet wurde. Wie einen Kindergeburtstag, bei dem man f ü n f m a l Kuchen essen muss. Ich hätte mich als Bürgermeister von Frankfurt zu Tode geekelt, dass in meiner Stadt so etwas von der Bühne einer genehmigten Demonstration gesprochen wird. Erfahren habe ich das alles aus der Frankfurter Rundschau.

Apropos Bühne. In Neuruppin, also mitten in meinem derzeitigen Bundesland, demonstrierten ebenfalls Coronaleugner und verbreiteten von der Rednertribüne aus das Gerücht,  eine deutsche Frau sei von Flüchtlingen nach einer Massenvergewaltigung schwer verletzt zurück gelassen worden und die Behörden vertuschten das alles. Die Demonstration bestand aus einer Handvoll Leuten, aber der Nordkurier blieb daraufhin tagelang an dem Fall dran. Die Kollegen wiederholten gebetsmühlenhaft, dass es ein Gerücht gebe, dass man das Gerücht aber nicht weiter verbreiten wolle. Damit man das Gerücht in allen Einzelheiten erfahren kann, wurde sicherheitshalber das Video von der Demobühne verlinkt, in dem die angebliche Massenvergewaltigung geschildert wurde. Um die Wichtigkeit des alarmierenden Gerüchtes zu betonen, meldete sich der Chefredakteur vom Nordkurier persönlich und betonte, dass man sich entschlossen habe, das Gerücht nicht weiter zu verbreiten, schließlich handele es sich um ein Gerücht. Wie gesagt, das Gerücht kursierte anfangs nur auf den Kanälen der Rechtsextremen. Per Nordkurier aber hatte ganz Mecklenburg-Vorpommern von dem Gerücht einer Massenvergewaltigung erfahren. Wenige Tage später gab die angeblich schwer verletzte Frau der Polizei gegenüber zu, sich alles ausgedacht zu haben.

Worum es mir dabei geht, ist die Kollaboration der bürgerlichen Zeitungen mit den Rechtsextremen. Ob nun ungewollt, aus Dummheit, oder in stillem Einverständnis: Sie helfen der militanten und bewaffneten Bewegung, dass ihre Anliegen permanent eine Öffentlichkeit bekommen. Dass in dieser »Bewegung« auch Dummköpfe, Evangelikale, Ökonazis und DDR-Nostalgiker mitlaufen, macht die »Bewegung« nicht weniger gefährlich, sondern spricht einmal mehr gegen die Rechtsextremen.

Dienstag, 17. November

Rücktritt Lorenz Caffier.

Nicht der Erwerb der Waffe sei ein Fehler gewesen, aber sein Umgang damit, sagte Caffier zur Begründung. Und: Es sei »blanker Unsinn und geradezu ehrverletzend«, dass ihm eine Nähe zum rechtsextremistischen Netzwerk »Nordkreuz« oder anderen rechten Netzwerken angedichtet werden solle. Außerdem wolle er mit dem Rücktritt seine Familie schützen.

Mit anderen Worten: Er ist ein Opfer.

Vermute stark, dass die Deutsche Polizeigewerkschaft mit ihrem Vorsitzenden Rainer Wendt, Horst Seehofer und Hans-Georg Maaßen ihm zum Trost einen Blumenstrauß und eine kleine Panzerfaust aus Vollmilchschokolade schicken werden.

Montag, 16. November

Ostseezeitung, kleine Notiz, unten am Rand. Irgendwas von »Caffier unter Druck«. Stell dir vor, du hast eine Zeitung, dein Innenminister shoppt bei ortsansässigen Nazis eine Knarre, aber du machst mit Tiergeschichten und Verkehrsmeldungen auf.

Der Nordkurier hebt jede neue Meldung über Caffier in seinem Onlineauftritt als Aufmacher hoch. Und erinnert bei der Gelegenheit daran, dass Caffier sich mitten im Naturschutzgebiet in Neppermin auf Usedom ein Grundstück für einen Appel und ein Ei kaufte und sich dort ein Ferienhaus baute.

14./15. November

Gestern die Wahnsinnsnachricht, dass Lorenz Caffier, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, sich von Frank T., also aus dem Umfeld des rechtsextremen Terrornetzwerks Nordkreuz, eine Waffe gekauft hat. Bei der Waffe handelt es sich um eine Glock, die Caffier angeblich für die Jagd benötige. Eine Glock ist eine richtige Wumme und ich kenne Jäger, die so etwas nicht besitzen. Ich kenne viele Jäger und kein einziger trägt so eine Wumme am Hintern bei der Jagd. Aber gut, was weiß ich schon.

Ich erinnere mich an eine Dokumentation des NDR (»Protokoll einer nächtlichen Abschiebung«), bei der sich Caffier dabei filmen ließ, wie er nachts um drei Uhr zusammen mit der Polizei Flüchtlinge aus den Betten zerrt und zum Flughafen zur Abschiebung eskortiert. Dazu trägt er ein Käppi auf dem Kopf und macht einen auf Cop.

Nein, er habe von nichts gewusst. Von gar nichts. Nazis in Mecklenburg-Vorpommern? Auf dem Schießstand, dessen Schirmherr er war, dem über 50.000 Schuss Munition geklaut worden sind für den »Tag X«, an dem Ausländer und Linke erschossen werden sollten, von den zigtausend gehorteten Leichensäcken, von den Todeslisten, von all dem hat er nichts gewusst, woher auch?

Armer kleiner, unbescholtener Innenminister. Und jetzt kommt die Presse und stellt ihm Fragen zu seinen »Privatangelegenheiten«. So nennt das ein Innenminister, der für die militanteste Neonaziszene Deutschlands verantwortlich ist, wenn er beim Nazi Waffen einkaufen geht und dabei erwischt wird.

Die Recherche ist den Kollegen von der taz zu verdanken, die seit Jahren unermüdlich über die rechten Terroristen aus Mecklenburg-Vorpommern recherchieren und Stück für Stück immer irrsinnigere Details herausarbeiten.

Die kleine, linke Genossenschaftszeitung taz aus Berlin-Kreuzberg. Nicht das Innenministerium, nicht die Polizei, nicht der Verfassungsschutz aus Mecklenburg-Vorpommern hat das Netzwerk ans Licht der Öffentlichkeit gehoben, sondern unterbezahlte Journalisten.

Damit ist zum Kampf gegen Rechtsextremismus, dem sich der Innenminister Lorenz Caffier und die Ministerpräsidentin Manuela Schwesig angeblich so verpflichtet sehen, alles gesagt.


Foto: Christian Seifert

So, liebe Theaterbegeisterte, alles wie gehabt, Moin Moin von der Küste!

Wussten Sie, dass der Unterschied zwischen dem einfachen Moin und dem doppelten Moin Moin darin besteht, dass das Moin ein Gruß im Sinne von »Hallo und Tschüß« ist, wohingegen das doppelte Moin eine Einladung zum Gespräch signalisieren soll? Angeblich soll das an der Nordseeküste in Schleswig-Holstein so sein. Ich bin gerade an der Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern und kann versichern, dass hier selbst ein sechzehnfaches Moin zu keinem Gespräch führen wird. Ich glaube, dies ist, neben Finnland, die wortkargste Gegend der Welt. Und jetzt stellen Sie sich mich mal in diesem Landstrich vor – fröhlich die aneinandergereihten Moins flötend. Und dann die Leute!

Wir machen es jetzt wie im Frühjahr, als wir das Theater schließen mussten. Sie erinnern sich? Ich nutzte die vorstellungsfreie Zeit, und schrieb statt der vierzehntägigen Theaterkolumne ein Journal mit Notizen, Erlebnissen, Gedanken. So wird es wieder sein. Ich schreibe so lange täglich für Sie, bis ich das Gefühl habe, dass ich Sie wieder Ihrem Schicksal überlassen kann.

Damit wollen wir als Gorki Theater natürlich auch sagen: Wir sind da!

Wenn Sie nicht ins Theater dürfen, kommt das Theater zu Ihnen. Mit Briefen, Tagebucheinträgen, den Streams. Ich denke ja immer, ohne Kultur sind wir verloren. Ich schreibe nun schon im hundertsten Jahr als Theaterkolumnistin, und es gibt nichts – ich schwöre –, was ich lieber tue. Nirgendwo habe ich so viel Freiheit wie am Theater. Bei keiner Zeitung, in keinem Verlag.

Um auch mal die Größenordnung zu nennen: Sie gehören zu den 40.000 Menschen, die wir auf diesem Weg erreichen, die Reichweite in den Sozialen Netzwerken nicht mitgezählt. So klein ist unser Theaterkolumnendorf hier also auch wieder nicht. Ich kenne Zeitungen, deren verkaufte Auflage kleiner ist.

Ich bin am gleichen Ort wie im Frühjahr beim ersten Lockdown, in einem Schreibappartement an der deutschen Ostseeküste. Die Temperaturen sind gesunken, Nebelsuppe hängt tief über der Ostsee, hier in »MV«. Emmpfau heißt es hier offiziell, und keinesfalls Mekkpomm.

Im Frühjahr nannten wir das Journal »Neues aus Nichtberlin« und also heißt es dieses Mal »Nichts Neues aus Nichtberlin«, denn irgendwie muss man es ja nennen.

»Irgendwie muss man es ja nennen« ist ein berühmter Satz von Mandy aus dem Vor-Erzgebirge. Mandy war meine ehemalige Nachbarin auf dem sächsischen Sommersitz meines ostdeutschen Ex-Mannes. Ich spreche hier von meinem Leben von vor zwanzig Jahren. Unser Dorf lag zwischen Öderan und Frankenstein, und ich denke, das beschreibt das feeling dieser Gegend und jener Zeit bereits ausreichend. Mandy saß in meinem Garten, hatte ihre Tochter im Kinderwagen dabei, eine weitere war noch in ihrem Bauch. Ich fragte Mandy, wie das Baby heißen soll, und sie antwortete: »Sandy«. Als ich etwas verdutzt schaute, schob sie erklärend hinterher: »Peggy heißt ja schon die Kleine«, sie zeigte auf ihre einjährige Tochter, »und Pamela« (genaugenommen sagte sie Bämmela) »heißen ja schon die ganzen anderen Mädchen im Dorf – und irgendwie muss man es ja nennen.«

Liebe Leute, hiermit eröffne ich offiziell mein tägliches Journal, wie immer redaktionell aber mehr noch anekdotisch betreut von Ludwig, unserem Fachdramaturgen. Caro sorgt dafür, dass die Kolumne in Ihrem Postfach landet und auf der Homepage der Theaterkolumne sowie in den Sozialen Netzwerken. Wie immer schwebt die schützende und segnende Hand unserer Intendantin über uns. Ich danke allen und grüße Sie herzlich

Ihre Mely

12. November

Mit Ludwig telefoniert. Wir sprachen über die sogenannten Coronaleugner, die sich immer deutlicher neben ihren ganzen anderen Ideologien eben auch als Rechtsextreme herausstellen. Rechtsextrem im Sinne von demokratiefeindlich und dem Staat gegenüber feindlich gesonnen. Warum ist es den Rechtsextremen immer wichtig, ihr Anliegen zu verschleiern? Anders als bei Linken, die gerne offen sagen, dass sie Antifaschisten, Kommunisten oder Antikapitalisten sind, haben Rechtsextreme ein Problem mit der ehrlichen Selbstetikettierung. Sie nennen sich konservativ, nationalbewusst oder besorgt.

Ludwig erzählt, dass das doch ein altbekanntes Muster sei. Von seinem Nazigroßvater erzählte man nach dem Krieg in der Familie noch jahrzehntelang, dass er nur deshalb bei der Reiterstaffel der SA gewesen sei, »weil er Pferde so abgöttisch liebte«. Darüber lache ich mich seitdem jeden Tag kaputt. Man kann gegen den Faschismus sagen was man will, aber schöne Pferde hatten sie.

10. November

Heute morgen, ich lief runter ins Dorf, weil ich meine Post erledigen musste, stand vor mir in der Warteschlange ein alter Herr, der seine Rente immer auf der Postbank abhebt und erfuhr, dass er das nur noch bis Ende November tun könne. Er hatte einen Rollator dabei. Es war offensichtlich, dass er sich nur rasch die Schuhe anzogen hatte und losgetuckert war. Sein Trainingsanzug sah nicht frisch aus, die Haare klebten gelblich im Halbrund um den Kopf. Die Filiale, wo er künftig seine Rente abheben muss, ist sechs Kilometer entfernt. Zwei Dörfer weiter. Zu Fuß ist das, wenn man rasch läuft, über eine Stunde. Mit dem Rollator wird das eine halbe Ewigkeit dauern. Der alte Mann sagte der Schalterbeamtin, dass er unter diesen Umständen eine größere Summe abzuheben gewillt sei. Sie fragte leise, an wie viel er dabei gedacht habe. Mit lauter, fast stolzer, fester Stimme antwortete er: »180 Euro«. Ich kann gar nicht sagen, wie traurig mich das machte.

4. November

Am letzten Morgen vor dem offiziellen Lockdown, die Feriengäste müssen nun alle endgültig abreisen (ich habe eine offizielle Arbeitsbescheinigung und darf bleiben), ruft mir eine fremde Frau zu: »Sie sind ja immer noch da!«

»Ja«, rufe ich zurück, »ich bleibe auch!«

Normalerweise würde man jetzt erwarten, dass eine neugierige Rückfrage kommt oder dergleichen. Aber das hier ist der Norden. Die fremde Frau schreit zurück: »Na denn is’ ja gut« und geht weiter.

26. Oktober

Erste Amtshandlung wie immer nach meiner Ankunft: im Nordkurier blättern und mich auf den neuesten Stand bringen. Ich lese, dass Philipp Amthor in Torgelow zum Bundestags-Kandidaten gewählt wurde. Er kann im Herbst 2021 wieder im Wahlkreis 16 (Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II) antreten. Er war der einzige Bewerber.

Nur zur Erinnerung: Amthor geriet im Sommer in die Schlagzeilen, weil er für eine amerikanische Firma Lobbyarbeit im Bundestag betrieb. Natürlich verbunden mit jeder Menge Bettelbriefe bei der Regierung, dass man für Augustus Intelligence (so der Name der Firma, deren Direktor er sogar war) doch dringend etwas tun müsse. Vor allem bettelte er im Bundeswirtschaftsministerium seines Parteifreunds Peter Altmaier. Luxusreisen und Champusabende inklusive. Ich habe nichts gegen Champus und Luxus, aber wenn einer dreizehn Millionen Menschen in Deutschland Armut bescheinigt und ihnen aufmunternd zuruft: »Von Jammern ist noch niemand reich geworden«, dann ist das schon krass ekelig. Irgendwie hat er die Sauerei politisch überlebt. Es waren am Ende auch alle so dermaßen in diesen Lobbyskandal verwickelt, dass man parteiintern, wie so oft in solchen Fällen, dann einfach zusammenhielt.

Amthor, der aus Ückermünde stammt, hat die Wahl mit 43 Stimmen »gewonnen«. »Gewonnen« ist natürlich nicht ganz korrekt, denn, wie gesagt, er war der einzige Bewerber. Nach der Wahl bedankte er sich in seiner gewohnt überschwänglichen, komplett verlogenen Art für die »GROSSE RÜCKENDECKUNG«.

Große Rückendeckung bedeutet in diesem Fall: Selbst nach dem strengen Corona-Hygienekonzept hätten von den 1000 CDU-Mitgliedern noch 140 Leute in der Tennishalle Platz gefunden, in der gewählt werden sollte. Gekommen waren aber nur 45 Mitglieder. Einer enthielt sich, und einer stimmte nicht für ihn, also bekam er 43 Stimmen.

Das sind nicht einmal fünf Prozent der stimmberechtigten Mitglieder, oder anders ausgedrückt, weder Rücken noch Deckung.

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