GEMEINSAM NICHTS BEWEGEN: SPD

Sehr geehrte Damen und Herren,

ist es nicht fantastisch, wie anlässlich der Flüchtlingskatastrophe auf der Insel Lesbos 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union alles stehen und liegen lassen, um eine Konferenz einzuberufen, die schnellstmögliches Handeln koordiniert?
Ist es nicht fantastisch, wie die EU den Friedensnobelpreis, der ihr 2012 »für über sechs Jahrzehnte, die zur Entwicklung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beitrugen« verliehen wurde, nun mit Taten erfüllt?
Ist es nicht fantastisch, wie unser Traum von Europa Wirklichkeit wird und dieser stolze und selbstbewusste Kontinent nicht auf die Zustimmung von Polen, Ungarn und anderen rechtsextrem regierten Staaten wartet, sondern sich über Nacht in einer Allianz der Menschlichkeit zusammenfindet?
Ist es nicht fantastisch, wie unser Außenminister nicht nur innerhalb von zehn Tagen hunderttausende deutsche Touristen aus ihrem Cluburlaub nach Hause einfliegen ließ, sondern nun genauso rasch handelt, damit wir nicht weiter dazu verdammt sind, jeden Abend zuzuschauen, wie Isabell Schayani vom WDR live aus Lesbos darüber berichtet, wie eine fünfköpfige Familie tagelang hungert und dann endlich, nach stundenlanger Warterei in einer Schlange drei Eier ergattert?
Ist es nicht fantastisch, dass wir es gar nicht erst zulassen, dass der Hunger die Bäuche der Kinder weiter aufbläht, hier, mitten in Europa (wir sind doch schließlich nicht Wahnsinnige)?

Nein, findet natürlich alles nicht statt.

Als Moralapostel sind wir riesig, als Menschen sind wir mickrig.

Ich schreibe seit zwei Wochen über nichts anderes und will mich nicht ständig wiederholen. In meinen Kolumnen »Kiyaks Deutschstunde« für Zeit Online (Deutschland) und »Kiyaks Exil« für die Republik (Schweiz) habe ich das Feuer in Moria kommentiert, das ich für einen notwendigen Akt des Widerstands halte – falls der Brand von den Lagerinsassen selber gelegt wurde. Wer will, kann die Kommentare hier und hier nachlesen.

Was ich noch nicht getan habe: die Namen jener SPD-Bundestagsabgeordneten veröffentlichen, die im März diesen Jahres namentlich gegen den Antrag der Grünen gestimmt haben, der der Aufnahme besonders schutzbedürftiger Menschen aus den Lagern auf den griechischen Inseln galt. Ich hole dieses Versäumnis an dieser Stelle nach, weil es in den letzten Tagen vor vielen anderen ein paar Sozialdemokraten waren, die besonders laut ihr Entsetzen äußerten und schnelles Handeln forderten. Also habe ich mir die namentliche Abstimmung vom März noch einmal genauer angeschaut und festgestellt, dass einige der derzeit engagiertesten Menschenretter und Humanisten im Frühjahr noch ganz anderer Meinung waren. Obwohl die Situation damals exakt die gleiche wie heute war. 13.000 Menschen hungerten, froren und litten in Moria Not. Es gibt seit Jahren keine Kanalisation in dem Lager, keine Toiletten, keine ärztliche Versorgung, keine Juristen. Die Menschen lebten wie Gefangene in einem Gefängnis, deren einzige Schuld darin bestand, vor einem Krieg geflohen zu sein. Seit Bestehen des Lagers auf Lesbos, also seit 11 Jahren (2009 wurden erstmals 1000 Flüchtlinge auf Lesbos interniert), berichten »Ärzte ohne Grenzen« über die ständig steigende Selbstmordrate unter den Geflohenen. Selbst bei Kleinkindern, so die Ärzte, beobachteten sie Symptome der Verzweiflung wie das Ausreißen der Haare.

Anlässlich der überfüllten Lager für Geflüchtete auf den griechischen Inseln hatte die Grünenfraktion die Aufnahme von 5000 besonders schutzbedürftigen Menschen gefordert. Außerdem Unterstützung für die griechischen Behörden, indem die Zahl der BAMF-Mitarbeiter erhöht werden sollte, um sie für ihre Überführung nach Deutschland auszuwählen. Drittens sollte verstärkt medizinisches Personal auf die griechischen Inseln entsendet werden. Viertens: Die Aufnahme von unbegleiteten Kindern sollte rasch und unbürokratisch durchgeführt werden. Und zuletzt: Eine unabhängige und qualifizierte Rechtsberatung sollte in den EU-Hotspots eingesetzt und im Bundeshaushalt verankert werden. Kurzum: schnelle und sofortige Hilfe.

Das Ergebnis ist bekannt: Die Regierungsparteien stimmten, genau wie die Fraktionen von FDP und AfD, mehrheitlich gegen den Antrag. Die Konsequenz: Lediglich 47 unbegleitete Flüchtlingskinder konnten aus dem Lager nach Hannover gebracht werden.

47 statt 5000.

Falls Sie annehmen, dass die SPD sich in ihrer Position zur Flüchtlingsaufnahme von ihrem Koalitionspartner unterscheiden würde, haben Sie recht. In der CDU/CSU Fraktion fanden sich immerhin noch drei Abgeordnete, die sich für die Aufnahme von 5000 Kindern aussprachen. In der SPD waren es nämlich nur zwei Bundestagsabgeordnete von 152: Hilde Mattheis aus dem Wahlkreis 291 (Ulm), und Florian Post aus dem Wahlkreis 217 (München-Nord).

Zwei.

Bitte nicht falsch verstehen. Die Pointe dieser Kolumne ist mitnichten, dass die Grünen eine Partei wären, die sich Flüchtlingen gegenüber besonders human verhalten würde. Überall dort, wo Grüne mit der CDU auf Länderebene in Regierungsbeteiligung sind, ist die Zahl der Abschiebungen von beispielsweise afghanischen Geflohenen sehr hoch. Afghanistan ist immer noch ein Kriegsland, was die Grünen in Baden-Württemberg keineswegs daran hindert, neben Bayern dasjenige Bundesland zu sein, das die meisten Abschiebungen durchführt. Dies nur als politischer Vorgeschmack für eine mögliche schwarz-grüne Bundesregierung ab 2021.

Der Antrag als grüne Oppositionspartei im Bundestag für die Aufnahme von tausenden Geflohenen war nichts anderes als Imagepflege. Wenn die Flüchtlinge den Grünen wichtig wären, würden sie auf der Stelle in Hessen und Baden-Württemberg (da sitzen sie in der Regierung) die Abschiebungen nach Afghanistan oder den Irak aussetzen. In Moria sind nämlich neben Syrern auch afghanische und irakische Flüchtlinge. Der Entschließungsantrag der Grünen im Bundestag war eine symbolische Handlung, ein PR-Streich. Doch diejenigen, die ihn ablehnten, taten dies nicht symbolisch, sondern in Regierungsverantwortung, weshalb es wichtig ist, dass wir ihre Namen kennen. Ich plädiere immer dafür, Twitter zu verlassen, und stattdessen die Sitzungsprotokolle des Parlaments zu lesen und die namentlichen Abstimmungen zu studieren.

Hier sind sie also, die SPD-Bundestagsabgeordneten, die vor fünf Monaten gegen die Aufnahme von Flüchtlingskindern stimmten. Unter diesen sozialdemokratischen Abgeordneten sind Familienmütter und Familienväter, Juristen, Politiker mit Migrationshintergrund, solche, die durch die Talkshows tingeln und ihre Flucht- oder Rassismuserfahrungen beschreiben, sich in ihren Bundestagsreden als Humanisten gerieren, das Sterben im Mittelmeer beklagen, oder anderweitig als Vorkämpfer von Menschenrechten stilisieren. Scrollen Sie sich durch. Sie werden sich wundern, wen Sie alles auf dieser Liste entdecken werden:

Name Wahlkreis
Niels Annen 20 – Hamburg-Eimsbüttel
Ingrid Arndt-Brauer 124 – Steinfurt I – Borken I
Bela Bach 221 – München-Land
Heike Baehrens 263 – Göppingen
Ulrike Bahr 252 – Augsburg-Stadt
Nezahat Baradari 149 – Olpe – Märkischer Kreis I
Doris Barnett 207 – Ludwigshafen/Frankenthal
Matthias Bartke 19 – Hamburg-Altona
Sören Bartol 171 – Marburg
Bärbel Bas 115 – Duisburg I
Lothar Binding 274 – Heidelberg
Eberhard Brecht 68 – Harz
Leni Breymaier 270 – Aalen – Heidenheim
Karl-Heinz Brunner 255 – Neu-Ulm
Katrin Budde 74 – Mansfeld
Bernhard Daldrup 130 – Warendorf
Daniela De Ridder 31 – Mittelems
Karamba Diaby 72 – Halle
Sabine Dittmar 248 – Bad Kissingen
Saskia Esken 280 – Calw
Yasmin Fahimi 42 – Stadt Hannover II
Johannes Fechner 283 – Emmendingen – Lahr
Fritz Felgentreu 82 – Berlin-Neukölln
Ulrich Freese 64 – Cottbus – Spree-Neiße
Dagmar Freitag 150 – Märkischer Kreis II
Michael Gerdes 125 – Bottrop – Recklinghausen III
Martin Gerster 292 – Biberach
Angelika Glöckner 210 – Pirmasens
Timon Gremmels 168 – Kassel
Kerstin Griese 105 – Mettmann II
Michael Groß 122 – Recklinghausen II
Uli Grötsch 235 – Weiden
Bettina Hagedorn 9 – Ostholstein – Stormarn-Nord
Rita Hagl-Kehl 227 – Deggendorf
Metin Hakverdi 23 – Hamburg-Bergedorf – Harburg
Sebastian Hartmann 97 – Rhein-Sieg-Kreis I
Dirk Heidenblut 119 – Essen II
Hubertus Heil 45 – Gifhorn – Peine
Gabriela Heinrich 244 – Nürnberg-Nord
Marcus Held 206 – Worms
Wolfgang Hellmich 146 – Soest
Barbara Hendricks 112 – Kleve
Gustav Herzog 209 – Kaiserslautern
Gabriele Hiller-Ohm 11 – Lübeck
Thomas Hitschler 211 – Südpfalz
Eva Högl 75 – Berlin-Mitte
Frank Junge 13 – Ludwigslust-Parchim II – Nordwestmecklenburg II – Landkreis Rostock I
Josip Juratovic 267 – Heilbronn
Thomas Jurk 157 – Görlitz
Oliver Kaczmarek 144 – Unna I
Johannes Kahrs 18 – Hamburg-Mitte
Elisabeth Kaiser 194 – Gera – Greiz – Altenburger Land
Ralf Kapschack 139 – Ennepe-Ruhr-Kreis II
Cansel Kiziltepe 83 – Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost
Arno Klare 118 – Mülheim – Essen I
Lars Klingbeil 35 – Rotenburg I – Heidekreis
Elvan Korkmaz-Emre 131 – Gütersloh I
Anette Kramme 237 – Bayreuth
Christine Lambrecht 188 – Bergstraße
Christian Lange 269 – Backnang – Schwäbisch Gmünd
Sylvia Lehmann 62 – Dahme-Spreewald – Teltow-Fläming III – Oberspreewald-Lausitz I
Helge Lindh 102 – Wuppertal I
Kirsten Lühmann 44 – Celle – Uelzen
Heiko Maas 297 – Saarlouis
Isabel Mackensen 208 – Neustadt – Speyer
Caren Marks 43 – Hannover-Land I
Katja Mast 279 – Pforzheim
Christoph Matschie 191 – Jena – Sömmerda – Weimarer Land I
Matthias Miersch 47 – Hannover-Land II
Klaus Mindrup 76 – Berlin-Pankow
Susanne Mittag 28 – Delmenhorst – Wesermarsch – Oldenburg-Land
Falko Mohrs 51 – Helmstedt – Wolfsburg
Claudia Moll 88 – Aachen II
Siemtje Möller 26 – Friesland – Wilhelmshaven – Wittmund
Bettina Müller 175 – Main-Kinzig – Wetterau II – Schotten
Detlef Müller 162 – Chemnitz
Michelle Müntefering 141 – Herne – Bochum II
Rolf Mützenich 95 – Köln III
Dietmar Nietan 90 – Düren
Ulli Nissen 183 – Frankfurt am Main II
Thomas Oppermann 53 – Göttingen
Josephine Ortleb 296 – Saarbrücken
Mahmut Özdemir 116 – Duisburg II
Christian Petry 298 – St. Wendel
Detlev Pilger 199 – Koblenz
Sabine Poschmann 143 – Dortmund II
Achim Post 134 – Minden-Lübbecke I
Florian Pronold 230 – Rottal-Inn
Martin Rabanus 178 – Rheingau-Taunus – Limburg
Sönke Rix 4 – Rendsburg-Eckernförde
Dennis Rohde 27 – Oldenburg – Ammerland
Martin Rosemann 290 – Tübingen
René Röspel 138 – Hagen – Ennepe-Ruhr-Kreis I
Ernst Dieter Rossmann 7 – Pinneberg
Michael Roth 169 – Werra-Meißner – Hersfeld-Rotenburg
Bernd Rützel 249 – Main-Spessart
Sarah Ryglewski 54 – Bremen I
Johann Saathoff 24 – Aurich – Emden
Axel Schäfer 140 – Bochum I
Nina Scheer 10 – Herzogtum Lauenburg – Stormarn-Süd
Udo Schiefner 111 – Viersen
Nils Schmid 262 – Nürtingen
Uwe Schmidt 55 – Bremen II – Bremerhaven
Ulla Schmidt 87 – Aachen I
Dagmar Schmidt 172 – Lahn-Dill
Carsten Schneider 193 – Erfurt – Weimar – Weimarer Land II
Johannes Schraps 46 – Hameln-Pyrmont – Holzminden
Michael Schrodi 215 – Fürstenfeldbruck
Martin Schulz  
Swen Schulz 78 – Berlin-Spandau-Charlottenburg Nord
Frank Schwabe 121 – Recklinghausen I
Stefan Schwartze 133 – Herford – Minden-Lübbecke II
Andreas Schwarz 236 – Bamberg
Rita Schwarzelühr-Sutter 288 – Waldshut
Rainer Spiering 38 – Osnabrück-Land
Svenja Stadler 36 – Harburg
Martina Stamm-Fibich 242 – Erlangen
Sonja Steffen 15 – Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald I
Mathias Stein 5 – Kiel
Kerstin Tack 41 – Stadt Hannover I
Claudia Tausend 218 – München-Ost
Markus Töns 123 – Gelsenkirchen
Carsten Träger 243 – Fürth
Ute Vogt 258 – Stuttgart I
Marja-Liisa Völlers 40 – Nienburg II – Schaumburg
Dirk Vöpel 117 – Oberhausen – Wesel III
Gabi Weber 204 – Montabaur
Joe Weingarten 201 – Kreuznach
Bernd Westphal 48 – Hildesheim
Dirk Wiese 147 – Hochsauerlandkreis
Gülistan Yüksel 109 – Mönchengladbach
Dagmar Ziegler 56 – Prignitz – Ostprignitz-Ruppin – Havelland I
Stefan Zierke 57 – Uckermark – Barnim I
Jens Zimmermann 187 – Odenwald


Auf dieser Seite erfahren Sie die Namen aller Abgeordneten des Bundestags und das Ergebnis ihrer Abstimmung vom März.

Bis zum nächsten Mal grüßt herzlich
Ihre Mely Kiyak

Gestaltung: María José Aquilanti

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