Zurück in Berlin

Berlin. Mein Nachbar im vierten Stock aus dem Haus gegenüber nickt mir zu. Genau wie ich lebt er in einer viel zu geräumigen Wohnung allein. Braun gebrannt und gepflegt wie eh und je, zieht er ein paar Züge an seiner Zigarette am offenen Fenster. Wir überraschen uns seit Jahren mit einer abwechslungsreichen, extravaganten Tagesgarderobe und haben beide komische Berufe. Er betreut Showgrößen wie Robbie Williams während ihrer Berlinkonzerte und andere Highclass-Stars. Nachts verlässt er im Anzug das Haus und vormittags bis elf mindestens sind die Vorhänge zugezogen. Die italienische Trattoria an der Ecke hat geöffnet, auch Violetta sieht blendend aus. Jeden Morgen joggt sie und hat seit fünfundzwanzig Jahren keine Kohlenhydrate mehr zu sich genommen und keinen Käse, also alles das, was sie ihren Gästen in die Gerichte rührt. Katja Kippings Mitarbeiter isst mehrmals die Woche bei ihr und alle anderen, die wir hier leben, auch. Wir wohnen alleine, haben wahrscheinlich viel zu große Wohnungen, und in den Steuererklärungen etwas stehen, von dem das Finanzamt denkt, dass es eine Phantasietätigkeit ist. Violetta sagt, sie habe dank der »Koronamillione« von der »banka« durchhalten können und wie immer bestelle ich keine Pizza bei ihr, denn dann erzählt sie mir, dass sie Pizza »niemalse« isst und dass ich etwas von ihrem Vitamin C-Pulver bekommen könne, das verhelfe zu einer strahlenden Haut (»’aute mit eine Glow, Meeeeeely, wie eine polierte Glaße!«). Während ich mit Violetta plaudere und mir die neuesten Tipps für Körper-, Gesichts- und Muschipflege abhole (»nur aqua, nur aqua!!«), kommen die supersüßen yesidischen Mädchen aus meinem Haus mit ihrem Vater vorbei. Sie begleiten den Vater zum Lidl-Supermarkt und haben eine Baumwollkombination mit glitzernden Sternen an. Aus dem dünnen labberigen, billigen Baumwollstoff, der wie Unterwäsche aussieht, schauen ihre dünnen Ärmchen und spindeligen Beinchen hervor. Zuckersüß winken sie mir zu, haben Mundschutz auf und die dunklen Kullerknöpfchen blitzen aus dem Haarhaufen heraus. Wir sind nun ein Bewohner mehr als vor der Coronakrise, das Brüderchen, auf das sie sich freuten, entpuppte sich als Mädchen. Ich gehe hoch in die Wohnung, klingele vorher bei der 85jährigen Maria, der ich das Sprudelwasser vorbeibringe und zwei Masken und sie fällt mir vor Freude um den Hals, denn ich wohne über ihr und das ist ihr das Liebste, dass ich da bin. Sie zeigt mir sofort den Brief von der AOK, der Zuschuss für das Glasauge und die Hörgeräte wird gewährt, eine gute Nachricht, Maria aber macht sich Sorgen, ob sie »den lieben Leuten« von der Krankenkasse einen Zwanziger vorbeibringen solle oder doch lieber nur Pralinen, oder ob sie warten solle, bis »der Virus vorbei« sei. Sie hat einen Stapel anderer Briefe, aber ich muss dringend hoch. Ich bin fix und fertig, die Reise war anstrengend und mir fehlt das Meer. Die Luft in meiner Straße ist schlecht, aber in meinem Haus ist sie eine einzige Katastrophe. Denn die Arschis aus der illegalen Shishabar unten in meinem Haus haben die Rollläden zu und rauchen ekelhaftes Zeug, das, in den Augen stechend und brennend, durch die Wohnungstürritzen zieht. Ich muss raus aus diesem Haus, ich ekele mich zu Tode und bin überhaupt so fertig, dass ich nicht mal mehr einkaufen kann.

Die Nacht liege ich im Salon, weil ich jetzt immer zur Straßenseite raus schlafe. Ich liege wach und finde keinen Schlaf und überhaupt, seit wann ist im Feuermelder dieses blinkende Licht? Irgendwann, ich muss doch eingeschlafen sein, wache ich auf, jemand schreit, irgendwer schreit immer, denn das hier ist der Mittelpunkt der Hölle, Kreuzberg, mitten auf der 140er Buslinie, wo sich morgens die türkischen Frauen mit bunten Tüchern auf dem Kopf treffen, um gemeinsam die Putzschicht im Urbankrankenhaus zu beginnen. Wo die gegelten, pubertierenden Lackaffen sich schreiend, rotzend und breitbeinig durch die Straßen bewegen und wahlweise Mütter, Fotzen oder Ärsche ficken und wenn man ihnen sagt, eşek oğlu eşek, wer ist dein gottverdammer Vater, hä, ich werde ihm sagen, was für ein armseliger Ficker du bist, los, nenne den Namen deines Vaters, werden sie winselig und sagen, abla, das hast du falsch verstanden, vallah, ich entschuldige mich, ich bin heute durch die Taxiprüfung gefallen und »bin psychisch angeschlagen«. So eine Straße ist das. Wo die alten Kurden und Türken Gesichtsmaske tragen und die jungen Burschen auf den Boden spucken, oder wie wir hier sagen, »Broschen legen«. Hier schreit immer jemand, Tag und Nacht. Dieser nächtliche Rufer aber ist verzweifelt. Wie ein Burgschauspieler ruft er in die Kreuzberger Nacht mit klarer Stimme und Aussprache »IHR SEID ALLE HELDEN, IHR ARSCHLÖCHER. HELDEN SEID IHR«.

Pfingsten

Ein Freund lädt mich ein, die Pfingsttage und seinen Geburtstag bei ihm zu verbringen. Noch nie in meinem Leben so schnell meine Tasche gepackt. Bin dankbar für jede Gelegenheit meine Straße zu verlassen. Wenn ein Penner klingeln würde und mir anböte, seine Parkbank mit ihm zu teilen – ich würde mitgehen! Habe dem Freund  versprochen, alle meine botanischen Fähigkeiten aufzufahren und mir seinen Balkon gründlich vorzuknüpfen. Es dauert einen ganzen Tag, den Kladderadatsch aus den Töpfen zu reißen, zu entrümpeln, am Abend blühen bereits die neuen, frischen und gesunden Pflanzen in sauberen Töpfen mit erneuerter Erde. Balkondinner mit karierter Tischdecke, ich habe gekocht, die Haut ist noch braun von der Seeluft und es rieselt immer noch Sand aus den Hosentaschen. In der Nacht gehen wir raus, kaufen uns Eis am Stil und spazieren, bis wir nicht mehr können. Sorgloses Schweben irgendwo zwischen Ostsee und Ostberlin.

Dienstag

Der Schreibtisch ist voll mit Post. Mein französischer Nachbar, der die Wohnung hütet, wenn ich die Monate am Meer verbringe, und auch sonst immer für mich da ist, hat einen Stapel Post für mich abgelegt. Meine türkische Haushaltshilfe hat die Wohnung während meiner Abwesenheit blitzblank geputzt und ebenfalls einen Poststapel angelegt. Zusammen mit den Stapeln von vor Corona sitze ich wie ein Beamter hinter Aktenbergen, Manuskripten und ungeöffneten Briefen. Muss die Fahnen für das nächste Buch korrigieren und ein schönes, langes Gedicht lesen, eine Autorin hat ihr Buch geschickt, sie bittet um eine Empfehlung, und ich aber habe keine Konzentration, sondern sitze an meinem Tisch und höre Musik. Schreibe eine Kolumne und entschließe mich, die Pakete von den verschiedenen Poststationen abzuholen. Am Abend setze ich mich wieder an den Schreibtisch und weiß nicht, wo anfangen. Lesen, aufräumen, abheften? Ich höre wieder nur Musik.

In der Nacht, ich bin zum Schlafen in die kleine, hintere Kammer gezogen, die in den ruhigen Hinterhof rausgeht, wache ich auf und finde, dass die Kolumne, geschrieben am Tag, totaler Murks war. Stehe auf und arbeite bis morgens um acht und rufe den Redakteur an. Er macht mir keine Vorwürfe, sondern ersetzt den neuen Text im System.

Tagsüber bin ich müde, habe Kopfschmerzen und bin fest entschlossen, diese Stadt zu verlassen. Die Ostseefreunde senden mir einen Aushang für eine Wohnung. Im Laufe des Tages bekomme ich von anderen Freunden von der Küste erneut einen abfotografierten Aushang zugeschickt. Ich habe mir während der Coronatage mehrere Wohnungen und Hausprojekte an der Küste angeschaut. Bin fest entschlossen, Berlin zu verlassen. Wenn ich es jetzt nicht tue, wann dann. Bin 44 Jahre alt, will noch zwei Bücher schreiben und benötige nur einen Schreibtisch am Meer. Meine Berliner Wohnung wird für 750.000 Euro verkauft, verzichte unter diesen Umständen auf mein Erstkaufsrecht. Die Intendantin ruft an und bietet mir an, nebenan in ihre Wohnung mit einzuziehen. Bin sehr gerührt. Aber die Vorstellung, dass bis in die frühen Morgenstunden die ganze, komplette verrückte Theater- und Kunstwelt in der Langhoffschen Wohngemeinschaft sich die Münder fusselig diskutiert, während ich nebenan versuche, Schlaf zu finden und jede halbe Stunde im bunt bedruckten Pyjama auftauche und um Ruhe und Contenance bei der bekloppten Bagage bitte, verursacht Lachanfälle am Stück. Meine sehr liebe Wohnungseigentümerin verspricht, dass sie versuche, bei den Interessenten jene Käufer heraus zu sieben, die die Wohnung als Kapitalanlage benötigen. Damit wird das Viertel zwar gentrifiziert, aber ich könnte wohnen bleiben. Dank des Berliner Mietendeckels dürfte der Investor auch nicht wahllos herummodernisieren und die Miete erhöhen. Bei Käufern mit Eigenbedarf müsste ich sofort gehen und mir eine neue Bleibe suchen. Eine bezahlbare Wohnung in Berlin zu finden ist unmöglich. Vor allem, wenn man, wie ich, keine Zeit für so einen Quatsch hat. Wohnung suchen im Rudel, zusammen mit den ganzen Strebern, die schon zu Beginn der Wohnungsbesichtigung ihre Angebermappen den Vermittlern überreichen, wo sie ihr bürgerliches Angestelltenglück zusammen mit den Fotos ihrer verwöhnten, weil in der Petrischale gezeugten Kinder ausbreiten und sich als rechtschaffene, brave Mieter anpreisen, deren Eltern im Ernstfall als Bürgen einspringen können und die Miete übernehmen werden. Jetzt ruhen meine Hoffnungen auf einem raubtierkapitalistischen Investor oder Privatmillionär, der die Bude kauft, nichts erneuert und mich in Ruhe lässt.

Rest der Woche

Bin erschüttert von den Nachrichten aus Amerika. George Floyds Tod durch vier Polizisten, die ihn mit ihren Knien auf seinem Körper die Luft zum Atmen nahmen, ist grausam, erbarmungslos. Ich verstehe die Wut der Schwarzen in Amerika. Ich sehe ihren Protest, ihren Zorn, ihre überkochenden Seelen. Ich sehe die Bilder und denke: Zündet das Land an, ihr habt jedes Recht dazu! Sie nehmen euch die Würde, nehmt ihnen im Gegenzug die Sicherheit, in der sie sich wähnen und aus der heraus sie euch töten. Aber nein, ich weiß ja, es ist falsch. Sie spekulieren mit Wut und Hass und Zerstörung, sie rechnen damit, dass die Unterdrückten ausflippen. Was für eine armselige Regierung. Lese mit sehr großem Interesse die Artikel von Klaus Brinkbäumer, der vor Ort ist und berichtet. Ich wusste gar nichts von dem privatisierten Gefängniswesen, von der Struktur der Polizei. Lerne in diesen Tagen viel von ihm.

Wie so oft, wenn politische Missstände an die Oberfläche kommen, politisiert es beide Lager. Die Bürgerrechtsbewegung ist wieder aktiv, vereint und sichtbar, und die ebenso starke weiße Bürgerschicht, die glaubt, dass ihnen von Natur aus alles zusteht, kriegt Panik und fährt ihre Propaganda auf.

Habe die Beerdingung von George Floyd gesehen. Die starken, stolzen, gebrochenen Trauernden. Habe sehr geweint.

Wie immer die Frage, was tun? Was folgt aus alledem? Schrieb diese Woche einen Kommentar, in dem ich behauptete, dass Rassismus ein System ist, das willentlich und wissentlich installiert wird. Es geht darum, ungleiche Machtverhältnisse zu schaffen und zu stabilisieren. Weshalb der Kampf dagegen nur zu gewinnen ist, wenn die Gegenseite, die das System Rassismus stützt, etwas zu verlieren hat. Nämlich Ordnung, Sicherheit und Wohlstand. Die Apartheid wurde schließlich auch nicht aus Empathie abgeschafft.

Und die Kinder? Wie kann man Kinder sensibilisieren, sie immun gegen das Gift Rassismus machen?

Wir gehen immer davon aus, dass wir Kindern beibringen müssten, dass alle Menschen gleich sind. Aber für die Kinder ist das unter Umständen abstrakt, weil dieses Konzept sie überhaupt erst die Unterschiede sehen lässt.

Eine Leserin schrieb mir einen Brief als Reaktion auf meine Kolumne, der mich sehr verblüfft hinterließ. Und meine These bestätigte:

Sehr geehrte Frau Kiyak,

wie vermittle ich einem Sechsjährigen, der keine Vorstellung von »Normal« hat, Rassismus? Mache ich ihn damit nur auf Unterschiede aufmerksam, die ja nur in den Möglichkeiten in unserer Gesellschaft, aber nicht in den Personen bestehen? Kann er das nicht genau falsch herum aufnehmen? Noch ist er ganz unbelastet, glaube ich, von jeden Vorurteilen.

Er nimmt nicht einmal wahr, was eine »Behinderung« ist. Ein Maus-Beitrag über und mit einem Kind mit Down-Syndrom hat bei ihm nicht dazu geführt, zu erkennen, dass ein Kind mit dem Syndrom seine Schulklasse besucht.

Ich finde die Beobachtung wichtig. Ich glaube nämlich auch, dass die Kinder sehen, wie die Erwachsenen abwerten und diese Abwertungen in ihr Handeln und Wertsystem aufnehmen. Sie sehen das Verhalten und schließen daraus auf das segregierende Denken, so internalisieren sie es. Möglicherweise ist das in der Rassismusforschung zu Kindern schon längst untersucht und ein alter Hut. Ich glaube, dass Kinder Unterschiede nur dann wahrnehmen, wenn man ihnen eintrichtert, dass etwas »anders« sei. Eine Idee wäre ja auch, dass Kinder »von Natur aus« Vielfalt immer als normative Komponente eines Ganzen betrachten. Der Gedanke, dass ein Unterschied eine Abweichung oder Ausnahme darstellt, entsteht doch nur, wenn es jemand einem beibringt. Wenn man das Kind darauf konditioniert, die Differenz zwischen sich und dem Anderen als Andersartigkeit zu sehen, wird der andere zum Fremden, und Differenzen verlieren ihre Selbstverständlichkeit als eine zusätzliche Form von Gleichartigkeit.

Bis eben beschäftigten wir uns mit allen Einzelheiten des Coronavirus’, und jetzt machen wir dort weiter, wo wir vor Corona aufhörten. Die immer gleichen Themen: Rassismus, Demokratieverschleiß, Entsolidarisierung – die Gedanken kreisen wie ein Helikopter um die immer gleichen Fragen nach politischen Strukturen, gesellschaftlichem Wandel, ökonomischer Gerechtigkeit und zivilem Widerstand. 

Drei Monate hat die »Corona-Epoche« gedauert. Ich kann weder behaupten, dass die Zeit gut noch schlecht war. Sie war. Und damit ist sie wahrscheinlich am besten beschrieben. Die Berliner verhalten sich zumindest so, als wäre das Kapitel Virus-Pandemie Vergangenheit. Es herrscht Sehnsucht nach der alten Welt. 

Eine Leserin schrieb: »Quarantäne Tagebuch, schön und gut. Wann kommt denn endlich wieder die normale Kolumne?« Weiß zwar nicht recht, was mit normal gemeint ist, werde mir aber Mühe geben, nach der Spielzeitpause, wie gewohnt vierzehntägig und politisch, mit Normalität zu begeistern – versprochen!

Das Kapitel »Kiyaks Theater Quarantäne« wird hiermit geschlossen.

Danke fürʼs Lesen! 

Herzlich
Ihre Mely

Gestaltung: María José Aquilanti

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Mely Kiyaks Theater Kolumne gibt es seit 2013. Alle 14 Tage kommentiert die Schriftstellerin und Publizistin Mely Kiyak radikal unabhängig das Weltgeschehen. Die Kolumne kann man auch mit dem
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