Täglich Neues aus Nichtberlin

24. Mai

Laufe ein letztes Mal über den Strand und suche, so wie andere nach vierblättrigen Kleeblättern Ausschau halten, nach Fußabdrücken mit vier oder sechs Zehen. Bilde mir immer ein, dass das Glück bringen würde. Kann mir nicht vorstellen, dass ich die Einzige bin, die danach sucht.

Als Abschiedsgeschenk an die Insel suche ich mir zwischen all den Fußabdrücken, einen bestimmten Fuß aus, der besonders groß ist. Ich laufe parallel neben diesem anonymen Fuß her und drücke mit einer Muschel immer einen sechsten Zeh hinzu. Wer immer das sechszehige Füßchen entdeckt, wird sich bestimmt sehr freuen.

Adieu, liebe Insel, große Liebe.

23. Mai

Dass sich in deutschen Fabriken und auf deutschen Feldern massenhaft ausländische Arbeitskräfte mit Covid-19 ansteckten und die Zahl der Infizierten in deutschen Flüchtlingsunterkünften steigt, wird – machen wir uns nichts vor – wahrscheinlich nur deshalb berichtet, damit wir Deutsche uns nicht anstecken. Also aus Gründen der Fürsorge gegenüber der eigenen Bevölkerung. Würde es um Mitgefühl und Angst gehen, hätten sich die Ernährungsministerin, der Arbeitsminister oder irgendein anderes hochrangiges Mitglied der Bundesregierung längst dort blicken lassen.

Gibt es eine einzige Talkshow über die desaströse Lage ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland, moderiert von einem dieser Laberapparatschiks wie Maischbergerillnerwill und die übrigen Faselkonsorten mit Millionenvermögen?

Immer öfter habe ich das Bedürfnis mich von dieser politischen Gesprächskultur zu distanzieren. Die vergangenen Wochen wurde kaum über Auslandspolitik berichtet. Immer nur Corona, Corona, Corona und amerikanische Präsidentenhäme bis zum Überdruss. Trump hat dies gesagt und Trump hat das gesagt. Die haben in den USA eine sehr aktive und starke Bürgerrechtskultur. Die Minderheiten und Demokraten dort brauchen unsere geifernden Geilheitsnachrichten nicht. Wir aber könnten ein paar von diesen mutigen afroamerikanischen, latino und anderen Minderheiten-Hardcore-Demokraten-Widerständlern hier sehr wohl gebrauchen.

Wie sehr man sich doch an den Fehltritten ausländischer Politiker ergötzt. Als hätten wir keine Populisten, keine Demagogen, keine gefährlichen Kräfte in der Politik. Langfristig gesehen haben sich unsere heimischen Demagogen immer als die größere Katastrophe herausgestellt.

Bis auf die Süddeutsche Zeitung (und natürlich Ostsee-Zeitung und Nordkurier) fasse ich ja eigentlich nichts Deutschsprachiges während der Corona-Pandemie an. Habe aber aus Versehen heute ein paar Minuten auch andere Zeitungen gelesen, und da brodelt mir wirklich die Galle über.

Wann befreien wir eigentlich endlich die Flüchtlinge aus den griechischen Lagern? Portugal nimmt ohne größeres Geschiss zu machen 500 Minderjährige auf. Wir haben nach monatelangen Diskussionen 47 Kinder geholt.

Ich sollte mir wirklich angewöhnen privat nur noch den Ottokatalog durchzublättern. Gibt es den noch?

22. Mai

Treffe meine Vermieterin am Strand. Das ist ohnehin das Schönste in den letzten Wochen gewesen. Dass ich fast immer die gleichen Freunde und Bekannten am Strand sehe. Jeder versucht sich mit Spaziergängen vor und nach der Arbeit beweglich zu halten und so ist die große und weitläufige Insel zu einem kleinen Dorf geschrumpft. Ich grüße jetzt Menschen, die ich gar nicht kenne, die aber zu Bekannten geworden sind, weil wir uns täglich begegnen.

Meine liebe Vermieterin erzählt mir, dass ein paar Meter weiter eine tote Robbe angeschwemmt worden sei und nun am Strand liege. Es sei ein eindrückliches Bild, wie dieser massive Körper dort liege.

Ich will mir das natürlich unbedingt selber ansehen. Denke aber auch die ganze Zeit, wenn das mal nicht Ai Weiwei ist.

21. Mai

Ich werd’ verrückt! Duftveilchen mitten in der Düne!! Das sah ich gleich heute früh, auf meinem Achtuhrdreißig-Spaziergang. Morgens entdecke ich für gewöhnlich nie etwas. Fühle mich jedenfalls wie Carl von Linné.

Ansonsten: Eine halbe Stunde in der DHL-Beschwerdeleitung gehangen. Alle paar Sekunden werde ich auf das kommende Gespräch vorbereitet, indem man mich immer wieder daran erinnert, dass »coronabedingt« dies und »coronabedingt« das. Mit anderen Worten, ganz egal welchen Missstand ich dem nächsten frei werdenden Mitarbeiter mitteilen werde, die Ursache ist der Virus und es hat nichts damit zu tun, dass dieses Unternehmen einfach zunehmend unzuverlässig und teuer ist.

Das Paket nach München ist verloren gegangen. Ich schildere mein Problem der Servicemitarbeiterin und diktiere ihr die Sendungsnummer. Sie aber teilt mir mit, es sei »erfolgreich« zugestellt worden. Ich antworte: »Es ist nicht angekommen. Um nicht zu sagen, es ist unerfolgreich zugestellt worden«. Daraufhin Schweigen in der Leitung. Ich sage: »Hallo, Hallooo? Sind Sie noch da?« Die Frau in der Reklamationsstelle: »Dann hat sich der Vorgang doch geklärt. Danke für Ihren Anruf und einen schönen Abend.«

20. Mai

Heute lief ich, wie an jedem anderen Tag auch, diesen einen bestimmten Strandaufgang zurück ins Haus und musste, ebenfalls wie immer, vor dieser einen bestimmten Kiefer in die Knie gehen. Sie hat einen Knick im Wuchs und also verbeugt man sich vor ihr und tänzelt untendrunter durch. Und wie ich das so mache, bin ich auf einmal elf oder zwölf Jahre alt und in meinem alten Dorf in Kurdistan in der Provinz Bingöl. Das Dorf hieß damals glaube ich Karaş,ein Wahnsinns-Ort, umgeben von einigen Dreitausendern. Ich bin von meiner Herkunft her also eher ein Bergbürschli denn ein Citygirl. Warum ich nicht mehr weiß, wie es hieß? Ganz einfach. Das Dorf wurde allein während meiner Lebenszeit dreimal zerstört, neu kartografiert und umbenannt.

Ich bückte mich jedenfalls unter dem Ast eines Baumes hindurch und war wieder zwölf oder so, und spürte ganz genau wie ich damals war. Ich spürte auch, wie es damals alles war.

So etwas ist mir noch nie passiert. Dass eine Bewegung mich in meine Vergangenheit zurückversetzt. In dem Karaş-Moment war ich das spindeldürre Mädchen von einst, sehr beweglich und flink. Ich wusste genau, was ich gleich machen würde: Wasser in die Zinnkannen pumpen und sie nach Hause schleppen. Hinter dem Zweig mit dem Knick war nämlich die Wasserstelle. Und eine der goldenen Alltagsregeln von damals lautete: Niemals mit leeren Händen vom Brunnen nach Hause zurückkommen. Nur so hat man immer genug Wasser im Haus. Wir waren viele und jeder einzelne trank soviel wie ein Wasserbüffel.

Ich war richtig schön in Gedanken. Auf einmal klingelt mich ein Tourist energisch vom Fahrradweg runter und ich höre wie er im Vorbeiradeln zu seiner Radelbegleitung sagt: »Die ham misch für zwelf Tage im Vöräus zöhlen lössen, ünmenschlisch ist dös!«

19. Mai

Mein Quatschmacherfreund Hartmut El Kurdi denkt sich immer wieder neue Namen für mein Domizil in Mecklenburg-Vorpommern aus. Heute schrieb er und fragte, ob ich immer noch »auf der Krim« sei. Ja, bin ich. Packe aber bereits die Koffer. Von kommendem Montag an dürfen Touristen aus allen Bundesländern ins Feriengebiet einreisen und Nervosität schwirrt deshalb durch die Luft wie Mücken durchs Feuchtgebiet.

Die Pensionswirte und Hoteliers machen jetzt alles schön. Was man halt unter Schönmachen versteht. Ich finde ja immer, hier ist alles schön, aber nur so lange keine Menschenhand etwas »schönmacht«. Es wird hier aber häufig die Ansicht vertreten, dass der Rasen auf Neonazihaarschnittlänge runtergemäht und die Hecke durch Schnittarbeiten so weit kastriert werden muss, dass man sich eigentlich auch eine Plastikattrappe hinstellen könnte. Es handelt sich also weniger um Gartenarbeiten im Sinne von Gartenarbeiten, denn Gärten gibt es hier nicht, weshalb es auch keine Gärtner gibt. Arbeiten wie diese laufen unter »Hausmeistertätigkeit«.

Schleswig-Holstein, das genau wie Mecklenburg-Vorpommern über diese sehr besondere Landschaft aus Seen und Flüssen, Wäldern und Feldern und Naturschutzgebieten besteht, hat eine berühmte Gartenbaukultur. In Schleswig-Holstein beginnt das freundliche Entree einer Unterkunft schon vor dem Zaun und dahinter herrlichste Gärten, wohin das Auge blickt. In Mecklenburg-Vorpommern heißt Garten: Rasen, Steine, und »Gestaltungselemente« aus der Rumpelkammer. Ein Klassiker ist die mit Stiefmütterchen bepflanzte Schubkarre, Badewanne oder Kloschüssel.  Auch beliebt: zentral auf der Rasenfläche eine Raute mit Kieselsteinen markieren und dahinein der Blumentopf der Saison. Primel, Veilchen oder Krokus. Aber nur EINS!

Diese Nichtgärten also, die wirklich aus mehr Beton und Stein bestehen, denn aus Lebendigkeit, werden mit schwerem, elektrischen Gerät besägt und beschnibbelt, gebrannt und geflext. Überall wo sich etwas Grünes aus einer Ritze windet, wird gnadenlos draufgehalten und weggeätzt. Dementsprechend laut ist es. Denn Gartenarbeiten werden vorzugsweise um 7 Uhr begonnen, um 9 folgte die erste Pause und dann geht es erst wieder weiter in der Mittagszeit. Das wird auch so beibehalten, wenn die Feriengäste kommen.

Ich bin ja im Ausbildungsberuf Fastgärtnerin und habe gelernt, dass man mittags nichts runterschneiden darf und schon gar nicht darf man bei grellem Sonnenschein den Rasen mähen, weil er auf der Stelle austrocknet. Hier aber macht man es, und wo man schon einmal dabei ist, wird in der Hitze auch noch gegossen, weshalb die Pflanzen verbrennen. Abends in der kühlen Dämmerung wird aber nicht gemäht, geschnibbelt oder gegossen, weil die Arbeiter längst im Feierband auf dem Festland sind.

Am Mittag lief ich durch die Straße, die die Hotels von der Düne trennt, und sah, dass auf der Düne Bäume gefällt wurden. Es sind zufällig genau die Bäume, die eine freie Sicht auf die Ostsee versperren. Wenn die Gäste aus dem Hotelzimmer nach Norden schauen, werden sie statt der Bäume das Meer sehen.

So ist es hier oft. Nach einem Sturm beschädigen die Hoteliers die Bäume selber und behaupten dann, es wäre der Sturm gewesen. Dann kommt jemand und sägt alles runter. Oder man hat durch G’spusiwirtschaft Kontakte zu den jeweiligen Stellen, die dann kommen und den Wald hinter der Düne fällen, so dass man später im Hotelprospekt angeben kann: Mit Meerblick.

Vor vier Wochen gab es ein starkes Unwetter. Der Sturm drückte das Meer bis hoch auf die Düne. Ohne die Bäume wären die Wassermassen direkt in die Häuser reinlaufen. Ich schaute vom zweiten Stock aus dem Fenster und konnte trotz Düne und Wald bald nichts mehr sehen, weil das Meerwasser die Fenster runterlief.

So schaut man sich halt alles an und schweigt.

Ich bin bald weg und komme wieder, wenn die Herbstwinde die Ostsee hochpeitschen werden.

18. Mai

17. Mai

Hörte, dass die Autokonzerne vorschlugen, der Staat möge jedem Autokäufer 6000 Euro schenken, wenn dieser einen Neuwagen kauft. Man nennt das Modell natürlich nicht »Geschenk« oder »Absatzhilfe« oder »Betreutes Wirtschaften«, sondern »Prämie«. Wer hier wen prämiert ist etwas unklar, das ist sicher auch die Idee hinter der Wortschöpfung.

Wenn die deutsche Automobilindustrie möchte, dass man Autos kauft, könnte sie den Preis ihres Produktes um 6000 Euro senken. Machen die anderen schließlich auch so. Den Absatz kurbelt man durch Angebote an. Nur die Autokonzerne missverstehen den Staat als Bezahlgaranten in einem System, wo die Anteilseigner Dividenden kassieren, und gleichzeitig der Steuerzahler gemolken wird. Die Automobilindustrie ist wie die Landwirtschaft ein Wirtschaftszweig, der mit Subventionen auf der Grundlage von Umweltzerstörung ein System installiert hat, bei dem die Allgemeinheit für die Infrastruktur sorgt, repariert und rettet und immer, wirklich immer zahlt. Die Steuerzahler zahlen in guten Zeiten. Sie zahlen in schlechten Zeiten. Sie bezahlen unabhängig davon, ob sie ein Auto fahren oder nicht.

Sobald alternative Vorschläge für eine neue Wirtschaftsform gemacht werden, werfen die auf diese Art Subventionierten – die überhaupt nur deshalb überleben, weil alle in diesem System für sie löhnen – einem vor, man sei Kommunist, Sozialist oder was auch immer sie an ihrer privaten Business-Uni als Feindbild gehirngewaschen bekommen haben.

In der Süddeutschen Zeitung steht, dass bereits für den 19. Mai die Auszahlung von 1,65 Milliarden Euro an die Aktionäre vorgesehen ist, das meiste davon an die Großeigentümerfamilien Quandt und Klatten. Wenn der Steuerzahler nicht zahlen würde, ginge diese Industrie nicht kaputt. Sie würde nur etwas weniger verdienen und ihre Energie statt aufs Betteln in die Entwicklung nachhaltiger Zukunftstechnologie stecken.

Sonntagstelefonat mit dem Vater. Heute dürfen die Alten, im Gegensatz zu vergangenem Sonntag, da waren es nur vier, sechs Stunden raus. Von 12 – 18 Uhr gilt die Spazierstunde für die Senioren, die nur aufrecht gehen dürfen, nicht aber sitzen, dösen, lümmeln. Als wir um elf Uhr telefonierten, betrug die Temperatur bereits 37 Grad im Schatten. Mein Vater regt sich auf. Warum nur dürfen sie nicht am frühen Morgen raus, wo die Luft noch frisch und kühl ist? Er mutmaßt: »Ich denke, sie wollen uns mit dieser Regelung töten.«  Mit verschwörerischer Stimme erzählt er mir, dass er beschlossen habe, aus Protest gegen diese Regelung zu Hause zu bleiben und die Ausgangserlaubnis nicht zu nutzen.

Ich antworte: Vater, Du driftest ab. Geh raus und lüfte den Kopf.

Heiseres Gelächter am anderen Ende der Leitung.

16. Mai

Neue Grenzziehungen auch im Sand. Die Nackten und die Hunde haben jetzt wieder zwei benachbarte Strandabschnitte.

Jede Saison aufs Neue ungläubiges Staunen über die baumelnde Unbeschwertheit deutscher Touristen, die ihre Freizügigkeiten schwenkend und flatternd vorführen.

Zwei Männer und eine Frau spielen nackt im Sand Boule. Sie beugen sich tief herunter und lassen die Kugeln rollen. ICH WERDE MICH NIEMALS AN SOWAS GEWÖHNEN. Wünschte, sie würden sich den Nasen-Mundschutz auch unten ranhängen.

Ich schaue stoisch auf den Boden. Und weiß nun endlich, woran mich der Sand erinnert, wenn er, wie am heutigen Tag nicht feucht, aber doch etwas klamm ist. Es ist, als würde man durch Dinkelvollkornmehl gehen.

15. Mai

Der erste Spaziergang seit längerem. Nicht lang, aber lang genug, um sehen zu können, dass der Tourismus »langsam hochfährt«, so lautet die offizielle Bezeichnung für die alte Situation vor Corona. Die Strandkörbe stehen schon in Reihe. Zwei Kinder schwimmen im Meer. Neuerdings schallen von den leeren Wachttürmen der Rettungsschwimmer Durchsagen, die die aktuelle Luft- und Wassertemperatur verkünden. Sie werden zentral gesteuert und wirken nicht nur deshalb etwas gruselig, weil noch niemand da ist, sondern auch, weil die Geisterstimmen supergut drauf sind: »Die aktuelle Wassertemperatur beträgt gemütliche 10 Grad. Nachher kommt ein Gewitter. Dann wird es auch von oben nass. Einen schönen Tag, hahaha…« Knatterknatter, knirsch, Lautsprecher aus. Sogar die Möwen schauen fassungslos.

14. Mai

Im Türkischen sagt man, wenn man die Gläubigen auf die Palme bringen will: Allah’ın sopası vurdu. Frei übersetzt: »Gottes Knüppel schlug zu«. Das bringt die Gläubigen deshalb auf die Palme, weil es alle paar Jahre in der Türkei eine ernsthafte Diskussion darüber gibt, ob Gott einen Knüppel hat und wie schnell er damit zuschlagen kann. Mit dem Zuschlagen sind politische, meteorologische oder persönliche Katastrophen gemeint. Geduldig erklären die Theologen dann im Radio oder im Fernsehen, dass Gott keinen Knüppel habe (»Allah’ın sopası yok«), dass er sich die Vergehen der Menschen merke und später Gerechtigkeit walten lasse. Wie, wann, wo, darüber gibt es langwierige, theologische Debatten.

Wenn Leute wie ich »Gottes Knüppel« in den Mund nehmen, dann natürlich nur als Zitat auf diese in allen Konfessionen erörterte Frage, ob es sich bei Gott um einen liebenden oder strafenden Gott handelt. Meistens hat man trotzdem eine überflüssige Diskussion irgendeines theologischen Amateurs am Bein, der einem doziert: Er sei kein mitfühlender sondern ein gerechter Gott, blabla…, was sich die Leute halt so vorstellen und wünschen.

Die Wahrheit ist: Bei mir schlug der Kerl knallhart zu! Der Grund ist ganz einfach: Wochenlang gab ich an, gesund und glücklich zu sein, die  Ausgangsbeschränkungen bestens zu überstehen, und nun komme ich nicht mehr auf die Beine. Ich kann es mir nur so erklären, dass Gott mir mal so richtig schön eine Lektion erteilen wollte und mich deshalb gerade nach Strich und Faden genüsslich durchknüppelt.

Kriege von Mecklenburg-Vorpommern gerade nichts mit.

10. Mai

Wie immer am Sonntag, Telefonat mit dem Vater. Die türkische Regierung konnte sich dazu durchringen, die über 65-Jährigen nach sage und schreibe SECHS Wochen für vier Stunden an diesem Sonntag rauszulassen. Der Rest der Bevölkerung sollte dafür in dieser Zeit drinnen bleiben.

Die Ausgangszeit betraf die Siesta, also zwischen 11 und 15 Uhr, wo man die Mittagshitze meidend, eigentlich im Haus bleibt. In manchen Gegenden sind es Mitte Mai bereits über 30 Grad im Schatten. Zudem ist Ramadan, meinen Vater betrifft es nicht, weil er kein Muslim ist, aber die Mehrheit der Türken sind Muslime und viele fasten.

Mein Vater, schwer krebskrank und alt, durfte also nach sechs Wochen in der sengenden Mittagshitze, alle Kioske und Läden zu, Wasserkauf nicht möglich, raus. Er sagt, dass er sich nach der ersten Viertelstunde kaum auf den Beinen halten konnte, auf eine Bank konnte er sich nicht setzten, die hatten sie alle abgeschraubt, denn man darf nur laufen, nicht sitzen. Er wohnt direkt am Meer, aber er durfte auch nicht ins Meer, wie gesagt, sie sollen nur laufen.

Nach einer halben Stunde hat er aufgegeben. Er sagt, er konnte nicht mehr. Es war zu heiß. Er hat nur noch einen Teil seiner Lunge, durch den Mundschutz konnte er nicht atmen. Seine Frau ist jünger als er und durfte ihn nicht begleiten. Allein schaffte er es nicht.

Er sah, wie eine alte Frau sich unter einen Baum hockte. Ein junger Polizist sprang auf sie zu und versuchte sie zu verscheuchen. Sie sagte: Mein Sohn, lass mich nur kurz, ich faste, mir ist nicht gut. Er gab ihr mit der Hand zu verstehen, sie solle sofort aufstehen. Als sie wankte, wollte mein Vater sie stützen, auch er holte sich einen Rüffel.

Fluchend und schwitzend bin ich nach Hause zurückgegangen, Tochter. Besser sie verbieten es uns rauszugehen als so.

Ich finde, der Vater hat Recht. Was für eine sagenhafte Respektlosigkeit! Früher konnte man gegen die türkische Gesellschaft sagen, was man wollte, aber eines war sie mit Sicherheit nicht: Sie war den Alten gegenüber nicht herzlos, sondern solidarisch und dankbar. Aber seit der König im karierten Jackett regiert, hat diese Gesellschaft selbst den Respekt vor Alten, vor Kindern, vor Trauernden, vor Kranken verloren. Was ein jahrzehntewährender Bürgerkrieg nicht schaffte, hat der König geschafft.

7. Mai

Morgen ist der 8. Mai. Habe heute schon keine Lust auf die Reden von morgen.

Vor 75 Jahren mussten die Deutschen und ihre mörderische Kriegslust von den Alliierten zur Kapitulation gebombt werden. »Tag der Befreiung« heißt das Ereignis. Wieder einer dieser Begriffe, die letztendlich nur entlasten. Denn Täter kann man nicht befreien. Nur Opfer.

In der Ostsee-Zeitung ist man sehr aufgeregt. Großer Artikel. In Lassan haben sich ein paar Bürger engagiert, das Schützenhaus soll wieder »piekfein« werden, titelt die Zeitung. Das Bundesland unterstützt das Vorhaben mit einer Million Euro. Die schöne alte Zeit wird mit zwei historischen Aufnahmen bebildert. Auf dem einen Foto sieht man einen großen Saal mit riesigen Hakenkreuzen beflaggt. Bildunterschrift:

Auf dem Foto ist die kunstvoll aus Holz gestaltete historische Saaldecke zu sehen.

Was mich natürlich bei dieser ganzen originalgetreuen Restaurierungsstory am Vorabend des 8. Mai interessiert: Wird man den Saal wieder mit Hakenkreuzfahnen dekorieren?

5. Mai

Werde ein paar Tage nicht lesen und schreiben können. Nehme mir die ganze Woche bei allen Verlagen frei.

4. Mai

Jedes Mal das gleiche seltsame Phänomen: Gesund zum Arzt und krank zurück. Fühle mich seit einigen Tagen nicht gut.

1. Mai

Wir haben in diesem Land erstklassige Mediziner und Medizinhistoriker, Theologen, Philosophen, Intellektuelle, Nobelpreisträger, wirklich vorzügliche Denker, Wissenschaftler, Forscher. Aber sie werden der breiten Öffentlichkeit nicht präsentiert. Um solche Leute ins Fernsehen zu bringen, müssten die Gesprächsbedingungen geändert werden und sicher auch die Formate. Man müsste den klugen Menschen rote Teppiche ausbreiten. Aber das ist ein Gedanke, der ARD und ZDF fremd ist. Der Tiefpunkt der Debatte war erreicht, als Reiner Calmund bei Sandra Maischberger auch noch etwas zu Corona sagen durfte (»Gesundheit geht vor«).

Was ich auch nicht verstehe: Viele der aktuellen politischen Maßnahmen wurden damit begründet, dass man die Alten und Kranken schützen wolle. Dass damit genau genommen gemeint war, das Gesundheitswesen, also die Krankenhäuser, nicht zu überfordern – geschenkt! Nun würde mich natürlich interessieren, wie viele der Corona-Hilfsmilliarden eigentlich den Kranken und Alten zugute kamen, beziehungsweise dem Gesundheitssystem. Dass der Gesundheits- und Pflegesektor so knallhart und brutal nach ökonomischen Kriterien durchrationalisiert wurde, war doch mal ein Thema, und ausgerechnet jetzt nicht mehr? Wenn Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern in Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegeeinrichtungen die Nerven besäßen und heute, am 1. Mai, ihre Arbeit niederlegen würden, ha!

Arbeitsminister Hubertus Heil hat angekündigt, das Kurzarbeitergeld erhöhen zu wollen. Doch warum gibt es soviel Kurzarbeit? Sind die Kapazitäten in den einzelnen Bereichen wirklich so desolat runtergewirtschaftet, dass der halbe öffentliche Sektor und die ganze Wirtschaft zusammenbricht, wenn für vier Wochen alles runtergefahren wird? Hieß es nicht immer, dass Steuererhöhungen für Konzerne unproduktiv seien, weil sie die Überschüsse re-investieren müssten und für schlechte Zeiten was auf die hohe Kante legen wollen? Und da ist nichts mehr von übrig, wenn für vier Wochen mal Pause ist? Wären alle diese privaten und öffentlichen ökonomischen Zweige jetzt in der Insolvenz, wenn der Staat nicht mit Milliardenkrediten eingesprungen wäre? Beängstigend irgendwie.

Alle gehen in Kurzarbeit. Wirklich alle. Nur diese Maischberger nicht.

30. April

Vergangene Woche sind 47 Kinder aus den griechischen Lagern (ich glaube, aus Moria auf Lesbos) in Deutschland angekommen. Die restlichen 40.000 Flüchtlinge harren weiter aus. Ich warte seitdem immer, dass noch etwas passiert. 47 werden doch wohl kaum – vor allem jetzt in Zeiten der Epidemie – das letzte Wort in der Flüchtlingspolitik sein? Seit März werden auf fünf griechischen Inseln insgesamt fünf neue Flüchtlingslager (»Registrier- und Abschiebezentren«) gebaut, die dazu dienen sollen, die Flüchtlinge schnellstmöglich in die Türkei zurückzuschicken. Scheint gerade eine Art politischen Stillstands in der Flüchtlingspolitik zu geben. Warum das so ist, erschließt sich mir nicht. Eine Debatte findet darüber nicht statt. Nennenswerter Protest in der breiten Bevölkerung ist ebenfalls nicht zu hören.

Derweil las ich, dass am Grenzübergang in der Ortschaft Pilszcz in der Woiwodschaft Oppeln, also der polnisch-tschechischen Grenze diese Woche das erste Mal geschossen wurde. Ein Deutscher wollte die Grenze überqueren, die polnischen Soldaten gaben zwei Warnschüsse ab und überwältigten den Mann. Das Schengen-Abkommen ist derzeit wegen Corona ausgesetzt. Für die Flüchtlinge bedeutet es, dass nun auch dieser Weg abgeschnitten ist. Vor Corona wurde wenigstens nicht geschossen. Aber wenn jetzt schon Schüsse abgegeben werden, werden die Geflohenen endgültig zu Gefangenen in europäischen Lagergefängnissen. Statt eine Lösung für ihre Rettung zu finden, werden noch mehr Lager gebaut. Irgendwann wird sich herumsprechen, dass ein Ausbruch aus den Lagern lebensbedrohlich ist, weil die innereuropäischen Grenzen nicht nur geschlossen sind, sondern auch mit Waffen verteidigt werden. Angesichts dieser Perspektive erklärt sich die hohe Suizidrate der Lagerinsassen und wird die Gefahr deutlich, dass sie signifikant steigen wird. Die Norwegerin Katrin Glatz-Brubakk von »Ärzte ohne Grenzen« erzählte in einem Interview, was man auch andernorts schon häufiger nachlas. Die Suizidrate bei Kindern sei gestiegen: »Ich erlebe ganz kleine Kinder, bis zu Zweijährige, die sich selber beißen oder sich Haare ausreißen, weil sie so traumatisiert sind, dass sie nicht mehr wissen, wohin mit sich und ihren Gefühlen. Es sind Kinder, die sich total unreguliert verhalten. Manche schlagen den Kopf gegen die Wand.«

29. April

Madame Gabrielle aus meiner örtlichen L’Épicerie schenkte mir ein Glas Corona Bohnen. Kannte die Sorte gar nicht. Weiße, dicke Bohnen mit einem voluminösen, herrlichen Geschmack. Ohne ihren Lebensmittelladen wäre ich hier schon hunderte Male umgekommen. Sie verkauft erstklassige Produkte aus der Region und den umliegenden Ländern und überhaupt: Betritt man ihren Laden, ist es, als betrete man ein anderes Mecklenburg-Vorpommern-Universum. Liebenswürdige Menschen mit Bock auf gute Lebensmittel. Seit heute herrscht im Bundesland Maskenpflicht auch in Geschäften. Wäre ich sie, würde ich mir auf meinen Mundschutz das Angebot der Woche im 50er Jahre Reklame-Stil sticken:

Ob Caramel oder Sardell’
Kaufen Sie bei Madame Gabrielle

28. April

Mein BRD-sozialisierter Freund Hartmut El Kurdi, größter Quatschmacher der Welt und im Nebenberuf Autor, schreibt mir, sobald ich den Osten betrete, ausschließlich bumslustige und ressentimentgeladene Nachrichten, von denen ich mich natürlich vollständig distanziere (und darüber kaputt lache).

Hab mir übrigens gestern Toast Hawaii gemacht. Gab’s Toast Hawaii in der Zone auch? Bestimmt. Hieß aber vermutlich Havanna Bemme. Dein Maik.

Diese Nachricht wiederum leitete ich in hetzerischer und spalterischer Absicht an meinen Dramaturgen Ludwig (DDR Stammbaum) weiter, der wie vermutet reserviert reagierte:

Der Zonenwitz ist natürlich nicht witzig. Wir hatten sehr wohl Toast Hawaii, aber es hieß in gepflegtem Revanchismus Karlsbader Schnitte.
Eingeschnappt: L

Sie sind beide so exorbitant bekloppt albern.

27. April

Das ganze Wochenende flogen Gänse in Keilformation über die See. Einheimische Bewohner meinten auf meine Nachfrage hin, das seien verspätete Graugänse, die längst in Skandinavien sein müssten. Rief heute, am Montag, beim NABU in Mecklenburg-Vorpommern an, weil mich natürlich interessiert, wer seit Tagen für dieses beachtliche Schauspiel verantwortlich ist und erfahre, dass die Graugänse längst weg sind. Die jetzt da oben im V oder in langen Ketten fliegen, sind die Europäischen Blässgänse, für die Mecklenburg (neben Brandenburg, Niedersachsen, die Niederlande und Belgien) ein großer Rastplatz zum Überwintern ist. Die Gänse kommen im September und fliegen im Frühling weiter zum Brüten nach Skandinavien oder in die Tundren. Und weil ich »den Martin« vom NABU schon einmal am Apparat hatte, fragte ich ihn, wie viele Arten Möwen denn an der Ostsee vorkommen und woran ich sie unterscheiden kann. Die Antwort: Es sind dutzende Arten. Eine Unterscheidung ist deshalb schwer, weil das Aussehen der Möwen sich bereits innerhalb einer Art voneinander unterscheidet. Je nachdem, ob es sich um ein Jungtier oder einen alten Knacker von Möwe handelt, sieht das Gefieder eisweiß, blassblau oder rabenschwarz aus.

Es war ein kurzes, aber aufschlussreiches Telefonat und genauso wünsche ich mir das. Man findet auf den Seiten vom NABU Namen und Telefonnummer, wählt, stellt zwei Fragen und kriegt kurze aber präzise Antworten. Und freundlich war er auch.

25. & 26. April

24. April

An der derzeitigen Debatte darüber, welche Einschränkungen gelockert werden sollen, lässt sich ablesen, auf welche Prioritäten sich die Gesellschaft geeinigt hat: Wirtschaft vor Bildung, Kommerz vor Kultur. Das müsste Anlass für die eigentliche Debatte sein: Was ist uns eigentlich wichtig?

Würde ich gerne mal diskutiert sehen. Am liebsten interdisziplinär diskutiert, von Psychologen, Philosophen, Ökonomen, Politologen und Kulturwissenschaftlern. Weil mich die Antwort interessiert. Bin nur ich es, die fest davon überzeugt ist, dass eine Bevölkerung, die möglicherweise weniger konsumiert, isst und Geld verballert, dafür aber mehr und bessere Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung durch Kultur und Sport hat, zufriedener sein wird? Hätte mir sehr gewünscht, dass die Bürger dazu eingeladen worden wären, draußen in den Parks, im Garten des Bundespräsidenten, vor dem Reichstag, in den Gärten der Staatskanzleien und anderswo zu lümmeln. Stattdessen ist die Polizei den Menschen bis auf die Wolldecke und die Parkbank gefolgt und hat sie verscheucht. Die Kanzlerin hätte sagen können: Gehen Sie mit Ihrer Kernfamilie raus. Machen Sie ein Picknick. Alle Schlossgärten sind ab sofort geöffnet! Vielleicht hätten auch Privatgartenbesitzer ihre Gärten geöffnet. Damit auch die, die keine Balkone haben, Möglichkeiten zum Draußensein hätten. Mit solchen kleinen Maßnahmen ist es viel einfacher, der Bevölkerung andere Belastungen zuzumuten. Stattdessen, Rasenfläche betreten verboten. Kein Wunder, dass die Bürger mit einzelnen Lockerungen unzufrieden sind und jetzt das große Ganze haben wollen. Man kann die Menschen nicht fünf Wochen lang einsperren und ihnen dann sagen: Die Autohäuser sind jetzt wieder auf.

23. April

Im Laden sagte die Kassiererin heute, dass sie von der Geschäftsleitung den Ratschlag bekommen habe, sich mit Maske und Handschuhen zu schützen. Sie »kriege die Krise«, wenn sie das höre. Außerdem gehe sie fest davon aus, dass ab nächster Woche eine Maske auch im Lebensmittelladen Pflicht werde. Ihr Kommentar dazu: »Boah, nee, nä. Dann lieber tot«.

22. April

Die DHL-Fahrerin lässt den Motor laufen, springt aus dem noch nicht vollständig zum stehen gekommenen Wagen, klingelt, wartet eine Sekunde und wirft die Post dann über den Zaun. Ich sehe sie aus dem Fenster, das geht in Ordnung, wir haben es so vereinbart, mechanisch erwidert sie meinen Gruß mit einer flüchtigen routinierten Handbewegung, springt wieder ins Auto und rast mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit davon. Dieser Frau würde ich mein ganzes Vermögen anvertrauen, keine Paketfahrerin der Welt ist zuverlässiger als sie.

Natürlich kommt alles um Wochen verspätet an. Wenn es einen Unterschied zwischen der Vor- und der Nachcoronazeit gibt, dann, dass die Pakete noch länger brauchen als sonst. Die Post teilte in einer Stellungnahme zu der Situation mit, man habe nicht damit rechnen können, dass der Postverkehr zunehmen würde, wenn es den Menschen nicht mehr gestattet sei ihre Häuser zu verlassen.

Die Geburtstagssträuße sind einer nach dem anderen angekommen und blühen wie verrückt. Ein Gratulant hat sich den Spaß erlaubt, mir fünfzig Lilien zu senden. Es sind die weißen, von denen bereits eine Blüte in der Lage ist, einen Raum mit 100 Quadratmetern intensiv zu beduften. Diese Lilienblüten, hunderte (!), gehen eine nach der anderen auf und ich kann von Glück sagen, dass die Gesichtsmasken, die im Gorki in der Kostümabteilung genäht wurden, mich endlich erreichten. Lutz ist extra für mich ins Theater gefahren und hat mir zwei gesendet. Jetzt wandele ich mit Gesichtsmaske durch meine Blumensträuße.

21. April

Kommt mir so vor, als würden die Menschen um mich herum, bloß weil die Schulen, Baumärkte und Autohäuser wieder öffnen, erwartungsfroh darauf warten, dass bald schon wieder alles beim Alten sei. Wie sehr die Gesellschaft sich an diese Anormalität namens Normalität doch gewöhnt hat. Mit Normalität ist die katastrophale und gnadenlos brutale Flüchtlingspolitik genauso gemeint wie die perverse Überproduktion unserer Waren, nur damit wir Exportweltmeister bleiben – diese ganze üble Art namens »das schöne, alte Leben«.

20. April

Heute wäre der Führer 131 Jahre alt geworden, wäre er noch am Leben. Sein Andenken immerhin wird hier in der nördlichen Ostzone sehr lebendig gehalten.
Jetzt kleben an den Laternenpfählen auch noch Aufkleber der Neonazi-Kleinstpartei III. Weg. Ich lebe und arbeite hier seit über zehn Jahren, aber im Moment ist es wirklich extrem auffällig, wie das Aufkleberaufkommen von Propagandamaterial aller möglicher Neonaziorganisationen täglich zunimmt. Mich eingerechnet sind es jetzt schon vier Frauen in meiner Straße, die sich auf die Zehenspitzen stellen und den Mist wieder abpulen. Die Blicke, die man dabei erntet, sind köstlich. Man wird angeglotzt, als hätte man in die Blumenrabatte geschissen und nicht etwa den öffentlichen Raum von verfassungsfeindlichem Unrat befreit. Was soll’s. Widerstand ist immer peinlich. Also weiter fleißig die Nägel ruinieren und die empörten Blicke von Tante Gerda und Onkel Hermann kassieren.

Das Licht abends ist derzeit so herrlich. Selbst wenn die Sonne untergegangen ist, bleibt bei wolkenlosem Himmel immer ein Streifen pulsierend kupferfarbenes Licht übrig, das wie über den Strand gegossen wirkt. Man schaut und ist froh, dass es etwas gibt, das erhaben, prächtig und der Weltgemeinheit trotzend über allem thront.  
Gläubig müsste man sein und als Dank für die ganze Schönheit eine Kerze in der El-Caffier Moscheegemeinde anzünden.

19. April

Im Nordkurier heißt die Schlagzeile: »Schaf auf Usedom geköpft«.
Die Ostsee-Zeitung titelt: »Unbekannte töten Schaf auf Usedom bestialisch«. Im Teaser geht es gleich weiter mit »grausam«. Die Geschichte dahinter ist, dass in der Nacht zum Sonntag auf der Insel Usedom ein Schaf mit verbundenen Beinen gefunden wurde. Kopf und Herz haben der oder die Täter mitgenommen.

Ist jetzt mein neues Hobby. Den Nordkurier mit der Ostsee-Zeitung zu vergleichen. Mir ist aufgefallen, dass es in beiden Zeitungen von Tiergeschichten nur so wimmelt. Die Ankunft eines jeden Vogels wird berichtet. Gefällt mir natürlich sehr gut. In einer meiner ganz frühen Kolumnen forderte ich mal (damals forderte ich in meinen Kolumnen immerzu irgendwas, weil ich dachte, dass sich das für Kolumnen so gehöre), dass in den Fernsehnachrichten die Fußballergebnisse der Bundesliga durch Vogelnachrichten ausgetauscht gehörten. Damit die Menschen begreifen, dass sie nicht alleine auf diesem Planeten leben. Sowieso ist es ja sehr interessant, wie die Vogelzüge kreuz und quer durch die Welt fliegen. Dafür kann man sich eigentlich gar nicht nicht interessieren.

Dass im Aldimarkt in Neubrandenburg die Scheiben mit Hakenkreuzen beschmiert wurden und deshalb der Staatsschutz ermittelt, konnte ich natürlich nur im Nordkurier lesen. Aus der Ostsee-Zeitung erfährt man so etwas nicht.

18. April

Internet geht wieder. Habe mir sofort zwei Literaturpodcasts angehört. In einem sagte ein Verleger, dass er wahnsinnige Angst vor den künftigen Manuskripten habe. Weil es in politischen Umbruchzeiten immer so sei, dass es Autoren gebe, die meinen, auf die Gegenwart unverzüglich künstlerisch reagieren zu müssen.

Mich interessieren Bücher grundsätzlich nicht, die mit dem Spruch »Das Buch zur Stunde« beworben werden.

Was mir in den letzten Jahren vermehrt auffällt, ist die seltsame Angewohnheit der Verlage, noch während sich ein politisches Ereignis ereignet, das begleitende Sachbuch zu veröffentlichen. Seit vier Wochen gibt es die Coronakrise. Und seit vier Wochen, wirklich, fast von Anbeginn an, bekomme ich Presse-News, in denen mir Coronabücher angeboten werden. Warum aber soll ich mir in einem Sachbuch erneut vortragen lassen, was ich als Realität gerade selber durchlebe? Und sind die Zeitungen – wirklich ausnahmslos alle – nicht ausschließlich mit Coronacrimscrams gefüllt?

Der Verleger sagte auch, die seltsame Angewohnheit, Corona-Tagebücher zu schreiben, könne er nachvollziehen. Aber als Buch veröffentlichen müsse man sie nicht.

Nein, dachte ich. Muss man nicht. Ich plane aus meinem schönen Theater Quarantäne Journal ein Theaterstück für 12 handelnde Figuren zu schreiben. Mely Kiyak wird von Iris Berben gespielt und die Tagebucheinträge vom Staatlichen Russischen Ballett Moskau getanzt. Premiere bitte am 3. Oktober. Wir dürfen nicht warten, bis das Thema durch ist. Das »Stück zur Stunde«.

17. April

Heute habe ich Geburtstag.
Fahre ins Tierheim und hole mir einen Chihuahuawelpen.

Ansonsten noch das:

Hoffnung
– von Tocotronic –

Hier ist ein Lied
Das uns verbindet
Und verkündet:
Bleibt nicht stumm

Ein kleines Stück
Lyrics and Music
Gegen die
Vereinzelung

In jedem Ton
Liegt eine Hoffnung
Eine Aktion
In jedem Klang

16. April

Post von Martin Laubisch, einem Leser der Theaterkolumne, bekommen. Er hatte mir im Winter schon einmal geschrieben. Wie es halt so ist. Man sendet sich ein paar Zeilen, bleibt lose in Kontakt, erinnert sich aneinander. Er habe, einfach mal so, aus dem Gedicht von Eva Strittmatter, das ich neulich veröffentlichte, ein kleines Lied gemacht. Auf die Schnelle, »zügig eingespielt, nicht groß gebastelt«, es habe »keine Studioqualität«. Das Notenblatt hat er mitgesendet. Alles selber komponiert und eingesungen. Dann habe ich es angeklickt, wohlwollend, interessiert, aber ich habe nichts ganz Großes erwartet – und was soll ich sagen: Sprachlos.

Musik © Martin Laubisch

15. April

Das Haus-Internet ist seit Karfreitag tot. Helfe mir mit meinem Handy aus, dessen Provider offenbar in mein Leben schauen kann. Er möchte mir 8 Gigabyte zusätzlich schenken. »Für meine Treue«. Dachte schon, weil ich hier so radikalnationalistisch indoktriniert werde, dass es für meine Heimattreue sei. Aber dann müssten es doch 88 Gigabyte sein, oder?

Ich bin erst seit einem Jahr bei diesem Anbieter unter Vertrag, und laut Unterlagen habe ich mich für ein weiteres Jahr verpflichtet. Nun aber 8 Gigabyte mehr, die ich dringend benötige, denn ich lade und sende täglich Manuskripte, Kolumnen, Bilder über eine fragile Bluetooth-Verbindung. Einzige Bedingung für das Geschenk: Sie dürfen meine Daten für Werbeangebote freigeben, und ich verpflichte mich ihnen darüber hinaus für noch ein weiteres Jahr. Ich klicke sofort alle Felder an, Zustimmen, Zustimmen, Zustimmen. Für 8 zusätzliche Gigabyte bin ich bereit mich bedingungslos hinzugeben.

Gustav Grøßzügig fällt mir ein, mein sehr alter Geliebter aus Norwegen, der mir versicherte, für eine Vermählung mit ihm alles zu tun. Er versprach mir ein Haus am Fjord mit Fischstäbchen um Mitternacht. Ich gab ihm einen Korb. Wenn er jetzt sehen würde, wie ich für 8 zusätzliche kostenlose Gigabyte meinen gesamten Wertekompass über Bord zu werfen bereit bin, und mich mit meinem Handyanbieter vermähle, würde er sich vor Trauer, mit schweren Gewichten an die Beine gekettet, in seinen Fjord werfen.

Rechne ab morgen damit, dass die stündlichen Werbeanrufe beginnen.

14. April

Obwohl Ludwig, mein Dramaturg, mit der redaktionellen Betreuung unserer Theater Quarantäne alle Hände voll zu tun hat, lässt er mich nicht im Stich. Er berichtet mir regelmäßig von seinen Berliner Spaziergängen – das kam heute an:

liebe mely, falls du den sogenannten »berliner humor« vermisst: hier ein fundstück von meinem gestrigen spaziergang in plötzensee. liebe grüße Ludwig

13. April (Ostermontag)

Scheint ein Aufkleber-Überbietungswettbewerb zu werden. Wenn ich hintenrum ins Dorf zum Bäcker gehe, muss ich an der »Allee der Blutzeugen«, so nenne ich den Weg jetzt, vorbeigehen.

Vorne an der repräsentativen Promenade, parallel zum Strand, verewigen sich die Jungen Nationalisten mit ihrem weinerlich kitschigen Kindergartenslogan »Heimatliebe ist Verpflichtung«. Wenn man ganz genau hinguckt, zeigt sich der ganze Humor der Kameraden. Das Büro des Presseverantwortlichen der Neonazi-Jugendorganisation der NPD ist in der »Geschwister-Scholl-Str.« zu finden.

Schöne Ostereier sind das, die ich hier im deutschesten aller deutschen Bundesländer seit Tagen finde.

Es ist einfach nur niederschmetternd, wie der demokratische Teil der Bevölkerung offenbar erst wieder tätig wird, wenn eines Tages ungehemmt die Hakenkreuzflaggen wehen werden. Obwohl, damals gab es auch keinen Widerstand, aber viel begeistertes Mitjubeln.

Dass sie an schönen Tagen Hakenkreuze in den Meeressand ritzen, erwähnte ich schon mal, oder?

12. April (Ostersonntag)

Beschissenes Osterfest. Vorgestern der Spitzelhelikopter. Gestern die Drohnen. Und über Nacht haben sie, wohl in Vorfreue auf Führers Geburtstag, wie Hunde, die an Baumstämme pinkeln, ihre Hitler-Verehrungs-Markierungen an die Laternen geklebt. Wenn ich zum Bäcker laufe, bin ich gezwungen, diesen Mist zu sehen und zu ignorieren.

»Unvergessene Kämpfer für Deutschland! Ihr Opfer verpflichtet uns zu bedingungsloser Treue«

B L U T Z E U G E N

In das Wort Blutzeugen haben sie die Fotos faschistischer Attentäter zwecks Heldenverehrung reinkopiert. Ludwig, mein Dramaturg, konnte Albert-Leo Schlageter identifizieren. Mitglied einer rechten Terrororganisation aus der Weimarer Republik, der hingerichtet wurde und von der NSDAP als »Erster Soldat des Dritten Reiches« verehrt wurde. Sind das die Helden des Ludendorff-Putsches? So oder so, purer Neonazikram, wie Ludwig treffend beschrieb.

11. April

Gestern kreiste den ganzen Tag ein Polizeihubschrauber über dem Strand. Karfreitag, Tag der Ruhe, Tag der Kreuzigung. Von wegen Besinnung und Feiertag. So etwas habe ich nicht einmal am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg erlebt. Die Hubschrauber-Zermürbungstaktik so nah über den Köpfen der Menschen, so unverschämt Polizeistaatsgeil, erinnert mich an die Türkei, auf dem Höhepunkt des türkischen Bürgerkriegs gegen die Kurden. Man konnte sich gestern mit seinem Spazierpartner nicht unterhalten, so laut war es. Vier volle Stunden umkreiste der deutsche Ausspähhubschrauber sage und schreibe 20 Spaziergängerpaare. ZWANZIG.

Ich weiß nicht, was in Mecklenburg-Vorpommern los ist. Es gibt hier die niedrigste Infiziertenrate Deutschlands. Die einzigen Leute, die hier die Seuche ein- und ausschleppen, sind die Bewohner des Bundeslandes selbst. Sie unterbinden jegliche Einreise von Menschen aus benachbarten Bundesländern, genießen aber selber  Reisefreiheit. Die Mecklenburger fahren in die Baumärkte und andere Läden nach Brandenburg, und kommen zurück. Mundschutz, Abstandsregel, pipapo, ich schwöre, nichts.

Die Ostsee-Zeitung tritt hier seit Jahren schon wie ein regierungstreues Blättchen auf, dass die »Alle Inseln dicht machen –Paranoia« eher befeuert als sie kritisch zu begleiten. Na gut, Ostseezeitung. Ist sowieso kein Journalismus, was da stattfindet, sondern eher eine Art Schwarzes Brett der düster-schwarzen Ost-CDU. Schon interessant, wie man hier gegen die rechtsextremen Terrornetzwerke nichts ausrichten kann, aber für 20 Spaziergänger die ganze Bandbreite staatlicher Beobachtungskunst auffährt.

Ausgerechnet der Nordkurier, der aus dem SED-Blättchen »Freie Erde« entstand, berichtet einigermaßen kritisch über die Spitzel-Mentalität des Bundeslandes. Danke Kollegen vom Nordkurier! Ehrlich: Ihr seid zur Zeit die einzigen hier oben, die so etwas wie politischen Journalismus versuchen. Bleibt wachsam und kritisch. Und verlegt eure Berichterstattung bitte auch etwas auf den Neonaziterror, der hier ungehemmt sein Unwesen treibt. Nicht Corona ist der Feind. Unsere Mitbürger sind es, die vom Totalitarismus träumen.

Die Leute am Strand starrten paralysiert auf den Hubschrauber. Ich dachte: Geschieht euch recht! Genau danach sehnt ihr euch doch! Polen zu, Brandenburg Grenze dicht, ganze West-BRD draußen und der Strand wird millimeterweise VIER STUNDEN AM STÜCK ausgespäht. Na los, zeigt doch noch eure Personlausweise hoch.

Keine Ahnung, wie man nach zwei Diktaturen so ungehemmt auf diese Polizeitaktik setzen kann.

So. Und heute am Samstag, ich hatte mich mühsam beruhigt, ging ich am Abend spazieren. Weil der Späh-Hubschrauber endlich weg ist, dachte ich, mache ich mal ein paar Schritte und sah drei in Uniform gekleidete Menschen, die auf der Spazierpromenade verzweifelt versuchen, ihre Drohne zu programmieren.

Leute, wirklich, das hat mit Demokratie, Rechtstaatlichkeit und einer sich nach Humanität, Gleichheit und Geschwisterlichkeit sehnenden Gesellschaft nichts mehr zu tun.

Drohnen!

Ich hatte schon davon gehört, dass hier Drohnen zur Überwachung eingesetzt werden sollen. Aber ich dachte, das ist, damit man Neo-Nazis aus Eliteeinheiten der Mecklenburgisch-Vorpommerschen Exekutive herausfischt.

Ich empfinde tiefe Verzweiflung über meine Gesellschaft.

10. April

Ich bin nachhaltig erschüttert bis entsetzt, dass es immer noch nicht aufhört, dass sich erwachsene Menschen während der Epidemie mehr denn je gegenseitig Tipps zur Lebensführung geben. In meinem Lieblingspodcast ging es neulich tatsächlich darum, wie man ein Klo putzt. Manche Online-Medien veröffentlichen stündlich neue Gebrauchsanweisungen darüber, wie man sich zu Hause ein Brot schmiert, wie der Sex gelingen kann, obwohl die Partner notgedrungen jede Minute miteinander verbringen, oder was man anziehen soll, wenn man mit seinem Arbeitskollegen eine Videokonferenz durchführt.

Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man wirklich denken, dass diese Nation eine Ansammlung von lebensuntüchtigen, debilen Bürgern mit Ganztagesbetreuungsbedarf ist. Wer es ab dem Auszug von zu Hause nicht begriffen hat, wie man sich anzieht und ernährt, wird es nie begreifen.

Kann gar nicht sagen, wie abgestoßen ich von Menschen bin, die Anleitungen zum Leben benötigen.

Mich hat auch diese elende zumeist weibliche Angewohnheit immer verrückt gemacht, dass sobald drei Frauen zusammensitzen, sie sofort beginnen, sich gegenseitig auszufragen und einander Tipps geben. »Also, ich mach es immer soundso und wie machst du es?« Man muss schon ganz schön auf den Kopf gefallen sein, um in einer wohlhabenden Industrienation mit kostenloser Gesundheitsversorgung und einem kostenlosen Bildungssystem nicht zu wissen, wie man sein Leben führen soll. Ich habe mich schon von Freundinnen getrennt, die mich gefragt haben, wie wäschst du dein Haar, wo gehst du einkaufen, wie machst du es mit deinem Geliebten Adalbert-Ahmed? Ich denke dann ausnahmslos immer: Das geht dich einen Scheiß an!

Diese Epidemie zeigt den Menschen zuweilen von seiner ungünstigsten Seite. Ist es nicht strunzpeinlich, dass einige lieber sterben würden, als ihren üblichen Lesungs- und Auftrittsscheiß nicht ins Internet zu verlegen. Scheinbar, um anderen etwas Gutes zu tun. Tatsächlich verrecken sie bei dem Gedanken nicht mehr stattzufinden.

Fresso mio, bin ich geladen.

Letzte Woche habe ich Small Town Boy im Gorki-Theater-Stream gesehen. Was musste ich weinen, als ich Thomas Wodianka sah, wie er diesen riesigen Monolog hielt, der in Wirklichkeit ein 1A-Wutausbruch über die bigotte, kaputte Welt ist. Wie er die Hände vor die Brust verkrampft, die Daumen ganz dicht aneinander, die Handflächen schauen nach draußen und dann losbrüllt: hysterisch und schrill und dann den Mund aufreißt und einen letzten, langen Schrei ausseufzt – Oh Gott, ich liebe es! Das ist ein echter Künstler. Der würde sich niemals selbstständig ins Internet stellen und betteln, hallo, hier bin ich, klick mich, klick mich.

Ich lobe normalerweise keine Gorkikollegen, weil das immer wie miese PR durch die Hintertür ist. Aber Wodianka ist ja jetzt in Zürich. Und außerdem liebe ich seine Kunst. DANN IST ES EBEN SCHEISS-PR!!! NA UND? Immer noch besser, als sich von Welt Online diktieren zu lassen, wie man bumst und sich ’ne Stulle schmiert.

9. April

Am schwarzen Brett der evangelischen Kirchengemeinde unten im Dorf werben sie für »Home-Office mit Gott«. Ich glaube, sie meinen beten. Vielleicht missverstehe ich es aber auch. Vielleicht meint der Hinweis tröstend, dass Gott überall da ist, wo auch der Mensch ist. Oder eher drohend, dass Gott alles sieht, auch und vor allem im Home Office? Fragen über Fragen. Grübeln mit Gott.

Beste Nachricht des Tages: Das Berliner Schloss brennt.
Schlechte Nachricht: Sie haben mit den Löscharbeiten begonnen.

8. April

Ich wartete draußen vor der Bäckerei in der Schlange. Vor mir stand ein etwas altmodisch gekleideter Neo-Nationalsozialist. In Österreich sehen die Neofaschos stets tippitoppi aus. Beste Klamotten, beste Frisuren, gepflegt in Auftritt und Sprache, vor allem sehr zeitgemäß, fast wie aus der GQ ausgeschnitten. In Mecklenburg-Vorpommern hinkt man dem Zeitgeist in doppelter Hinsicht hinterher: ideologisch und fashionmäßig. Hier himmelt man noch den Führer an und kleidet sich in der Neunzigerjahre-Version eines Vollblutdeutschen.

Der Neo-Nationalsozialist in der Reihe vor mir trug Glatze, Springerstiefel und hatte einen Haufen völkischen Wirrwarr auf den Körper tätowiert. Alles in allem sah er aus wie ein rassenideologisches Wimmelbild, tat breit und wichtig und drehte sich manchmal zu mir um. Ich ähnele sicher nicht den stämmigen, waschbeckenbreithüftigen Athletinnen aus einem Leni Riefenstahl-Film, doch mit etwas Fantasie könnte ich auch als Pakistanerin mit einem englischen Duke als Vater durchgehen, oder wie eine zu hell geratene Uigurin, mit einer isländischen Mutter – und ein süßer Seehund ist auch noch eingekreuzt. Phänotypisch also nur wie eine Viertelkanackin.

Der Neo-Nationalsozialist war  mit seiner Bestellung dran, also rückte ich unter Wahrung aller Abstandsregeln – nicht aus virologischen, sondern aus politischen Gründen – dicht genug auf, um mitzubekommen, was so ein Mann bestellt. Was essen die? Man geht ja doch von einem kruppstahlharten Roggenschrotflintenkorn aus.

Zunächst einmal schaute er die Backfachverkäuferin an, strahlte sie an, wie es nur die schmierigsten unter den Strebern tun und piepste mit enorm hoher Comicsynchronstimme: Guuten Taaag!

Wie kann man das beschreiben? Auf jeden Fall mehr Sopran als SS.

Ich drehte mich um, weil ich nach Verbündeten schaute, denn über so etwas muss man im Kollektiv lachen. Niemand lachte.

Ich meine, da biste schon mal Neo-Nationalsozialist in Meckpommerich und dann haste einen Auftritt vor einer Viertelkanackin, da sagste doch wenigstens »Heil Hitler«, oder?

Da piepste dir doch nicht wie ein liebeskranker Falsettkastrat einen ab.

Angeblich, so las ich es im Rudolf-Heß-Aphorismen-Abreiß-Kalender, legt sich jedes Mal, wenn ein Neo-Nationalsozialist beim Bäcker in der Schlange Guuten Taaag! fiepst, der Scheitel des Führers im Grab ein Stück weiter auf links.

Wenn ich jetzt noch verrate, was der Counterkamerad bestellt hat, hört sich die Sache vollends unglaubwürdig an. Der Herr Neu-Faschist hat sich – ich denke es mir nicht aus – eine Puddingschnecke gekauft.

7. April

Das erste Mal seit Jahren habe ich drei Tage am Stück nicht gearbeitet. Es gab keinen Auftrag, nichts, was dringend geschrieben, weitergeschrieben oder wenigstens überarbeitet werden musste. Ich habe ein langes Wochenende erlebt, wie es die angestellten Werners und Corinnas auch erleben, mit »richtig schön die Seele baumeln lassen« und »mal richtig ausspannen«.

Bin das ganze Wochenende den Vögeln hinterher spaziert. Lange Spaziergänge sind ohnehin mein Standardprogramm. Dieses Mal aber bin ich derart viel gelaufen, dass ich Sonntagabend über dem Pflaumenkuchen einschlief. Konnte gerade so die Gabel aus dem Mund ziehen, bevor ich zu träumen begann. In der Nacht, dachte zunächst an einen Schlaganfall, pulsierten die Muskeln in Armen und Beinen so sehr, dass ich mich kaum rühren konnte. Am Morgen, der Körper starr und unbeweglich wie eine durchgeschredderte Schildkröte, war ich auch ein wenig orientierungslos.

Der Kopf total leer. Eine Leere, wie ich sie lange nicht erlebt hatte. Die Nachrichten auf dem Handy, die Mails, die Zeitungen, alles, was üblicherweise Gemüt und Geist am Wochenende auf Trab hält, war auf wundersame Weise bedeutungslos. Mit alledem war nichts anzufangen. Demzufolge habe ich auch keine Ahnung, ob irgendetwas geschah, das dringend zur Kenntnis genommen gehört. Haben wieder ein paar Fledermäuse einen Menschen auf einem zentralchinesischen Viehmarkt mit einem mysteriösen Virus angesteckt?

Am Dienstag, der Arbeitsalltag hatte längst begonnen, kann ich mein Glück kaum fassen. Hatte ein paar Tage zuvor im Supermarkt in einer Kiste unter der Kasse ein paar Bund Narzissen ergattert. Sie lagen so achtlos hingeworfen dort, wie man sich das nur mit Narzissen traut. Mit bumshässlichen, mickrigstieligen Rosen würde das niemand wagen. Dazu sind sie beziehungspsychologisch viel zu systemrelevant. Ich habe mal unten in der Berliner U-Bahnstation Kottbusser Tor, das ist Jahre her und ich tat es einfach so zu meinem Vergnügen, bei der legendären Frau Yadigar im Blumengeschäft für ein paar Monate mitgeholfen. Seitdem weiß ich, wozu diese Ramschrosen gebraucht werden. Nachmittags, nach der Arbeit, kamen die mit ihren Corinnas zerstrittenen Werners und brachten ihren Frauen zur Einstimmung, gewissermaßen als präsexuelle Versöhnungsgeste, diese jämmerlichen Rosen mit ihren dünnen Stängelchen und radieschenschweren Blütenköpfen mit. Das überzüchtete Laborgestrüpp wurde wirklich nur dazu erfunden, damit Männer mit schlechtem Gewissen in Kombination mit fehlendem rhetorischen Geschick im letzten Moment verhindern können, dass die Ehefrauen endgültig die Schlösser auswechseln. Teerosen, Austinrosen, Buschrosen, teure, gute, edle, echte Rosen würden diese Männer nie mitbringen. Es geht schließlich immer nur um Instantfrieden und nie um ewige Liebe.

Ich stellte meine Narzissen in die Vasen. In der Regel springen sie, angekommen in der Zimmerwärme, innerhalb von ein paar Stunden mit einem raschelnden Geräusch auf. Diese brauchten drei Tage, um aufzugehen. Also ungewöhnlich lange. Nun stehen sie in voller Blüte und stellen sich als Duftnarzissen heraus! Ihre Blütenköpfe bestehen aus einem fünfeckigen Kranz mit hell- und dunkelgelben Blättern, darin erneut ein fünfeckiger Kranz, und darin wieder…  Sie sehen aus wie die üppigbuschigen Pompom-Blüten, die man aus Seidenpapier schneidet. Manchmal, in sehr exquisiten Parfümerien in Zürich oder Paris, legen sie einem diese Seidenblüten, die vorher parfümiert wurden, zum Einkauf in die Tüte, und wenn man zu Hause das Paket öffnet, hat man die luftigen Duftpuschel in der Hand, die so fragil sind, dass sie auf der Stelle zusammenfallen, wenn man sie am nassen Badewannenrand liegen lässt.

Meine Narzissen jedenfalls sind betörend schön. Und dann dieser Duft. Dieser Duft!

6. April

5. April

4. April

3. April

Das Ordnungsamt war erneut da. Das Auto. Das Kennzeichen. Ach so, schon alles registriert? In den Unterlagen geblättert, da gleich auf Seite 2, da steht es ja, ʼtschuldigung, Belege, Nummer, Adresse, alles längst festgestellt, ja nee, dann stimmt ja alles, bleiben Sie gesund, ja danke, Sie auch, tschüss, tschüss.

Auf halber Strecke drehen sie sich noch einmal um. Hol’n Sie sich mal ’n gelben Zettel aus dem Rathaus, ruft das Amt mir zu. Die zerkratzen jetzt die Autos mit ausländischem Kennzeichen. Ich rufe zurück: Wer?Die Einheimischen, antwortet das Ordnungsamt.

Das »ausländische Kennzeichen« trägt übrigens den Buchstaben B für Berlin.

Gestern Abend zum Netto geradelt. Zwei alte Leute weisen einen Kunden, der hinter ihnen an der Kasse ansteht, zurecht: Abstand halten, nää!! – Ja, klar, kein Problem, sagt der Lümmel im Jogger und rückt noch einen Zentimeter auf.

Auf dem Heimweg hatte ich mich verfahren und landete bei jemandem im Vorgarten. Verdutzt schauten wir uns an.

Ich: Selam!
Er: Moin!

2. April

Denke oft über das Verhältnis von drinnen und draußen nach.

Im Türkischen verwendet man für jemanden, der sich in einem Raum aufhält – zum Beispiel in der Küche oder im Wohnzimmer – das gleiche Wort, wie wenn jemand im Gefängnis ist: İçerde. Wörtlich übersetzt: Drinnen. Wird jemand verhaftet oder ins Gefängnis gesteckt, sagt man im allgemeinen Sprachgebrauch nicht, dass er verhaftet worden sei, sondern dass man ihn »nach drinnen warf«. Demzufolge sind es in der türkischen Sprache die Umstände, die aus einem Raum ein Gefängnis oder die sicheren vier Wände machen. Das Drinnensein an sich ist unschuldig. Nur, wenn man den Kontext kennt, weiß man, ob es sich um Zwang handelt oder nicht.

Im Deutschen betont man den Aufenthaltsgrund vom Drinnensein. Man ist in Haft, im Feierabend, in Quarantäne, … und nimmt damit dem Drinnensein die neutrale Bedeutung.

Es ist interessant, wie sich während der Krise die Menschen um einen herum in ihren Sehnsüchten unterscheiden. Während die einen vor allem darauf warten, dass alles wieder »normal« wird, damit sie weitermachen können wie bisher, versuchen die anderen Möglichkeiten zu finden, einen neuen Weg zu gehen.

Die einen hoffen, dass eine autoritäre Macht die Dinge für sie wieder in Ordnung bringt, während die anderen begreifen, dass sie ihr Leben nur retten können, wenn sie nicht ausharren, sondern selber tätig werden.

Warum wird der eine stumm und düster? Und ein anderer gewinnt an Größe und Kraft?

Heute Nacht ungewöhnliche Geräusche im großen Haus gehört. Sofort Hilfe gerufen. Der verschlafene Retter hatte Badeschlappen an und als Waffe einen langen Schuhlöffel aus Metall in der Hand. Ich war barfuß und im Seidenkimono. Gemeinsam liefen wir durch das Haus mit seiner diffizilen Alarmtechnik, die, wäre jemand eingebrochen, längst hätte Alarm schlagen müssen. Ich hatte das Handy in der Hand, die Durchwahl der nächsten Polizeiwache bereits im Anschlag. Durch drei Etagen, vom Keller bis hoch, fast aufs Dach, liefen wir im Dunkeln, um die Täter auf frischer Tat zu ertappen und wenn nötig zu töten.

Außer einer Katze, die den Bewegungsmelder auslöste und einem gigantischem Heizkessel, der brodelnde und trommelnde Geräusche machte, konnten wir ein paar Krähen auf dem Dach identifizieren und den Lärm einer nächtlichen Straßenbaustelle in der Ferne ausmachen.

Ich muss unbedingt aufhören, diesen Crime-Kram auf Netflix zu schauen. Seit ich gesehen habe, wie eine Leiche hinter einer Badezimmerwand eingemauert wurde, bin ich mir fast sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis man mich einkachelt.

Gestern das erste Mal mit meinen Freundinnen ein Zoom-Treffen gemacht. Die erste Videokonferenz meines Lebens. Die eine Freundin lag in einem äußerst exquisiten, luxuriösen Bett, divenhaft wie eine litauische Erbprinzessin. Die andere hatte eine grüne Heilerdemaske im Gesicht, trank teuren Rotwein und sah aus wie eine fröhliche Version von Shrek. Und ich armes Ding vom Land versuchte mich mit einer wackeligen Internetverbindung und dem i-Pad auf einem Bücherstapel (Florian Illies, beide 1913-Bände und eine sehr schöne F. Scott-Fitzgerald Ausgabe) von meiner mondänsten Seite zu zeigen. Schenkte mir einen Schluck »Mecklenburger Quelle« ein.

1. April

Mit meiner Agentin gesprochen. Sie erzählte, dass das Berliner Kulturkaufhaus Dussmann in der Friedrichstraße geschlossen habe. Obwohl es hätte geöffnet bleiben dürfen, denn in Berlin und Sachsen dürfen die Buchhandlungen weiterhin verkaufen. Friedrichstraße ohne Dussmann – nun wahrscheinlich vollends ein Friedhof. War immer gerne dort, vorzugsweise spätabends, fast nachts.

Bin froh, dass ich vor drei Wochen in der Schreibwarenabteilung meinen Vorrat an Stiften aufgefüllt habe. Ich brauche immer diese bestimmte Anzahl an Stiften, in einer exakten Stärke, mit einem ganz speziellen Farbton. Außerdem einen Block. Einen ganz bestimmten Block. Das Papier darf nicht zu dünn sein. Ich schaue die Dinge an. Sie beruhigen mich.

Früher, als ich noch zu Hause wohnte, saß ich stundenlang an meinem Tisch und schaute meine Schreibsachen an. Manchmal lochte ich unermüdlich Bordüren in die Briefbögen. Und zeichnete ein kleines Bild aufs Papier. Ich sah einmal einen alten Film, in dem ein Prokurist vorkam. Richtig alte Schule. Mit Bleistift und Ärmelschonern. Stempel und Papierablage. So einen Beruf zu haben, stellte ich mir vor, wäre das Allerhöchste, was man im Leben erreichen kann.

Habe mir heute ein paar kleine Aprilscherze erlaubt. Unter anderem behauptete ich, dass Sigmar Gabriel über meine Agentur hat anfragen lassen, ob ich seine Biographie ghostwriten würde. Arbeitstitel: »Warum ich mich für die Politik statt für den Erfolg entschied.« Untertitel: »Goslarer aus Leidenschaft«

Frage an die Freunde. Wie würdet ihr entscheiden? Honorar üppig. 45.000 Euro, allerdings ohne Verkaufbeteiligung. Soll ich das machen? Filmrechte sind bereits an Nico Hofmann verkauft, Zweiteiler in der ARD, Titel wahrscheinlich: »Genosse aus Goslar – Zerrüttete Träume«. Sigmar Gabriel wird von Adnan Maral und Andrea Nahles von Natalia Wörner gespielt.

Kam jedes Mal nur bis Sigmar Gabriel. Ab da lautes Gelächter. Niemand fiel rein.

Bin jeden Tag draußen.
Spaziere eine Stunde lang.
Für meine Verhältnisse viel zu wenig.
Mehr ist im Moment nicht drin.
Ich habe zu viel zu tun.
Bin ganz irritiert, dass es mir immer noch nicht schlecht geht.

Stehe vor den gleichen Einschränkungen, Unwägbarkeiten und Problemen, die alle anderen auch haben. Empfinde weder Pause noch Stillstand. Ich denke, das ist genauso das normale Leben, wie es zuvor auch ein normales Leben war. Es ist halt das eigene Leben.

Wer die Unterbrechung des Alltags durch eine tödliche Krankheit, durch monatelange Verzweiflung und zermürbende Ratlosigkeit jemals erlebt hat, kann das, was im Moment passiert, unter keinen Umständen als außergewöhnlich erleben. Ich hatte meine Erfahrung vor über einem Jahrzehnt. Danach ist man gebrochen und demütig für immer.

Ich kann und will diese derzeitige Jammerarie, die ich gelegentlich als obszön empfinde, nicht mitsingen. Wie will man – und sei es nur in Gedanken – mit so einer Haltung den Menschen in Moria oder Idlib gegenüber treten? Wie den Menschen, die in Folterlagern seit Jahren schon in Libyen ausharren? Wie den Eltern im Jemen, deren Kinder vor ihren Augen verhungern? Die Antwort ist: gar nicht. Das gehört sich nämlich nicht.

Es bleibt dabei. Es fehlt mir an nichts.

31. März

Heute ist der erste Tag, an dem ich bewusst Corona-Nachrichten las und erfuhr: In Jena gilt striktes  Mundschutz-Gebot und im Kaufland in Prenzlau strikte Einkaufswagen-Pflicht. Letzteres hat folgenden Grund. Es dürfen sich künftig nur eine bestimmte Anzahl von Kunden im Supermarkt aufhalten. So soll die Ansteckungsgefahr in Schach gehalten werden. Die Idee ist, die Menge der Kunden mithilfe der Einkaufswagenschlange kontrollieren zu können. Sind alle Einkaufswagen in Benutzung, muss der nächste Kunde warten, bis ein anderer rauskommt, damit er mit dessen Wagen den Laden betreten darf. Bis hierhin umständlich, aber verständlich. Nun hat man aber eigens Security-Leute angestellt, die die Regel überwachen sollen. Und das ist die Stelle, an der ich sehr lachen musste. Wenn sie schon extra Leute einstellen, die die Anzahl der Kunden überprüfen sollen, warum zählen sie die Menschen nicht einfach durch, statt ihnen zusätzlich einen Einkaufswagen aufzudrücken?

Eine Kundin beklagte sich über die Einkaufswagenpflicht, denn die Griffe werden nicht desinfiziert. Ihre Bedenken sind berechtigt. Schmierinfektionen funktionieren genau so. Ein Infizierter niest auf den Griff, der nächste greift hin und fasst sich anschließend ins Gesicht.  

Hier im Norden hat man wahnsinnig Angst, dass »Fremde« aus Brandenburg über die Landesgrenze nach Mecklenburg-Vorpommern kommen, und die »Seuche einschleppen«. Aber es gibt nahezu keine vernünftigen Schutzmaßnahmen innerhalb des Bundeslandes. Ein Großteil der Power wird in Kontrollen von Ländergrenzen und Ferienwohnungen gesteckt. In den Drogerien und anderen Märkten tragen die Verkäufer weder Mundschutz noch Handschuhe. Auch die Polizei und die Mitarbeiter des Ordnungsamtes tragen keinen Mundschutz und Handschuhe, wenn sie in Häusern und Anlagen klingeln, »um das Virus einzudämmen«.

An meinem Haus laufen täglich ältere Männer vorbei, sogenannte einfache Bürger, die mit Stift und Notizblock auf Streife gehen. Sie fotografieren das Haus oder das Auto. Was das wohl ist. Alte Reflexe? Neue Sehnsüchte? Angesichts der inflationären Verwendung von Begriffen wie »Kontrolle« und »Sicherheit« im offiziellen Jargon ist es kein Wunder, dass Bürger mit verminderter Reflexionsfähigkeit und einem immensen Defizit an politischer Bildung abends nochmal in den beigefarbenen Blouson schlüpfen, das Basecap über das schüttere Haar ziehen, um sich für die Dauer eines Spazierganges systemrelevant zu fühlen. Also wird fleißig notiert und »Meldung gemacht«.

Mein ganzes Leben lang schon werde ich gefragt: Warum lebst du denn im Osten, wenn es alles »so schrecklich ist«? Später, als ich in den Norden weiterzog, die gleiche Frage in grün. Na ja, die Antwort liegt auf der Hand. Ich bin Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Keinem Bürger dieses Landes gehört irgendeines der Bundesländer. Man ist allenfalls Bewohner, aber nicht Besitzer. Man kann sich zugehörig fühlen oder seine Umgebung mit kritischer Distanz beurteilen. Das ist reine Privatsache. Wir leben nicht mehr im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit 300 Kleinstaaten, wo man als Bürger eines Herzogtums eine Erlaubnis benötigte, um die Landesgrenze zu überqueren. Ich bin Bundesrepublikanerin. Ganz Deutschland »ist mir«, wie man im sächsischen immer so schön sagt, wenn es gilt die Besitzverhältnisse klarzustellen.

Außerdem bin ich als Autorin Chronistin meiner Zeit. Ich beschreibe, was ich erkenne.

Ab morgen dann wieder keine Corona-Nachrichten mehr. Bis auf die Meldung, dass die ersten schwerkranken Coronapatienten aus Italien und Spanien in Deutschland eintrafen, um hier behandelt zu werden (empfinde ich als unglaublich beglückend), las ich wirklich nichts, was von Belang gewesen wäre. Die Zahl der Infizierten minütlich zu aktualisieren, halte ich für fatal. Es wird Zeit, über eine redaktionelle Exit-Strategie nachzudenken: Es muss bald wieder möglich sein, dass zwei von drei Meldungen auf einer Nachrichtenseite nicht Covid-19 thematisieren. Die Menschen drehen sonst noch durch.

Keine Ahnung, was mit den Krähen los ist. Seit gestern schneit es und sie stehen nicht mehr in den Dachrinnen und picken mit ihren Schnäbeln ins Blech, sondern überqueren aufgeregt und hektisch die Straße. Hin und her. Rüber und wieder zurück. Gibt es eine ornithologische Erklärung? Ist das eine Laune?

30. März

Begann den Montagmorgen mit der Lektüre des Spiegel. Im Leitartikel stand, dass das Aufrechnen von Menschenleben gegen ökonomische Abwägungen ein Tabu sei, das es angesichts der Coronakrise zu brechen gelte.

Da musste ich kurz stutzen. Menschenleben gegen Wirtschaftsfragen abzuwägen ist in Deutschland ein Tabu?

Sätze wie: »Wir können nicht das Sozialamt der Welt« sein, oder die Horst-Seehofersche Bemerkung, dass es gelte, die Einwanderung in die Sozialsysteme »bis zur letzten Patrone« zu verteidigen, waren meines Wissens jahrzehntelang Ausdruck des Geistes, mit dem hier Flüchtlingspolitik gemacht wurde. Handelt es sich bei Flüchtlingen nicht um Menschenleben? Ganz Europa hat sich doch (vor allem aus Gründen der Wirtschaftlichkeit) dafür entschieden, gewissermaßen live von der Sonnenliege aus zuzuschauen, wie Schutzsuchende im Mittelmeer ertrinken. Ein Tabu war das nun wirklich nicht.

Danach las ich einen Artikel über die vermeintliche Auflösung des »Flügels« innerhalb der AfD. Vor zwei Wochen schon berichtete der Spiegel ganz verschwörerisch, dass sich im Laufe des Tages der »Flügel« auflösen werde. Das funktioniert so, dass die AfD den Journalisten was steckt und die schreiben es auf. Das geht seit Jahren so, dass sich die Kollegen freiwillig zum Propagandawerkzeug der Neo-Faschisten machen. Der »Flügel« hat sich natürlich nicht aufgelöst. Aber es wurde dutzendfach verbreitet, und keiner hatte den Mumm zu schreiben: Sorry, die haben uns angelogen, wir haben es geglaubt und exklusiv verbreitet, statt einfach abzuwarten und dann »zu sagen was ist«. Wirklich verstörend ist aber, dass der Spiegel in der AfD zwei Gruppen zu erkennen meint, die Radikalen und die »Gemäßigteren«. Die gemäßigteren was eigentlich? Gemäßigtere Extremisten? Gemäßigtere Nazis? Ich zitiere mich gerne selber: »Der Faschismus hat keinen moderaten Flügel.« Wie es überhaupt zu dieser Einschätzung der Kollegin kommt? Ich erwähnte es eben schon. Das passiert, wenn man auf dem Propagandaschleim der Faschisten ausrutscht. Das ist nämlich deren Behauptung, dass die AfD eine gemäßigte bürgerliche Partei sei, die von einer radikalen Strömung unterwandert worden sei.

Ich wollte das Mistblatt, von dem ich schon seit Jahrzehnten nicht loskomme, zerreißen und wegwerfen, aber es handelte sich um die digitale Ausgabe auf dem tablet, und das ist das Schrecklichste an der Digitalisierung, dass man nicht einmal einfachste Alltagshandlungen wie das Zerknüllen und Wegtreten einer Zeitung aus dem Affekt vollziehen kann. Ich las natürlich weiter, weil ein nicht zu Ende gelesener Spiegel mir physische Schmerzen bereitet. Und weil nach jeder Aufregung garantiert doch wieder etwas kommt, das ich für unverzichtbar und wichtig halte. Dieses Mal war es der Essay von Professor Bernhard Pörksen, einem Medienwissenschaftler, der den Versuch unternahm, das gegenwärtige Lebensgefühl zu erfassen. Dazu zitierte er einen Text von Iris Radisch, an den er sich erinnerte:

Vor ei­ni­gen Jah­ren schrieb die Jour­na­lis­tin Iris Ra­disch über den Schrift­stel­ler Wal­ter Kem­pow­ski ei­nen be­mer­kens­wer­ten Es­say, der ge­eig­net ist, die ak­tu­el­le Si­tua­ti­on schlag­ar­tig zu er­hel­len. »Wal­ter Kem­pow­ski saß 1948 hung­rig und be­schmutzt in ei­nem Gü­ter­wag­gon, der ihn, von ei­nem so­wje­ti­schen Mi­li­tär­ge­richt zu 25 Jah­ren Zwangs­ar­beit ver­ur­teilt, nach Baut­zen brin­gen soll­te«, so ist dort zu le­sen. »Bei ei­nem Halt be­ob­ach­tet er durch eine Rit­ze im Bret­ter­ver­schlag ein spa­zie­ren­des Ehe­paar, sie im Blüm­chen­kleid, er in Kni­cker­bo­ckern, sorg­los im Son­nen­schein. Das hat ihm den Schock von der Gleich­zei­tig­keit des Un­ver­ein­ba­ren ver­setzt. Wie viel Glück und Un­glück, Harm­lo­ses und Tra­gi­sches, Le­bens­be­dro­hen­des und Idyl­li­sches sta­peln sich in je­der Welt­se­kun­de auf­ein­an­der!«

Was für ein Bild, oder? Drinnen im Güterwaggon sitzt der Insasse Kempowski, auf dem Weg in die ewige Verdammnis, und draußen flanieren die Verliebten.

Bei meinem gestrigen Sonntagstelefonat mit meinem Vater, der schon sieben Tage Hausarrest hat, weil die türkische Regierung allen über 65 Jährigen eine totale Ausgangssperre verhängt hat (Spazierengehen, vor die Tür gehen, außerhalb von Balkon oder Terrasse frische Luft schnappen – alles verboten), antwortete auf meine Frage, wie es denn so geht:

Wie soll es mir schon gehen? Ich sitze unschuldig im offenen Strafvollzug.

Ach, Papa, versuchte ich zu trösten, du übertreibst mal wieder maßlos. Wärest du ein Gefangener im offenen Strafvollzug, dürftest du raus. Du gehörst aber nur zur Risikogruppe. Was Du jetzt an Ausgangsverzicht investierst, macht hinten raus schön Rendite.

Vater (auf Deutsch): Bin ih Frankefurte Börsä?

Bist du.

Gestern war ein unruhiger Tag. Die Ostsee drückte in die Dünen, es hagelte, und der Wind schoss Kiefern-Äste in die Fensterscheiben.

Heute am Montag ist es so still. Ich habe mir ein Glas Wasser eingeschenkt und konnte noch Stunden später die Kohlensäure in der geschlossenen Mineralwasserflasche gluckern hören.

28. März

Immer wieder Eva Strittmatter. Die Lieblingsgedichtbände sind mal diese und jene. Aber Strittmatter wird es für immer sein.

Aus Ich mach ein Lied aus Stille, Aufbau Verlag 1973
Eva Strittmatter. Sämtliche Gedichte. Aufbau Verlag, Berlin 2015 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1973, 1980, 2015

Widmung I
Ich würde gerne etwas sagen,
Was dir gerecht wird und genügt.
Du hast mich, wie ich bin, ertragen
Und mir, was fehlte, zugefügt
Es ist nicht leicht, mit mir zu leben.
Und oft war ich dir ungerecht.
Und nie habe ich mich ganz ergeben.
Du hattest auf ein Ganzes Recht.
Doch ich hab viel für mich behalten.
Und dich ließ ich mit dir allein.
Und du halfst mir, mich zu gestalten
Und: gegen dich mir treu zu sein.


Aus Die eine Rose überwältigt alles, Aufbau Verlag 1977
Eva Strittmatter. Sämtliche Gedichte. Aufbau Verlag, Berlin 2015 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1973, 1980, 2015

Nur einmal so
Es ist ja nur der Wind, der geht,
Der Wasserwind vom Februar,
Der nach dem Schnee dem Regen weht.
Der Winter, der kaum Winter war,
Zersetzt sich langsam. Unterm Grau
Der Wiesen ist schon grün zu sehn.
Und manchmal riecht es wie nach Tau
Und so, als soll bald was geschehn.
Und wieder weiß man nicht, was wird?
Man weiß nur: es wird anders ein.
Wer meint: das wiederholt sich, irrt:
Nur einmal so fällt Frühling ein.

29. März

Aus Zwiegespräch, Aufbau Verlag 1980 
Eva Strittmatter. Sämtliche Gedichte. Aufbau Verlag, Berlin 2015 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1973, 1980, 2015

Trauer II
von Eva Strittmatter

Die glühenden Nächte im Juli.
Und der Tod kam über des Nachbarn Haus.
Sein kleines Kind ging aus
Wie eine Flamme.
Zwei Fledermäuse flogen nachts in mein Zimmer.
Sie weckten mich schwirrend im Dämmer gegen eins,
So ist das Leben also noch immer: 
Da war ein Kind und ist nun keins.
Die Mutter habe ich, als ich klein war, gekannt.
Damals ist sie an meiner Hand gegangen.
Heut hielt ich wieder meine Hand.
Mit Worten war nichts mehr anzufangen.
Die Trauerflügel der Fledermäuse 
Durchflirren das beinweiße Gräberlicht.
Dunstschwüle drückt sich ins offne Gehäuse
Und tränt von meinem versteinten Gesicht.

Glaube II
Mein Freund sagt, da ist keine Tür in der Mauer:
Nach dem Leben kommt nichts. Nichts führt nach nirgend hinaus.
Er spricht zu uns mit spöttischer Trauer: 
Wir leben. Nichts weiter. Salut. Und aus.

Er hat uns auch die Mauer genommen.
Es gibt keine Mauer: es gibt keinen Sinn.
Sinnlos sind wir zu leben gekommmen.
Von nirgendwoher nach nirgendwohin.

Der einzige Sinn ist: entschlossen zu leben,
Einander so hilfreich wie möglich zu sein,
Gemeinsam die irdischen Lasten zu heben
Und uns von der Furcht vor dem Tod zu befrein.

Ich füge hinzu: es gibt auch das Schöne.
Das rauschende Blau ist das Leben wert.
Erst recht das Reich der bemeisterten Töne.
Und das Wort, das die Lust und das Leiden vermehrt.

27. März

Schon drollig, dass mein Handyprovider, dessen Kerngeschäft darin besteht, dass Menschen unterwegs sind, einen Hinweis über mein Mobiltelefon laufen lässt, der lautet: Stay home.

Lese jetzt immer den Nordkurier, der mich über alle wichtigen Ereignisse informiert (»Ossihasser muss 7800 Euro Strafe zahlen«, betraf einen Bayern, der in Bayern seine Anti-Ossi Sprüche an seinen Zaun genagelt hat).

Vor einigen Tagen informierte der Nordkurier darüber, dass Einwohner im Landesinneren Autos mit fremden Kennzeichen in ihrer Ortschaft mit Steinen beworfen haben. Irgendein Bürgermeister – ich habe mir nicht gemerkt, welcher – hat daraufhin geäußert, dass irgendwann wieder eine Zeit anbräche, wo der Tourismus wieder legalisiert werde. Dann müsse man aber wenigstens »10 Prozent freundlicher sein«. Naa, ob das ma klabben wieerd?,  möchte ich zweifelnd anmerken.

10 Prozent mehr Freundlichkeit würden bedeuten, dass man grüßt und antwortet, wenn man gefragt wird. Ich hätte, wäre ich an der Stelle des Bürgermeisters gewesen, die Messlatte nicht so hoch gelegt.

Weiterhin erfuhr ich, dass die Polizei und die Ordnungsämter eine dreistellige Zahl an Unterkünften aufgesucht haben, in denen sie weiterhin Urlauber vermuteten. Die Hinweise kamen »überwiegend aus der Bevölkerung«. Welcome to Denunzianten-Deutschland. Scheint auf Knopfdruck zu funktionieren. Wie schnell das geht, dass Teile der Bevölkerung freiwillig als Polizeispitzel agieren.

Meine Vermieterin hat geantwortet. Sie geht auf meine Bitte, die Miete etwas abzusenken für die kommenden drei Monate, ein. Sie ist selber in einer Zwangslage, mehr kann sie nicht tun und findet aber dennoch, dass die Zeit es erfordere, zusammen zu halten. Fand ich richtig nobel. Habe ihr heute früh die niedrigere Miete überwiesen und in die Betreffzeile »Solidarität« geschrieben.

Gestern habe ich für eine Stunde in einem Feinkostladen ausgeholfen, damit die Ladenbesitzerin mal in Ruhe Mittagessen kann. Trug konsequent Mundschutz und Handschuhe. Eine Kundin fühlte sich ernorm verunsichert. »Warum machen Sie denn so was?« Das Wort Taliban fiel.

Ein Kollege erzählte in seinem Podcast, dass er seit dem Ausbruch von Corona zu nichts mehr käme. Mir geht es genauso. Ich arbeite den ganzen Tag und schreibe unaufhörlich. Dabei habe ich keinen einzigen neuen Auftrag. Außer diesem Journal ist alles wie immer. Aus irgendeinem Grund ist das schriftliche Kommunikationsaufkommen höher als sonst.

Den Kollegen aus dem Theater geht es genauso. Der Aufwand an Schaltkonferenzen ist enorm. Mein Dramaturg, der das Quarantäne Journal betreut, bat mich, auf jede Email am Vormittag mit einer SMS hinzuweisen. Er mache zur Zeit homeschooling und schaue gewissermaßen parallel immer auch auf eine virtuelle Schultafel. Ich gab ihm daraufhin den einzig wertvollen und praktischen Tipp: Steck Deinen Sohn ins Kinderheim. Die passen tausend Mal besser auf ihn auf, als Blutsverwandte ersten Grades es jemals könnten.

Seine Antwort:

Mein Sohn besteht auf Bildung. Ich so: Lass’ mal Tischtennis spielen. Er so: Ja, aber erst 9.25 Uhr in der großen Hofpause. Jetzt erstmal Doppelstunde Mathe.
Sprichts und schlägt das Arbeitsmäppchen auf.

Große Sehnsucht nach analogen Sitzungen unter der gelenkten Demokratie der Theaterdirektorin.

Naja, jetzt noch eine Stunde Sachkunde. Dann endlich Sport.

Kinderheim habe ich versucht, aber die Schlange war zu lang.

26. März

Na bitte, wer sagt’s denn? Kaum mache ich mir Sorgen, dass meine Regierung meine Bürgerrechte unbefristet einschränken will, setzt sich das Parlament zusammen, beziehungsweise auseinander (Dr. Wolfgang Schäuble: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte nehmen Sie unter Wahrung des notwendigen Abstands Platz. Die Sitzung ist eröffnet«) und beriet am Mittwoch über mein Anliegen.

Schmökerte mich heute früh durch das Sitzungsprotokoll. Wie immer redete man langatmig. Unter einer gewaltigen Lawine von Worten verbergen sich meistens die zwei, drei wichtigen Sätze, um die es geht.

Eine epidemische Lage von nationaler Tragweite gab es noch nie. Es ist richtig, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, und zwar mit breiten Mehrheiten, um die Bevölkerung besser beschützen zu können. Dennoch dürfen solche tiefgreifenden gesetzlichen Änderungen wie die des Infektionsschutzgesetzes nur zeitlich begrenzt sein und müssen nach einer akuten Situation gründlich evaluiert werden. Wir müssen in Krisen für die Zukunft lernen. Deswegen sind wir froh, dass unserer Forderung nach Befristung der gesetzlichen Regelungen tatsächlich nachgekommen wurde und sich diese jetzt im Gesetz wiederfindet. Das ist ein wichtiges Zeichen für die Bürgerrechte.
(Kordula Schulz-AscheBündnis 90/Die Grünen)

Über achtzig Mal fällt in der Sitzung das Wort Frist oder Befristung für einzelne Maßnahmen. Aber Begründungen fielen keine. Niemand sagt, warum eine Maßnahme für sinnvoll erachtet wird oder nennt eine Begründung für die getroffenen Entscheidungen. Niemand macht eine Gleichung auf. Christian Lindner sagt einen Satz, den die FDP immer sagt, der zu ihrem Standardrepertoire gehört, aber dieses Mal goldrichtig ist:

Auf Dauer wird auch der starke deutsche Staat nicht in der Lage sein, eine Volkswirtschaft zu stabilisieren, die nicht ins Leben zurückfindet. Irgendwann wird auch jemand dafür zahlen müssen, was wir jetzt an Schutzschirmen aufspannen.

In Berlin können sich Freiberufler ab morgen ein Formular herunterladen, wonach sie 5000 Euro Soforthilfe von der Landesregierung bekommen. Ein Künstler braucht aber nicht 5000 Euro, sondern weiterhin Aufträge und ein System, das es ihm ermöglicht, nicht nur Künstler zu sein, sondern als Künstler zu arbeiten und sich seine 5000 Euro selbständig zu verdienen. Davon können allenfalls dreieinhalb Monatsmieten, die Krankenkassenbeiträge und ein paar Wocheneinkäufe bezahlt werden. In dreieinhalb Monaten ist Juli. Die beschlossenen Maßnahmen zu Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverboten gehen aber bis einschließlich September. Und dann? Wie oft will, wie oft kann man 5000 Euro ausschütten?

Irgendwann gibt es weniger Geld zu verteilen, weil jetzt planlos Geld locker gemacht wird. Das wird die demokratischen Verhältnisse enorm destabilisieren. Dann wird eine Neiddebatte beginnen. Eine richtige, echte. Nicht die, die man immer als solche bezeichnete. Das könnte einen fatalen Extremismus mit völlig anderen Mehrheitsverhältnissen zur Folge haben.

Bekam gestern, wie wahrscheinlich viele andere Autoren im Moment auch, Nachricht, dass der Erscheinungstermin meines neuen Buches verschoben wird. Vorerst um einen Monat. Die zweite Rate des Autorenhonorars bekomme ich erst, wenn das Buch auch erscheint. So sind alle Buchverträge. Erste Rate bei Vertragsunterzeichnung, zweite bei Erscheinen des Titels.

Schrieb gestern meine Vermieterin an und fragte, ob sie einverstanden ist, wenn ich ein Fünftel weniger Miete zahle. Warte noch auf Antwort.

War das eigentlich gestern oder vorgestern, als ich über das Ordnungsamt (»Hilfssheriffs«) und deren breit-eiriges Auftreten lästerte? Typen, bei denen es für die Polizeiausbildung nicht gereicht hat und die trotzdem auftreten, als wären sie Mitglieder des Sonder-Einsatz-Kommandos. Adipöse Armleuchter, alle!

Was soll ich sagen? Die unverschämten Lümmel standen gestern vor meiner Tür. Lesen die mein Quarantäne-Journal? Kurz überlegte ich, mich im Kleiderschrank zu verstecken, und die folgenden Jahre dort zu verbringen. Entschied mich anders. Ich nahm meine Papiere, meinen Ausweis, die ganzen Bescheinigungen, die es braucht, um hierbleiben zu können, ging runter und da standen sie und lächelten süß wie Baklava, diese verfickten Arschlöcher. Schauten sich alles durch, notierten sich das Autokennzeichen, meine Daten, fragten, ob alles in Ordnung ist, na ja, sagte ich, manchmal habe ich etwas Angst, es ist ja doch sehr einsam hier.  Sie trösteten mich, waren lieb und freundlich, sahen original aus wie Charly Hübner, irgendwie spitzbübisch und braun gebrannte Haut, wie frisch vom Fischkutter runter und wünschten mir einen schönen Tag. Und wenn was sei, »keine Angst, wir sind da, und die Polizei ist auch in drei Minuten da, wenn was ist, nä« .

Ich war fix und fertig. Die lesen Kiyaks Theater Quarantäne, das weiß ich genau! Die waren extra freundlich, nur um mir eins auszuwischen. Um meine Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Die wollen mich psychisch fertig machen. Das ist Folter! Wenn die noch  einmal kommen und sich korrekt benehmen, ziehe ich nach Den Haag zum Menschengerichtshof!

Wo gibt es denn so was, dass Männer vom Ordnungsamt sweet sind? Und schlank waren sie auch noch!

25. März

Die Jüdische Gemeinde Frankfurt a. M. hat mir eine Aufzeichnung ihres letzten Philosophischen Salon-Gesprächs geschickt. Leon Joskowitz hatte Philipp Ruch eingeladen, und gemeinsam sprachen sie über die Toten, die Lebenden und die Brücke dazwischen: die Kunst. Ein wirklich gutes, aufregend kluges Gespräch zwischen zwei Philosophen (Hier nachzuschauen: https://slidesync.com/Wwvz972klE)

Danach sofort Philipp angerufen. In dem Salon erwähnte er etwas, das mir ebenfalls großes Kopfzerbrechen macht: Das Delegieren der öffentlichen Ordnung in Polizeihände, auf der Grundlage eines Infektionsschutzgesetzes, das im Moment in jedem Bundesland anders ausgelegt wird. Mir wäre wohler, es gäbe eine große Diskussion, in die sich Verfassungsrechtler einschalten.

Ein Deutschland, in dem die Polizei von der Legislative gebeten wird, mit Augenmaß vorzugehen, ist genau das Deutschland, vor dem ich Angst habe. Was versteht man in Bayern unter Augenmaß, was in Sachsen und was in Mecklenburg-Vorpommern? Was versteht eine Polizei unter Augenmaß, deren Einheiten hier und da in terroristische Netzwerke verstrickt sind?

Es ist schließlich immer noch die gleiche Polizei, die politisch gelegentlich im rechten, toten Winkel agiert. Ich will so einer Polizei in einer angespannten Lage wie dieser nur ungerne begegnen. Einer Polizei, die in deutlich entspannteren Zeiten den NSU durchgewunken hat, wo immer er auftauchte. Eine Polizei, die Oury Jalloh in der Dessauer U-Haft erst festband und dann anzündete. Eine Polizei, die erst nach mühsamem Gebettel losfährt, wenn Gläubige in einer Hallenser Synagoge beschossen werden und um Hilfe bitten. Eine Polizei, die AfD-Mitglieder in ihren Reihen hat.

Diese Polizei muss mein Vertrauen zurückgewinnen.

Und das Ordnungsamt, diese meistens griesgrämigen deutschen Hilfssheriffs in Uniform, sind ja schon in Nichtviruszeiten selten Garanten für elegante Begegnungen. Hier im Norden aber sind sie wie eine Ersatzpolizei. Sie überprüfen Ferienwohnungen. Dazu  klingeln sie, führen Befragungen durch und fordern unter Androhung einer Strafanzeige die Bewohner der Ferienunterkünfte auf, die Wohnung sofort zu verlassen. Ganz schön weitreichende Kompetenzen für ein Ordnungsamt.

Die Politik muss ihre Maßnahmen rechtstaatlich sauber argumentierend legitimieren. Sie muss die Öffentlichkeit um die Aussetzung der Bürgerrechte bitten. Nicht umgekehrt. Philipp erzählte mir, dass Jakob Augstein auf Twitter leise Zweifel angemeldet hätte, ob das, was hier gerade passiert, allen bewusst ist und dass er dafür niedergeschrien wurde.

Teile der Öffentlichkeit haben offenbar keine Ahnung davon, wie schnell Ausnahmezustände zu Normalzuständen werden können. Irgendwann ist der Virus weg, aber die Bürgerrechte – in der Panik dem starken Staat leichtfertig geschenkt – sind es dann vielleicht auch. Wenn man doch Bürgerrechte hamstern könnte! Dann könnte man sie nach der Krise (und vor der nächsten) aus der Scheune zaubern und an Bedürftige verteilen.

Es müssen dringend zeitliche Angaben für die Kontakt- und Ausgangssperren gemacht werden. Und wenn die Zeiträume um sind, muss zwingend mit Argumenten und Erklärungen belegt werden, warum die Phase verlängert wird.

Das Viereck, bestehend aus Legislative, Judikative, Exekutive und der 4. Gewalt, also Medien und Öffentlichkeit, muss weiter funktionieren – jetzt mehr denn je.

Ich scheine offenbar auch die einzige Bürgerin in diesem Land zu sein, die die Ansprache der Kanzlerin neulich katastrophal nichtssagend und peinlich fand. So spricht eine Erziehungsberechtige, aber keine moderne Politikerin (»Hamstern ist unsolidarisch«).

Philipp bot mir an, falls Uniter den Tag X vorzieht und mit Fackeln vor meiner Tür steht, sofort mit einer Mistgabel bewaffnet hochzufahren und mich in seinem Coronabunker zu verstecken. Habe das Angebot abgelehnt. Spekuliere immer noch darauf, im Ernstfall einfach die Seiten zu wechseln.

Ansonsten immer noch körperlich fit.

Vermisse die intellektuellen Stimmen, die für etwas Klarheit sorgen.

Frage mich, ob die Deutschen aus dieser Krise extrem übergewichtig herausgehen werden.

Diese Humorlosigkeit ist derzeit das bemerkenswerteste. Dieser heilige Ernst, mit dem jedes Kochrezept und jede Sportübung für Zuhause veröffentlicht wird – na ja, na ja.

Einzig ernstzunehmende Empfehlungen kommen im Moment ohnehin nur von Arnold Schwarzenegger (»Look. I wash my hääänds. Look. Meeeek sure, you woash de bäääck«)

24. März

Mich rufen oder schreiben Leute an, von denen ich seit Jahren nichts gehört hatte. Habe seit heute begonnen, zu antworten: Möchte immer noch in Ruhe gelassen werden. Brauche alle Zeit für mich. Die meisten tragen es mit Fassung.

Habe mich gefragt, wie es wäre, wenn demnächst die Versorgung zusammenbricht. Wie weit würde ich für Kaugummi, eine Schachtel Kaffee und ein Päckchen Nylonstrümpfe gehen? Wenn hier demnächst Militär durch die Straßen fahren würde, wäre ich in der Lage schöne Augen zu machen und vielleicht noch mehr? Bin, glaube ich, absolut flexibel, was das betrifft. Schaue mir auf YouTube an, wie man Wasserwellen legt und Lidstrich zieht. Werde, daran besteht kein Zweifel, für eine gute Seife bis zum Äußersten gehen.

Neulich kam mir der Gedanke, dass es nach jedem Krieg und jeder Krise windige Typen gibt, die als Millionäre aus der Sache herauskommen. Bin mir absolut sicher, dass ich diesmal dazugehöre. Habe das Gefühl, dass das jetzt meine Zeit ist.  Bin immer noch topfit und habe sogar, je exponentieller die Infektionskurve steigt, einen umso besseren Teint. Habe nach wie vor kein Leiden, keine Ängste, bin sorgenfrei. Der Vater macht mir Sorgen. Aber gut, der macht mir seit Jahrzehnten Sorgen.

Kriege seit dieser Woche von meinen Auftraggebern den dringenden Wunsch übermittelt, in meinen Kolumnen zu schreiben, was ich will, aber bitte auf keinen Fall etwas über den Virus. Verstehe und akzeptiere ich. Mir geht es als Leserin genauso. Lese täglich meine sieben Zeitungen und überspringe die Krankheitsberichterstattung. Sehne mich nach Artikeln über Architektur oder Kunst. Irgendetwas ohne Virusbezug.

Als politische Beobachterin weiß ich, dass alle Regime, Krisen wie diese nutzen, um antidemokratische Maßnahmen durchzusetzen. Die autoritären Staaten tun so etwas prinzipiell. Sie nutzen die öffentliche Aufregung, um im Hintergrund irgendwo einzumarschieren oder schmutzige Deals zu machen. Wie aber werden sich Demokratien verhalten? Ich bin mir nicht sicher, aber mein Eindruck ist, wir sollten uns weniger über Handyüberwachung aufregen, als vielmehr die Flüchtlingspolitik zu beobachten. Verkauft Deutschland eigentlich gerade weiter Waffen? Mehr als sonst? An wen genau? Nicht, dass Handyüberwachungen kein Problem wären, aber meistens geschieht im Zuge so einer Debatte im Hintergrund etwas noch Gravierenderes.

23. März

Habe mir endlich Aus Worten entsteht Macht, einen Film über Margaret Atwood, auf arte angesehen. (https://www.arte.tv/de/videos/086153-000-A/margaret-atwood-aus-worten-entsteht-macht/ bis 15.6.2020 verfügbar)

Am Ende des Films wird ein Gedicht von ihr gesprochen. Nahm mir schon seit Tagen vor es abzuschreiben, da ich es nirgends fand. Kam heute früh endlich dazu, es zu tun.

Aus: Owl und Pussycat Some Years Later
In: The Door (2007)

Eule und Kätzchen, ein paar Jahre später (In: Die Tür)

Hier stehen wir also wieder, mein Lieber,
Am selben Ufer, von dem wir aufgebrochen sind, 
Vor Jahren, als Vielversprechende
Nur heute, mit weniger Haaren, oder Fell oder Federn – egal
Vermutlich sind wir beide weit gekommen
Doch wie weit wirklich von dort, wo wir begannen
Unterm frisch gelegten Mond
Als wir auf Verblüffung sannen,
Als wir glaubten, es könne durch Gesang noch Bedeutsames getan oder gewonnen werden
Etwa Trophäen
Ach ja, mein Lieber, unsere lecke Pappgondel hat uns bis hier gebracht
Nicht länger halb unsterblich, sondern als Eule in der Mauser und arthritisches Kätzchen, rudern wir hinaus
Vorbei an der letzten schützenden Barre, vorbei dem salzigen, offenen Meer entgegen
Dem Tor mit Hundeköpfen
Und danach Vergessenheit
Auf jeden Fall mein Liebster
Haben wir noch immer den Mond

22. März

Heute ist Sonntag. Babatag. Da telefonieren mein Vater und ich immer.

Meistens ruft er an, bevor er zum pazar geht. Sonntag heißt auf Türkisch pazarPazar, also Markt oder Basar, wie man in Deutschland sagt. Heute wird mein Vater nicht zum pazar gehen können. Ich habe das Telefon schon am Abend auf meinen Nachttisch gelegt. Ich bin mir sicher, er ruft sehr früh morgens an. Denn seit Mitternacht dürfen in der ganzen Türkei ältere Menschen über 65 Jahre das Haus nicht verlassen.

Er ruft doch erst um zehn Uhr an. Wir sprechen wie immer erst über das Wetter. Jedes Gespräch beginnt mit dem Wetter.

Mein Vater beschreibt den Wind: Eisig, kalt, der Wind, jault wie ein alter Hund, trifft dich vorne wie ein Schwert im Magen und pfeift hinten aus der Leber wieder raus.

Der Vater ist schwer krebskrank. Ein Teil seiner Lunge wurde schon entfernt. Er ist im Endstadium. Allerdings schon seit Jahren. Zweites Lieblingsthema, sein bevorstehender Tod.

Na Papa, immer noch am Leben?
Glaube schon.
Kenne niemanden, der so verbissen am Leben festhält wie du.

Vor Jahren schrieb ich ein Buch über seine Krankheit und wie ich ihn beim Sterben begleitete. Als das Buch fertig gedruckt war, lebte er immer noch. Er weiß, wie peinlich es mir seitdem ist, dass mir immer wieder Leser schreiben und kondolieren. Manchmal treffe ich auch auf Menschen, die mir weinend um den Hals fallen und sagen: »Er war so ein lieber Vater. Wir vermissen ihn!« Kein Witz, ich denke es mir nicht aus! Das ist die Macht der Literatur. Für den Alten ist das krachlustig.

Einmal fragte er mich:

Hat sich das Buch gut verkauft? Sind wir Millionäre?
Leider nein, Papa.
Schade. Liegt es daran, dass ich noch lebe?
Könnte sein. Wenn du stirbst, steigen die Verkaufszahlen sicher wieder.
Inşallah, viel Glück!
(Heiseres Gelächter, das in Husten übergeht.)

Ich erkläre ihm, dass ich ihn bei einem Notfall nicht holen kann. Seine Lungenklinik in Deutschland wird er für die nächsten Monate nicht besuchen können. Wir müssen jetzt improvisieren. Aber wir wissen auch, was die Konsequenzen von alledem sind.

Am Telefon bringe ich ihm bei, wie er im Sitzen seine Lunge belüften kann. Gemeinsam atmen wir die Übungen durch. Er verspricht mir, dreimal täglich die Atemübungen zu machen.

Wie als pustest du unter dem Bauchnabel einen Ballon auf.
Wie ein Ballon, ich weiß.
Zwei, Drei, Los!

21. März

Nur noch die Graugänse bewegen sich in Gruppen.

Begegnete neulich am Abend bei meinem Spaziergang einer Art Bürgerwehr. Natürlich standesgemäß mit Hunden an der Leine. Sie patrouillierten ins Leere. Sah irgendwie poetisch aus.

20. März

Es geht mir gut. Ich freue mich. Schreibe meiner Familie, meinen Kollegen und Weggefährten eine Nachricht:

Meine lieben Freundinnen und Freunde,

Morgen ist Newroz –
das kurdische Neujahrsfest.

Ich wünsche euch trotz der anstrengenden Quarantäne, in die wir uns begeben, dass ihr helle und freundliche Orte findet – am besten in euch selbst.

Ich denke an jede von euch und umarme euch aus der Ferne.

Friedlichen Frühling, friedlichen Anfang.

Newroz heißt neuer Tag, neue Hoffnung

Eure Mely

19. März

Am Flaschenautomaten des Ladens streitet sich eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter, weil die offensichtlich vom Leben ruinierte Mama Schnaps »bunkern« wollte, die Tochter aber in der Corona-Epidemie eine Art Chance auf Entzug erkannt haben will. Sie schlägt der Mama vor, auf Bier umzusteigen. Die Mutter daraufhin mit Empörung und tiefer Stimme: Halt’s Maul!

Später an der Kasse stehen sie hinter mir. Die Tochter legt alle Waren aufs Band. Die Mutter drückt der Tochter, sie muss ungefähr in meinem Alter sein, einen Kuss auf den Hinterkopf. Mit ihrer dunklen Stimme sagt sie zu ihrer sehr baffen Tochter: Ich hab’ dich doch lieb.

18. März

Veranstaltungen gibt es natürlich keine mehr. Kein Inselreiten, keine Walkingtouren und auch nicht mehr das beliebte »Schießen für jedermann«. Im Landesinneren hängen noch die neonpinken Plakate für »Dorfbums«.  Man hat jetzt noch häufiger kein Netz. Man hatte natürlich auch vorher nie Netzempfang, aber jetzt muss man, um eine SMS abzusenden, das Handy auf eine Möwe schnallen, sie hochflattern lassen und wenn sie wieder landet, hat man Glück und die Nachricht ist rausgegangen.

Ansonsten: Man will keine Fremden. Der Unterschied wird aber nicht mehr zwischen Syrern und Deutschen gemacht, sondern zwischen Festland, Insel und Halbinsel. Zwischen vor der Brücke und nach der Brücke.

In den örtlichen Nachrichten wird ein Halbsatz mit besonderem Eifer hoch und runter zitiert. Wer sich nicht an diese und jene Auflage hält, »begeht eine Straftat«. Ich schaue nach, ob in Lokalzeitungen anderer Bundesländer auch so gesprochen wird. Finde keine Belege.

Draußen sitzen sie noch im Freien und stoßen mit Bierflaschen an. Dabei geben sie penibel Acht darauf, dass sich der offene Flaschenmund trifft. Bemerkenswertes Gottvertrauen in Virenimmunität.

17. März

Aus irgendeinem Grund gibt es kein Gemüse in den Regalen. Dafür kam gestern offenbar eine Riesenladung Ranunkeln auf der Insel an. Man könnte jetzt Ranunkeln hamstern.

16. März

Wie früher im Krieg hält man auf seinen Touren durch das Dorf eine Art Passierschein in der Hand, für den Fall, dass man kontrolliert wird. Es ist ein Papier, das einem den Arbeitsaufenthalt bescheinigt. Seit heute dürfen nur noch Arbeitnehmer und Bewohner im Norden sein. Ein Berliner hat sich aus Angst, dass er sein Ferienhaus verlassen muss, den Gewerbeschein kopiert und trägt ihn laminiert wie einen Brustbeutel um den Hals. Auf seinen Erstwohnsitz in Berlin angesprochen, schmettert er dem Einheimischen entgegen: »Ick hab‘ ne Gewerbenummer, mein Freund!«

15. März

Von draußen zieht ein frischer, kühler Wind herein, drinnen weht sanfte Anarchie. Ich blühe auf. Fühle mich keine Sekunde schlecht. Eher wie ein Profisportler, der jahrelang gegen einen imaginären Gegner kämpfte und nun endlich in den Ring steigen darf, um zu beweisen, was er drauf hat.

Kriege jetzt haufenweise Nachrichten, die ähnlich klingen:
Sag mal, Mely, für dich bleibt doch alles wie immer?
Klar
, antworte ich, geht mir sogar ein wenig besser als sonst.

Habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass endlich eine Krise herrscht, für die ich gewappnet bin. Die soziale Isolation (die nie wirklich eine war und auch heute keine ist) macht die Leute irre. Für mich ist das Alltag. Und für viele andere Autoren auch. Ich saß ohnehin immer am Schreibtisch, schrieb, las, ging raus zum Spazierengehen und wenn ich abends oder spätnachts fertig war mit meiner Arbeit, hatte ich Hunger und die Läden waren längst zu. Wenn ich morgens aufwache, sind die ersten Redigate da, das Postfach quillt über mit Aufgaben, und alles beginnt von vorne. Schreiben ist wie ewiger Ausnahmezustand mit Ausgangssperre.

Nichts Besonderes dieser Tage.

14. März

Bin auf der A 20 unterwegs. Mehrere Schützenpanzer werden Richtung Insel eskortiert. Polen ist das nächste Nachbarland. Sieht nach Einmarsch aus und nicht nach Sicherheitsvorkehrungen im Rahmen einer Pandemie.

13. März

Im Hinterland auf einer Ostseeinsel in Mecklenburg-Vorpommern. Stehe im Rewe vor dem Klopapierregal. »Mit Dekor und Duft« ist ausverkauft. Vom Hakle ohne Duft und Dekor liegen noch zwei Packungen im Regal. Jetzt, wo sich alle auf das Toilettenpapier stürzen, kann man die nationalen Vorlieben besonders eindrücklich studieren. Mit feuchtem Klopapier fremdelt man hier offenbar. Davon gibt es noch jede Menge. Mit Kamillenlotion, Orchideenbalsam, mit Schlagsahne und Cocktailkirsche, meine Güte, Dinge gibt es.

In diesem Moment passiert, was mir in zwölf Jahren Küstenerfahrung noch kein einziges Mal widerfahren ist. Ein dunkelhaariger Mecklenburger steht vor mir, tätowiert bis unter die Kinnlinie, gleichmäßig durchtrainiert (normalerweise pumpen sie hier nur die Oberarme, der Rest bleibt weich und voluminös). Augen, dunkel wie der Bauchnabel einer Makrele. Er lächelt. Ich habe das Gefühl, ich falle vor Verliebtheit vornüber in die Intimwaschlotionen. In zwölf Jahren wurde ich hier noch nicht einmal angelächelt. Ganz egal, was er sagen wird, ich gehöre ihm. Anziehung vollzieht sich bei mir nämlich innerhalb von Sekunden.

Ich sach ma, alles wech, nä, sagt er mit Blick auf die leeren Regalreihen.
Ja, sage ich, alles weg.
Ich sach ma, ich hab’ zu Hause die ganze Scheune voll mit Klopapier, nä.

Wahnsinn, denke ich, nicht nur ein schöner, sondern auch ein vermögender Hamster.

Das »Ich sach ma, nä« ist übrigens die pommersche Variante des französischen Oui madameBien sûr madame oder écoutez madame. Eine Höflichkeitsform.

Habe ich schon vier Monaten gekauft, sach ich ma, nä.
Vor vier Monaten wussten Sie, dass Corona ausbrechen wird?
Nee, natürlich nicht. Ich habe die aus anderen Gründen, nä.
Aus welchen anderen Gründen denn?
Ich sach ma, kann doch immer ma‘ was sein, nä.

Oh Gott, Mely, ermahne ich mich, du verliebst dich jetzt bitte nicht in einen Prepper! Andererseits. Mit wem käme man bestens versorgt und beschützt durch Krisenzeiten? Der Typ hat sicher nicht nur die Scheune voll mit Klopapier, sondern auch Waffen, Munition und Trinkwasser. Vielleicht sogar Gewürzgurken bis unter die Decke gestapelt. Ich liebe Gewürzgurken. Ganz besonders Dillhappen nach »Omas Art«.

Nun gibt es natürlich solche und solche Prepper. Hier im Norden ist die Vermischung in die rechtsextreme Szene fließend. Ich möchte mich natürlich lieber mit einem alternativen Prepper mit linksliberaler Gesinnung einlassen.

Sie sind aber keiner von der Nordkreuztruppe, frage ich ihn.
Nee, sagt er, aber er kenne da welche, die da welche kennen, die glauben, da welche zu kennen.

Ich tue maximal offen, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass man Kontakt zu wem hat, der Kontakt zu wem hat, der mit bewaffneten Einheiten auf den Tag X wartet, um Muslime, Politiker, Journalisten und andere Feinde zu erschießen.

Hm, hm, verstehe, nicke ich. Kann man ja auch nicht reingucken, nä, sach ich ma, sage ich.

Das Ganze fühlt sich aufregend an. Verboten. Existenziell. Meine Hormone sind Mitte des Monats im Ausnahmezustand.

Geben Sie mir was von Ihrem Klopapier ab?
Klar. Ich wohn’ aber im Hinterland. Weiß ich nicht, ob Sie sich trauen mitzukommen.

Seit ich auf Netflix zwei Crime-Serien geschaut habe (Luther und Marcella), weiß ich, auf wie viele unterschiedliche Arten man eine Frau zerhacken, zerstückeln, zerstechen und verschwinden lassen kann. Wird er mich im Hinterland in Klopapier gewickelt ersticken? Wird man Monate später meine Leiche aus einer Schleuse bei Schwerin herausfischen? Wird er mich vorher betäuben? Er hat etwas Sanftmütiges an sich, fast schüchtern. Ein sensibler Prepper, so viel ist klar. Es ist, als ob wir beide das Glück nicht fassen können, uns begegnet zu sein. Zwischen Babywindeln und Haushaltsreiniger trennt uns nur ein Einkaufswagen. Wir starren uns an.

Der tätowierte Drachenschwanz, dessen gezackter Zipfel kurz vor seinem Kiefer endet, bewegt sich im Takt seiner kräftig schlagenden Halsschlagader auf und ab.
Er bricht als erster das Eis:

Ich sach ma, nächste Woche ist das Regal wieder voll, nä.

Dann dreht er sich um und geht.

Stehe da wie hingemacht und nicht runtergespült. Schlaff wie’n aufgetauter Lachs schlurfe ich zur Kasse.

Auszüge der Kolumne wurden ins Italienische übersetzt und sind hier zu lesen.

Gestaltung: María José Aquilanti

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