Herr Höcke sucht eine würdige Gedenkkultur und landet in der Sackgasse


Mein alter Freund und Förderer, der Journalist Arno Widmann, ist mit seinen 70 Jahren ins thüringische Bornhagen gefahren. Er besitzt keine Fahrerlaubnis. Nichts verabscheut er so sehr wie Orte ohne ICE-Anschluss. Er muss sich dann umständlich ein Taxi rufen, stundenlang an einer Bushaltestelle im Regen ausharren, das Taxi kommt, tuckelt ihn bis ans Ende der Welt, kostet ein Heidengeld. Meistens hat der Fahrer kein Wechselgeld dabei, klar, die sind ja auch nicht blöd, dort hinten auf dem Land. Widmann rundet großzügig auf.

Sein Reiseziel: das Nachbargrundstück der Höckes. Die derzeitige Wohnadresse des Zentrums für Politische Schönheit. Der Terroristen, so würde Herr Höcke sagen.

Der alte Journalist fuhr also hin, immer entlang der Deutschen Wurststraße, vis-à-vis des Wurstmuseums – mein Gott, kann es eine deutschere Straße und einen deutscheren Ort geben?– und stellte sich in den ZPS-Garten, wo die Kunst prächtige Betonblüten des Widerstands ins Vaterland rammte. Wo unsere Heimat dem dritten Geschlecht noch nicht zum Opfer fiel, wo die Muttererde noch weiblich sein darf, einfach nur weiblich, mit einer guten alten deutschen Mumu, ohne Unterstrich und Sternchen***girlande. Ich kürze ab, Sie wissen alle wovon die Rede ist!

Da stand er, der alte Schreiber, schaute sich das Mini-Holocaust-Mahnmal an, das so ausgerichtet war, dass nur die Höckes es von ihrem Haus aus sehen konnten. Er tuckelte vom Wurstende der Welt zurück nach Berlin und schrieb für die Redaktion der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung seinen Text.

Darin machte er eine sehr schöne, wenn nicht die schönste Bemerkung, die man zu dieser Kunstaktion machen kann. Er befand, dass der ehemalige Geschichtslehrer Björn Höcke das Mahnmal als Schenkung begreifen solle. Und infolge dessen dankbar sein dürfe. Wie reagiert der Holzkopf stattdessen? Aufgebracht und empört. Nicht wegen der sechs Millionen ermordeten Juden, sondern der Erinnerung daran.

Höcke selbst ist das Thema Gedenken und Erinnerung ein dringendes Anliegen. Seine Teilnahme an einem Neonaziaufmarsch anlässlich des Jahrestags der Bombardierung Dresdens 1945 mit dem Friedens- und Freiheitsslogan: “Wir wollen marschieren. Frei, sozial und national!“ war Ausdruck einer inneren Suche, wie er am Wochenende am Rande des Parteitags der AfD mitteilte. Eine Art „Suche nach einer würdigen Gedenkkultur“. Manchmal, so gab er sich noch kurz nachdenklich, lande man auch in einer Sackgasse. Als Jugendlicher sucht und landet man in so mancher Sackgasse. Als erwachsener und ausgebildeter Geschichtslehrer und Familienvater von drei Kindern sollte man seine Suche vielleicht langsam beenden. Jemand muss Höcke aus der Sackgasse heraushelfen. Ich möchte ihm ermutigend zurufen: Es gibt immer einen Weg raus! Einfach mal die Deutsche Wurststraße verlassen! Das wäre mein Vorschlag.

Ich las in den letzten Wochen wieder sehr engagierte Gebrauchsanweisungen von meinen Kollegen in den Medien. Wir sind ja neuerdings alle nicht mehr Berichterstatter und Kommentatoren, sondern Politikpädagogen. Man dürfe die AfD nicht stören, nicht belästigen, nicht beleidigen, nicht provozieren, nicht ermahnen, nicht belehren. Man soll nach politischen Konzepten fragen und dann abwarten. Worauf? Keine Ahnung. Genau habe ich es auch nicht verstanden. Warten darauf, dass sie sich schämen, weil sie noch keine Position zum Dieselmotor formuliert haben?

Ich fragte Widmann, wie das Mini-Mahnmal wirke. Ich sah es nämlich nur auf Fotos. Er sagte, wer in dem schmalen Garten in der Größe eines Badetuches stünde und auf den Theaterbeton schaue, könne gar nicht anders, als von Theaterkunst zu sprechen. Die Stelen seien sehr kulissenhaft. Zitate eben, die stellvertretend für den Diskurs stehen. Man muss unweigerlich lachen, wenn man bedenkt, wie viel Hysterie die bloße Abbildung des Berliner Mahnmals in Höckes Garten auslöste. Die Stelen in Bornhagen sind nämlich Kulisse, der Ekel Höckes gegen das Gedenken an den Holocaust aber ist echt.

Wenn ich gelegentlich schreibe, dass es sich bei der AfD um Rechtsextreme handelt, bekomme ich dutzendfach entgegen geschmettert, dass ich miese, kleine, antideutsche Schlampe endlich zur Kenntnis nehmen solle, dass es sich bei der Partei lediglich um die politische Strömung des Nationalkonservatismus handele.

Widmann erklärte mir, wo ich suchen müsse, um den Begriff „nationalkonservativ“ zu verstehen. Nämlich in der deutschen Parteienlandschaft im Kaiserreich und später in der Weimarer Republik. Ich las und lernte: bei der Deutschkonservativen Partei und später der Deutschnationalen Partei, die daraus hervorging, handelte es sich um radikale Antisemiten, die gegen jede Form der Sozialdemokratie im Speziellen und des Parlamentarismus im Allgemeinen waren. Hinzu kam der Wunsch nach einem starken Nationalismus, in dem der Deutsche als Teil einer Volksgemeinschaft ist.

Wenn man weiß, dass Teile der Deutschnationalen später in der NSDAP landeten, dann schrillen natürlich die Alarmglocken. Also meine miesen, kleinen antideutschen Glocken läuten da jedenfalls gewaltig. Abgesehen davon ist es ziemlich albern, sich in der Gegenwart ein politisches Etikett zu verpassen, das aus einer Zeit stammt, die eine Antwort auf ein politisches System formulierte, das es heute so nicht gibt. Es gibt keinen Kaiser, die Monarchie steht nicht zur Debatte, die Abschaffung des Parlamentarismus auch nicht, die „Judenfrage“ scheint insofern fürs Erste geklärt, dass man sie nicht schon wieder vernichten will. Oder doch?

Es ist eine merkwürdige Zeit. Die deutschen Schriftsteller sollen schreiben, aber bitte nicht politisch werden. Die deutschen Künstler sollen Bilder malen, aber bitte keine politischen Motive. Die Kirche soll beten, aber bloß nicht politisch werden. Die Schauspieler sollen schön spielen, singen, tanzen, aber bitte nichts Politisches. Nur der Weltfußballverband, die FIFA, soll gefälligst die Menschenrechtsfrage in Katar ansprechen. Und Anke Engelke darf ruhig beim Eurovision Song Contest in Aserbaidschan wieder mal eine politische Protestnote bei der Punktvergabe einwerfen. Ja, und die Berlinale soll natürlich Tag und Nacht Deniz Yücels Gesicht einblenden, um damit für Freiheit in der Türkei zu demonstrieren. Und was in Russland derzeit läuft, auch richtig schlimm. In Ungarn, Polen, die ganze Welt, alles schlimmschlimm.

Wir Deutschen aber, wir sind 80 Millionen Demokratieverliebte. Klar, es gab Ausrutscher. Sackgassen. Doch wer auf dieser Welt ohne politische Sünde ist, knacke die erste Wurst.

Deshalb: Entspannen Sie sich! Pürieren Sie sich einen Glühweinsmoothie! It’s me-time.
Wir haben gerade keine Regierung. Sturmfrei sozusagen. Um nicht zu sagen: sturmfrei, sozial und national, um auch einmal meiner Suche nach einer würdigen Schlussformel Ausdruck zu verleihen.

Liebe Grüße aus dem Theaterhauptquartier, Abteilung Kolumne und Propaganda

Ihre Mely Kiyak

Mehr Theater Kolumnen …
Hier können Sie Kiyaks Theaterkolumne abonnieren.