NSU Tribunal – Wir klagen an

Wir klagen an

Das “NSU Tribunal” ist eine Gruppe bestehend aus Betroffenen, Künstlern, Politaktivisten und vielen anderen, die nicht mehr nur Zuschauer sein wollen, sondern Handelnde.
Vom 17. – 21. Mai 2017 wird das Tribunal “NSU Komplex auflösen” im Schauspiel Köln den Staat und seine Organe mit einer Vielzahl von Fragen und Missständen konfrontieren: mittels Workshops, Ausstellungen, Theater, Diskussionen, Filmen und Performance Lectures. Mehr unter: nsu-tribunal.de

Ich wurde gebeten, die Anklageschrift zum Auftakt zu verfassen.

Wir klagen an

Im Namen der Bundesrepublik Deutschland und seiner Gesellschaft der Vielen – die wir hier vertreten:

Es sind Akten vernichtet worden. Akten, aus denen hervorgegangen wäre, welche Rolle der Rechtsextremismus in diesem Staat spielt. Wer seine Vorder- und Hintermänner sind, worin seine Pläne, seine Ideologie und vor allem sein höheres Ziel bestehen.

Die Akten sind vernichtet worden, nachdem sich der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund aus bisher unerklärten Umständen am 4. November 2011 enttarnte. Eine Woche später, am 11. November, leitete der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren ein. Allerdings ohne ein Moratorium über die Löschung von Dateien und Akten aus dem Bereich Rechtsextremismus zu verhängen. Erst im Juli des darauffolgenden Jahres wurde ein solches Verbot offiziell eingeführt. Bis dahin wurden kontinuierlich mit dem NSU in mittelbarem und unmittelbarem Zusammenhang stehende Informationen im Bundesinnenministerium, im Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Militärischen Abschirmdienst und ihrer unterstellten Behörden vernichtet.

Nachkonstruierbar sind Daten und Zeiträume, die gelöscht wurden. Bekannt sind die Namen der zuständigen Behörden und Mitarbeiter. Die Motive für die Löschungen aber sind ungeklärt.

Was genau stand in diesen Akten? Welche Einblicke in die Verflechtungen des Staates mit rechtsextremen Gruppen hätten daraus abgeleitet werden können?

Waren die in den Akten erhaltenen Ereignisse so gefährlich für den inneren Frieden in diesem Land, dass man diesen Teil deutscher Geschichte lieber im Dunkeln wissen wollte? Gibt es Vorgänge in diesem Land, die den Gründungsgedanken der Bundesrepublik beschädigen? Nämlich, dass alle Bundesorgane einander kontrollieren, damit nie wieder Unrecht im Namen des Staates an Minderheiten, Gruppen, Einzelnen geschieht?

Die massive Behinderung der Aufklärung ergibt nur dann einen Sinn, wenn sich in den gelöschten Wahrheiten ein größeres Unrecht als das bekannte Unrecht verbirgt.

Deshalb klagen wir an.
Deshalb stellen wir uns hinter die zahlreichen Opfer des Rechtsextremismus, die nicht nur dem NSU und seinem weitumspannenden Netz zum Opfer fielen, sondern auch diesem Staat. Einem Staat, der vor der Wahl stand, sich für seine Bürger, die Wahrheit und die Freiheit einzusetzen und sich stattdessen auf Seiten der Lüge und der Vertuschung in Gesellschaft jener befindet, die eine Ideologie verfolgen, die wir nicht verstehen und nicht verstehen müssen.

Wir klagen an, weil unser Glaube an den Gründungsgedanken dieses Staates, der sich in dem Schlagwort „Nie wieder“ manifestiert, unerschütterlich ist. Wir klagen an, weil wir dieses Versprechen gebrochen sehen und verteidigen wollen.

Wir geben uns nicht damit ab, dass der Rechtsextremismus, dessen Macht bis in die tiefsten Verästelungen der Behörden in Bund und Ländern reicht und säuberlich mit Aktenvermerken und Stempeln versehen ist, den Anschein von Recht und Ordnung vorspielt.

Wir geben uns nicht damit ab, dass seit nunmehr fünf Jahren ein Untersuchungsausschuss nach dem nächsten eingesetzt und jahrelang aus verstümmelten Akten, Notiz für Notiz Exegese betreibend immer wieder diese eine Schlussfolgerung gezogen wird: dass bei allen Unfällen, Pannen und Unklarheiten, bei allem Verschwinden von Beweismaterialen aus Asservatenkammern und dem Ableben von Zeugen stets kurz vor ihren Vernehmungen, vollumfängliche Verfassungstreue und gründliche Aufarbeitung gegeben sei.

Wir wollen wissen was war.

Die Wahrheit lässt sich nicht verstümmeln und amputieren und in Tausende von Einzelheiten fragmentiert verschleiern. Die Wahrheit ist das höchste Gut eines Staates. Auf ihrem Fundament baut das Vertrauen auf, das die Gesellschaft vor Zwietracht und Misstrauen bewahrt. Die Wahrheit lässt sich nicht wegstempeln, abheften, schreddern. Die Wahrheit ist stärker als alle Ideologie. Sie wird ans Licht kommen, wir beschleunigen diesen Vorgang lediglich.

Laut Befund des Bundestages stellt der gewaltbereite Rechtsterrorismus und Neonazismus ein gesamtgesellschaftliches Problem dar. Wir können nicht erkennen, dass daraus politische Konsequenzen folgen. Die Zersetzung der Demokratie von innen schreitet voran, ohne dass ein Zusammenhang zwischen dem NSU und der Etablierung der völkisch-nationalen Ideologie gesehen wird.

An Émile Zola erinnernd:

Die Leute, die wir anklagen, kennen wir nicht, wir haben sie nie gesehen, wir hegen weder Groll noch Hass gegen sie. Sie sind für uns nur Erscheinungen, Symptome der Krankheit der Gesellschaft. Und die Handlung, die wir hier vollziehen, ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen.

Wir können nicht mehr warten und klagen an. Wir tun das als Bürger, deren Mandat sich nicht aus Betroffenheit und Verzweiflung speist.

Unser Mandat wurde uns von Artikel 1, Absatz 1, 2 und 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland erteilt.

Wir wagen es also, ein Schwurgericht aufzustellen und die Untersuchung vor sich gehen zu lassen!

Mely Kiyak für das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“

 

Mehr Theater Kolumnen …
Hier können Sie Kiyaks Theaterkolumne abonnieren.