Neuerdings soll man sich von Gräueltaten distanzieren. Das lese ich jetzt häufiger. Man schlägt die Zeitung auf und wieder fordert ein Journalist, dass sich bestimme Gruppen unmissverständlich distanzieren sollen. Zum Beispiel vom Kopf abschneiden, wie es die Terrormiliz „Islamischer Staat“ handhabt. Meistens handelt es sich bei den zu distanzierenden Gräueltaten um solche, die von Islamisten begangen werden. Zu distanzieren hätten sich die Muslime. Obwohl Islamisten zur Gruppe der Islamisten gehören und Muslime zur Gruppe der Muslime, fordert nie jemand Islamisten dazu auf, sich von islamistischen Gewalttaten zu distanzieren. Es gibt auch Islamisten, die Gewalt ablehnen. Islamisten, die Islamismus als Staatsform in Gesetze und Regularien manifestieren wollen. Davon gibt es in dem einen oder anderen Staat ganz schön viele. Mit einigen dieser Islamisten hat unsere Bundesregierung übrigens diplomatische Beziehungen. Weil, so lange sie keine Köpfe abschneiden und Geld haben unsere Güter und Waffen zu kaufen… Jedenfalls werde ich nie verstehen, warum sich Muslime von Islamisten zu distanzieren hätten. Denn Muslime sind Gläubige und Islamisten sind politische Terroristen, also Kriminelle. Die Ideologie hinter der kriminellen Tat besteht immer aus einem konstruierten Weltbild. Die Konstruktion, also das Zurechtbiegen der eigenen Tat, um die Schuld moralisch zu rechtfertigen, beziehungsweise die Frage der Schuld gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist ja das Wesen der Kriminalität.
Wäre es denkbar, dass sich sämtliche Männer von den Taten wie ihn der „Islamische Staat“ begeht, distanzieren? Denn Kopf abschneiden wird immer von Männern ausgeführt. Terror wird fast ausschließlich von Männern begangen.
Die Forderung nach Distanzierung ist natürlich eine neue Form des Rassismus. Denn nun sind unbescholtene Bürger nur noch dann unbescholtene Bürger, wenn sie sich fortwährend distanzieren. Andernfalls ist davon auszugehen, dass sie heimlich Grausamkeit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit befürworten. Hinter jedem Klingelschild, wo Yilmaz oder Yildirim steht, wohnt ein Bürger, der sich nicht lautstark distanziert hat. Es sei denn, wie neulich. Als gläubige Muslime auf der Straße in Berlin gebetet haben. Als Zeichen gegen ihre Distanzierung von Grausamkeiten, wie ihn der „Islamische Staat“ begeht und gleichzeitige Bitte um Solidarität, wenn auch sie mal von Grausamkeit betroffen sind.
Wann ist das passiert? Dass aus Mitbürgern und Nachbarn Verdächtige werden können? Die Besuch von Regierungsvertretern bekommen, weil sie sich so brav distanzieren (und vor aller Augen in den Staub warfen, pardon, aus den „dunklen Hinterhöfen“ heraus krochen und auf der Straße „gegen Terror und Rassismus“ beteten). Bekloppte Welt!
Ja, die Distanzierung ist ein kompliziertes Geschäft. Und gleichzeitig eine Modeerscheinung.
Sicher dauert es nicht mehr lange und auch ich werde aufgefordert, mich zu distanzieren. Wo ich doch eine unbescholtene, brave und staatstreue Kolumnistin bin. Hiermit distanziere ich mich fürsorglich und präventiv von künftigen Gräuelkolumnen. Sollte mein Kollege Harald Martenstein jemals etwas schreiben, was mit der freiheitlichen Grundwerteordnung unseres Landes nicht übereinstimmt, distanziere ich mich unmissverständlich von ihm und werde als Zeichen meiner Distanzierung meine Freitagskolumne auf der Straße schreiben statt in meiner Hinterhofschreibstube. Vielleicht besucht mich dann unser neuer Kulturstaatssekretär Tim Renner oder Frau Professor Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, für ein gemeinsames Foto am bundesweiten Aktionstag „Kolumnen gegen Terror und Rassismus“, zu dem ich hiermit aufrufe.
Ich finde, dass sich alle Fleischesser von den Gräueltaten der Fleischindustrie distanzieren sollen. Denn alle Gewalt, die an Tieren begangen wird, wird im Namen von Nichtvegetariern begangen. Schlachtvieh wird nur deshalb bestialisch gehalten und barbarisch umgebracht, weil Menschen gleichzeitig Fleisch essen und wenig dafür bezahlen möchten. Apropos Tierschutz:
Wovon ich mich unbedingt distanziere sind natürlich Gräueltheaterstücke, die an unserem Haus aufgeführt werden. Dieses neue Sexstück, von dem ich in der letzten Kolumne sprach, war eine Absonderlichkeit sondergleichen. Der Schauspieler Thomas Wodianka, in den ich heimlich verliebt war, „war“ muss ich sagen, denn eine naive Schwärmerei ist nach diesem Anblick nicht mehr möglich, trug ein durchsichtiges, schwarzes Netzteil. Auf den Kopf stülpte er sich einen aufblasbaren Tierkopf. Ein Elefant? Ein Einhorn? Ich konnte es auf die Distanz nicht erkennen. Der Rüssel ragte gleichsam wie das Minarett der Sultan-Ahmed Moschee in die Luft. Von dem anderen Rüssel spreche ich erst gar nicht. Kurz: ich distanziere mich davon. Denn kein Elefant dieser Welt hat es verdient, für Sexspielchen an unserem Theater derart karikiert, missbraucht und stigmatisiert zu werden.
Alles Gute wünscht Ihre, sich hoffentlich umfassend genug distanzierte und distanzierende Mely Kiyak