Ich möchte Ihnen einen wunderbaren schlichten Text vorstellen, der 1949 von Bertolt Brecht geschrieben wurde und den Titel Kinderhymne trägt. Er heißt aber nicht deshalb so, weil er für Kinder ist, sondern von künftigen Kindergenerationen gesungen werden sollte. Keine vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schaute Brecht resigniert auf seine Generation und nannte sie verloren. Kinderhymne von Bertolt Brecht Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land. Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin Sondern ihre Hände reichen Uns wie andern Völkern hin. Und nicht über und nicht unter Andern Völkern wolln wir sein Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein. Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir‘s Und das Liebste mag‘s uns scheinen So wie andern Völkern ihrs. Die Führung der DDR beauftragte 1949 Bertolt Brecht und Johannes R. Becher unabhängig voneinander, eine Hymne zu verfassen. Beide Texte wurden von Hans EisIer vertont. Der Auftrag an Brecht wurde aber nicht mehr weiterverfolgt, weshalb es sein Text nur in die DDR-Zeitschrift Sinn und Form im Jahr 1950 schaffte. Man fand Bechers Text besser, stimmiger, toller. »Auferstanden aus Ruinen«, beginnt Becher und will offensichtlich an die Auferstehung und Erlösung Christi erinnern, und macht weiter mit »… und der Zukunft zugewandt«. Bewusst knüpfte Becher nicht an die Wortwahl der Arbeiterbewegung an, sondern bediente sich aus dem rhetorischen Besteckkasten der christlich-abendländischen Metapherntradition. Obwohl die Verbindung mit Bildern aus dem Christentum und der Nation eine Hauptfigur des aggressiven deutschen Nationalismus ist, der im Übrigen nicht nur zu den »Ruinen« Deutschlands, sondern halb Europas geführt hatte. »Auferstanden aus Ruinen« klingt so gar nicht nach Täterschaft, sondern ist Heldenmythos pur. »Der Zukunft zugewandt« enthält angesichts der gewaltigen Verdrängungsmechanismen nach 1945 weder Mahnung und Bitte nach Erinnerung und Aufarbeitung, sondern ist eine unmissverständliche Parole im Sinne von, »Alles hinter sich lassen. Vergeben, vergessen, nach vorne schauen!« Und dann noch »Schlagen wir des Volkes Feind«. Wer um Himmels Willen soll denn 1949 der Feind der DDR gewesen sein? Und wer bitteschön war denn bis gerade eben der Welt gegenüber feindselig gesonnen? Brecht las Bechers Text und kotzte aus allen Poren. Gallegetränkt notierte er: »Wieder wird der Nationalismus ganz naiv akzeptiert; Hitler hatte nur den falschen. Becher hat natürlich den richtigen«, notierte er in sein Arbeitsjournal. Wer bei Becher nach schwülstig-christlicher Vergebungsprosa fahndet, wird schnell fündig. Noch 1947 schrieb er: »Das Sterben deutscher Jugend im ersten Weltkrieg, die Millionenopfer im zweiten Weltkrieg werden nur dann einen Sinn erhalten, wenn wir diesem unsagbaren Leid, diesem namenlosen Sterben einen Sinn geben: In der Herausgestaltung dessen, was Volk und Reich nottut, in der Schöpfung eines neuen freiheitlichen Deutschlands. Dann mögen die Glocken der Auferstehung läuten. Dann mögen wir singen: Nun danket alle Gott.« Brecht kommt mit weniger Worten aus. Bei ihm heißt es »beschissene Zeit«. Bei Becher schmeckt alles nach Hoffnung und der Sehnsucht nach unbeflecktem Vergangenheitskitsch. Brecht hingegen erkannte die Gefahr: »Nach allem, was man aus Deutschland hört, läßt man es an einer wirklichen Kritik des Nationalsozialismus fehlen. Man verläßt sich auf die vernichtende Wirkung des Mißerfolgs; je länger aber dieser Mißerfolg zurückliegt, desto mehr verselbständigt sich natürlich die mißliche Gegenwartslage …«. Als ich das las, war ich noch einmal mehr hingerissen von Brechts vorausschauendem Blick. Sein Text zeugte von dem Versprechen, bescheiden und demütig »mit Anmut, Mühe, Leidenschaft und Verstand/ nicht über und nicht unter andern Völkern« sein zu wollen. Der Westteil des Landes hatte in den ersten Jahren der Bundesrepublik als nationales Symbol nur die schwarz-rot-goldene Flagge. Eine Nationalhymne wurde durch die Kontrollratsgesetze der alliierten Militärregierung in Deutschland untersagt. Womöglich traute man den Deutschen nach ihren schrecklichen Menschheitsverbrechen kein gesundes Maß an Vaterlandsliebe und Pathos mehr zu. Wenn ich Johannes R. Bechers gottesseligen, geschichtsvergessenen, vor Selbstbewusstsein strotzenden, schwülstigen Text lese, hatten die Alliierten vielleicht nicht ganz Unrecht damit, den Deutschen zu misstrauen. Was aber bei offiziellen Anlässen singen? Als der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer 1953 von seinen amerikanischen Gastgebern in Chicago begrüßt wurde, hatten die auch keinen Schimmer, was sie spielen sollten. Weil Adenauer aus dem Rheinland kam, kramten sie nach rheinländischem Kultur- und Liedgut und spielten den Karnevals-Saufklassiker »Heidewitzka, Herr Kapitän«. (»Mem Müllemer Böötche fahre mer su jän, mer kann su schön em Dunkle schunkele«) Adenauer schämte sich für den Karnevalsschlager als offizielles Begrüßungslied in Grund und Boden und wollte unbedingt die alte Hymne behalten. Dem gefährlichen Anschlusscharakter des Textes an die NS-Ideologie mitsamt seiner Historie, wollte er damit vorbeugen, dass er die dritte Strophe gesungen wissen wollte. Als gäbe es auf der Welt keine anderen Lieder! Es passte zu Adenauer, dass er an dem Lied festhielt. Das Anknüpfen ans alte Denken, alte Singen, die alten Reflexe, das Weitermachen, als wäre nichts gewesen, ist symptomatisch für ihn und die weitere Geschichte dieses Landes. Nun könnte man argumentieren, ist doch nur ein Lied, welche Bedeutung hat das schon? Aber ich denke anders. Die Nationalhymne ist ein Symbol. Sie kann dazu beitragen, den Charakter eines Landes zu formen. Ein bescheidenes Lied das dem Volk den Wink gibt, haltet den Ball flach. Brechts Kinderhymne wurde vergessen. Erst nach der Wiedervereinigung erinnerte man sich daran, als die Idee aufkam, eine neue gemeinsame Hymne zu singen. Viele Stimmen aus Ost und West – von Wolf Biermann, Stephan Heym bis Martin Walser – plädierten für Brechts Lied, doch fand sich keine Mehrheit dafür. Mich beschäftigt die Tatsache, dass Schriftsteller überhaupt Hymnen schreiben. Ein Künstler hat sich für den Staat keinen Nationalscheiß auszudenken. Wie kann man einem Land einen Lobgesang dichten, nachdem es Millionen Menschen verbrannt, erschossen, vergast hat? Bei Brecht heißt es wenigstens: »…, dass die Völker nicht erbleichen, wie vor einer Räuberin«. Aber »Räuberin« ist angesichts der Tatsache, dass dieses Volk nicht drollig geschummelt und stibitzt, sondern Konzentrationslager und industriellen Mord erfunden hat, natürlich auch arg niedlich. Andererseits, wer sonst sollte so einen Text dichten? Beamte? Ein Bürgerrat? Die Kunst darf auf keinen Fall an der Seite der Politik oder einer Regierung stehen. Was aber, wie aktuell der Fall, die Regierung massenweise Künstler dazu auffordert, ja, fast anbettelt, sie im Kampf für die Demokratie zu unterstützen? Bis vor einigen Monaten, erhielt ich wöchentlich Einladungen von allen möglichen Parteien und Politikern, mich mit ihnen im Namen der Demokratie zu verbünden. Was tun? Nicht hingehen und sie im Stich lassen? Oder mitmachen? Doch wenn man sich einmal zu ihnen ins Boot gesetzt hat, wie glaubwürdig wäre dann noch Kritik, die man an ihnen üben würde? Andererseits sollte man angesichts des kolossal schwindenden Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit und ihrer Organe nicht sowieso aufhören, die demokratisch legitimierte Regierung zu kritisieren? Würde das ihre geschwächte Position nicht weiter destabilisieren? Unterstützt man sie, ist es Propaganda. Kritisiert man sie, hilft man vielleicht, sie zu stürzen. Kunst und Widerstand sind ein Begriffspaar, das in der Diktatur eine ganz klare Position inne hat. Aber in der unmittelbar kurzen Zeit davor? Wie Widerstand leisten in einer Demokratie, von der jeder weiß, dass diese Demokratie, so wie wir sie in den letzten 70 Jahren in Westdeutschland kennengelernt haben, sehr bald Vergangenheit sein wird? Darüber habe ich einen Abend lang mit Philipp Ruch in meiner Show Mely Kiyak hat Kunst gesprochen. Der Abend stand unter dem Titel »Kunst als Verfassungsschutz«. Es gibt keinen anderen politischen Aktionskünstler, der in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland mehr Trubel, mehr Aufregung, mehr notwendige Randale veranstaltet hätte, als er und sein Zentrum für politische Schönheit. Wo Philipp Ruch Menschenrechtsverletzungen sieht, ist keine Partei vor seiner stärksten Waffe sicher: der Fiktion. Er lädt sie mit Ideenreichtum, Spott, Esprit und Mut. Eine Ausgabe später saß ich mit Jan Böhmermann zusammen und wir plauderten auf der großen Bühne über »Witz als Widerstand«. Jan sagt manchmal ironisch an das zeitgeistige Geschwafel unserer Zeit anknüpfend, dass etwas »hilarious« sei. Dieser Abend, an dem ich ihn außerdem mit Max Czollek und Lütfiye Güzel überraschte, die ihre Gedichte lasen und als ich dann noch den fabelhaften Musiker Niels Frevert hinzu zauberte, den Jan so sehr verehrte, und der »Pseudopoesie« auf der Gitarre spielte und sang, kippte Jan, dieser harte, gefühllose Hund komplett aus den Latschen vor Freude. Es war HILARIOUS. Ich strebe an diesen Abenden keine höhere Erkenntnis an. Wir, meine dichtenden singenden, neugierigen Freundinnen und Freunde, kommen zusammen, unterhalten uns, lesen, musizieren. Das ist es. Jetzt am Montag war Herbert Grönemeyer mein Gast. Wir lasen uns gegenseitig Gedichte vor und sprachen über Trauer, Verlust und Schmerz als Bedingung fürs Menschsein. »Wucht und Wehmut« hieß der Abend. Eda Tanses und ihre Band spielten Lieder und als die Duduk ertönte, sah ich, wie nicht nur Herbert vor Glück zuckte, sogar ich, der ich ein noch härterer Hund als Böhmi bin, musste etwas in mein Hammerhartsein hineinschlucken. Ich habe lange nachgedacht, was mir so gefällt, und was das ist, was ich so gerne zeigen will. Ich glaube, ich bin grundsätzlich begeistert von Menschen, die auf dem Fundament ihrer Werte, ausgehend von ihren ethischen und ästhetischen Standpunkten aus, etwas vollbringen. Die etwas machen. Sie geben mir so viel Kraft, Mut und Zuversicht. Und damit höre ich nun auf, in Serie über meine Salons zu schwärmen. Man kann alles auf der Seite kunst.gorki.de nachstöbern. Mein ägäischer Grafiker Deniz Keskin und ich geben uns richtig Mühe dabei, dass man einen Eindruck davon bekommt, was wir da treiben. Ach so. Das will ich noch erzählen. Ich nahm natürlich keine einzige Einladung auf staatlicher Bühne an. Bei Thomas Mann las ich den sehr schönen Begriff der »literarischen Kooperationsknechte«. Da steckt schon alles drin und weist den richtigen Weg. Danke Thommi, bist und bleibst a Schatzerl! Bis ganz bald grüßt Ihre Mely Kiyak |
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