Liebes Publikum,
es war eine Weile still um mich geworden. Aber nicht, weil ich dem Gorki den Rücken gekehrt hätte, sondern im Gegenteil.
Monat um Monat veranstalte ich die sehr schöne Reihe namens Mely Kiyak hat Kunst im kleinen Studio des Theaters. Dafür lade ich mir Freundinnen und Freunde ein und wir tun das, was wir am besten können. Über den Beruf sprechen. Darüber, wie es ist, Musik zu machen, zu dichten oder politische Aktionskunst zu veranstalten. Bislang waren zu Gast: der Musiker Dirk von Lowtzow (Tocotronic), die Dichterin Lütfiye Güzel, das Recherchekollektiv CORRECTIV und der politische Aktionskünstler Philipp Ruch. Am 22. Juni kommt Jan Böhmermann.
Der erste Abend trug als Titel folgende Frage „Wo ist unsere Kunst zu Hause?“. Dirk von Lowtzow und ich haben sie zwei Stunden lang umfassend erörtert und kamen zu einer klaren Antwort. „Immer da, wo man nicht sucht“.
Wenn Sie jetzt denken, „Verflixt, das habe ich verpasst“, seien Sie nicht traurig. Hier (kunst.gorki.de) gibt es eine Wundertüte, wo Sie die Abende nachstöbern können. Gemeinsam mit meinem ägäischen Ex-Grafiker, Deniz Keskin, den ich mit großem Barocktheater vor Jahren an dieser Stelle verabschiedet hatte, präsentieren wir ein Poesiealbum der Erinnerung, in dem man alle Mely Kiyak hat Kunst-Abende nachblättern kann. Die Intendantin hat zu meiner allergrößten Freude Deniz temporär vom freien Markt zurückgekauft. Er gestaltet die Reihe grafisch und hat als ästhetisches Element für meine hochgradig intellektuell künstlerische Leistung einen Vogel gezeichnet. Mit einer Brechstange im Schnabel. Als Holzschnitt. Ich wusste immer, dass Deniz mich mag. Dennoch war ich überrascht zu sehen, für wie fragil, subtil und komplex er mein Schaffen einordnet.
Mit Deniz zusammen kommt aus mir immer noch der beste Schabernack heraus. Das ist wie damals in der Schule. Da hatte ich auch so einen Spezi. Ohne ihn hätte ich das Abitur nie geschafft. Mit ihm war es ein Festival des Klamauks (permanente Standpauken vor dem Direktorium inklusive). Deniz gestaltet außerdem noch die Kulisse und jeden Abendzettel und überhaupt alles mit einer Detailversessenheit, als gälte es Pompeji abzupinseln. Sein einziger Makel ist, dass er Ägäiker ist. Aber gut, wer bin ich, dass ich seine Herkunft „judge“?
Die Abende beginnen stets mit einer dreistündigen Grundsatzrede, in der ich die Kunst verteidige. Dann wird geplaudert, gelesen, Musik gemacht. Hinterher gibt es einen Büchertisch. Also alles wie bei feinen Leuten. Trotzdem meckert das Publikum gelegentlich: „Ham Se noch ‘nen Nebenjob?“, fragte mich eine alte Schachtel später im Foyer. Was, wieso?, fragte ich zurück. „Na, weil Se durch Ihre Vorlesung durchjeflitzt sind, wie wenn Se noch wo hinmüssen.“ Ja gut, dachte ich, die ZDF-Amüsierabende mit Giovanni Zarella dauern im Schnitt sieben Stunden, das Publikum wird damit zum Dösen dressiert. Spieleabende bei Pro7 laufen mit Werbung 112 Stunden. Anschließend wird alles in Schnipsel geschnitten und auf Instagram, YouTube und Co. dem Publikum wiedergekäut. In meiner Show kommen wir zügiger voran. „Kann ich ditt später irgendwo nachlesen“, ist auch so ein Satz, mit dem ich in letzter Zeit häufiger konfrontiert werde. Neulich habe ich auf einer Lesung, zwischen den Leseteilen, ein, zwei „kleene Charmangsen“ abgelassen. Hinterher fragte mich ein Herr, wo er das nachlesen könne, „Ditt war zu schnell“. Ich verwies auf den Büchertisch mit meinen Büchern, da könne er ganz viel nachlesen. „Nee, die Bücher interessieren mich nicht“, sagte er, „Watt se vor dem Lesen jesacht hat, DITT will ick nachlesen.“ Der alten Schachtel im Foyer habe ich übrigens auch geantwortet: „Muss noch bei Rossmann abkassieren gehen.“ „Ditt habe ick mir jedacht“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen, „Datt Se davon nicht leben können, is ooch klar.“
Also gut, hier werden nun der Reihe nach alle Eröffnungsreden veröffentlicht. Eventuell habe ich während meiner Reden hier und da weitere vom Redemanuskript abweichende Sottisen oder Pointen abgesetzt. Die kann man nicht nachlesen. Allet andere ja.
Vielleicht bis bald mal wieder im Theater!
Ihre Mely Kiyak
Ein Lob auf die Uneindeutigkeit
(gesprochen am 17. Februar 2024 im Maxim Gorki Theater)
Guten Abend und seien Sie alle herzlich willkommen zu Mely Kiyak hat Kunst, heute mit Dirk von Lowtzow.
Wir alle sind darauf konditioniert, dass eine sogenannte „Reihe“ in einem Theater einen wichtig klingenden theoretischen Unterbau behauptet, möglichst mit Gegenwartsbezug, gesellschaftspolitisch relevant, mit Fachwissen über Militäretats oder Rentenfonds, am besten mit Witz und Esprit. Nichts davon ist heute Abend der Plan. Sollte entgegen allen Plänen ein Bonmot vom Baum der Nichterkenntnis herabfallen, betrachten Sie es bitte unbedingt als Betriebsunfall.
Vorneweg gibt es – wie in den Pressemitteilungen angedroht, eine dreistündige Grundsatzrede von mir – (realistisch dauern sie nur 10 Minuten) anschließend werden zwei Handwerker zusammensitzen, sich gegenseitig vorlesen und darüber sprechen, wofür sie Spezialisten sind: Dichtung an Werktagen. Eventuelle Gegenwärtigkeitsaspekte sind rein zufällig, strengstes Kreisen ums eigene Ich hingegen vollkommen beabsichtigt.
Warum?
Darauf gäbe es viele Antworten. Eine der dringenderen Gründe ist meine seit einiger Zeit akute Abneigung gegen politische Bekenntnisse von Künstlerinnen und Künstlern. Sie sollen explizit als unmissverständliche Klarheiten gelesen werden, und bewirken doch nur das Gegenteil.
Kunstmachen ist ja nichts anderes, als sich auszudrücken. Sobald der Ausdruck den Weg in die Öffentlichkeit findet, geschieht etwas, das Gilles Deleuze, ein verstorbener französischer Kunsttheoretiker und Philosoph so formulierte: Sich verwirklichen heißt auch, ausgedrückt zu werden. Was meint, die Bekenntnisse werden dutzendfach gedeutet, wodurch die politische Pose die eigentliche Absicht der Eindeutigkeit verliert und beliebig ausgelegt, umgedreht, oder absichtlich missgedeutet wird.
Sie werden später verblüfft feststellen, wie oft wir die Frage der Eindeutigkeit heute im Laufe des Abends noch streifen werden. Daniel Tyradellis schrieb in dem Buch „Zur Immanenz der Kunst“, dass Kunst als Gegenstand der Sehnsucht nach individuellem Ausdruck, Intensität, Wahrheit und Sinn, an der Schwelle des Denkbaren betrachtet werden muss. Das Kunstwerk macht erfahrbar, dass noch die privateste Frage nur über den Weg des Öffentlichen gestellt werden kann und umgekehrt; dass noch das allgemeinste philosophische Problem sich nur als Ereignis eines Lebens konkretisiere. Das ist sehr komplex und bietet viele Möglichkeiten zur Reflexion.
Bislang konnte ich mein Unbehagen gegen die politischen Bekenntnisse dieser Zeit innerhalb der Kunstszene nicht gut in Worte fassen. Woher das Ressentiment? Ich liebe politische Kunst, ich liebe soziale Plastiken, auch die politische Satire, Glosse oder Kolumne, ein Lied mit einer Botschaft, können, sollen, müssen politisch relevant, sein, aber sprechen sie doch immer innerhalb eines künstlerischen Rahmens mit eigenen Regeln und Filtern. Ich liebe politisch denkende Künstler, aber sobald jemand von ihnen das autonome ästhetische Gerüst, das jedes Kunstwerk innehat, verlässt, schwillt mein Widerwille an. Weil es dann das Gegenteil von individuellem Ausdruck ist, denn politische Positionierungen funktionieren nur in Sprachen, Codes, Chiffren und Denkarchitektur der Anderen, nicht der eigenen Ideen.
Gerade stellt der Zeitgeist mal wieder unerfüllbare Ansprüche an die Kunst, nachdem er sie jahrzehntelang als überflüssiges Dekor verspottet hatte. Explizit werden Künstler gezwungen, konkret zu werden. Und wenn sie sich weigern, werden sie konkret gemacht. Ich möchte Ihnen das gerne am jüngsten Beispiel aus der Literatur zeigen:
In der 1. Ausgabe der eben erst gegründeten Literaturzeitschrift „Berlin Review“ hat sich die israelische Schriftstellerin palästinensischer Herkunft, Adania Shibli nach einer langen Phase des Schweigens mit einem Essay an die Öffentlichkeit gewendet. Vielleicht erinnern Sie sich, was zuvor geschehen war: 2022 erschien in deutscher Übersetzung Shiblis Roman „Eine Nebensache“, der 1949 spielt, und von einem palästinensischen Mädchen erzählt, das von einem israelischen Soldaten vergewaltigt und ermordet wird. Der zweite Teil des Romans handelt von einer Journalistin, die diesen Fall in der Gegenwart recherchiert. Genauso einen Fall hat es 1949 in der Negev-Wüste gegeben, wo ein Beduinenmädchen von einem israelischen Soldaten vergewaltigt und erschossen wurde. Dieser Fall ist in Israel sehr bekannt und war lange vor dem Buch ausführlicher Bestandteil der dortigen Medien. Die Besonderheit an dem Roman aber ist, dass alle Figuren in diesem Text ohne Gesicht und ohne Namen bleiben.
Shiblis Roman wurde international eine herausragende literarische Qualität bescheinigt, er war für die wichtigsten Literaturpreise der Welt nominiert. Unter anderem für den amerikanischen National Book Award und den britischen International Booker Prize und auch in Deutschland sollte er vergangenes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Literaturpreis der litprom prämiert werden. Die litprom wurde als „Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika“ gegründet. Vielleicht interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Shibli in Jerusalem und Berlin lebt. Nun geschah aber vor dieser Preisverleihung das Attentat vom 7. Oktober, in der die Terrororganisation Hamas 1200 Zivilisten ermordete und 250 Geiseln nahm. Seitdem bombardieren die israelischen Streitkräfte Gaza, es ist de facto ein Krieg, der die palästinensische Bevölkerung trifft, allerdings adressiert ist an die Hamas und mit dem Ziel geführt wird, Hamas-Kämpfer zu töten.
Shibli hat mit alledem nichts zu tun, sie hatte ihren Roman vor diesen Ereignissen geschrieben. Sie bekam den Preis nicht, weil ein Redakteur einer linken Zeitung behauptete, dass sie im September 2011 an einer Debatte des Schweizer Forums für Menschenrechte teilnahm und dabei neben einer BDS-Vertreterin auf dem Podium saß. In ihrer publizistischen Abwesenheit wurde eine beispiellose Kette an Unterstellungen gesponnen. Jeder wusste zu begründen, warum sie den Preis nicht verdiene. Allerdings besaß niemand den Mut, laut auszusprechen, was permanent suggeriert wurde: Shiblis Roman habe literarisch den Boden für reale Attentate vorbereitet.
Die Kontroverse nahm ihren Lauf, und obwohl mehr als 600 Verleger und internationale Autoren von Rang, zum Beispiel Anne Enright, Richard Flanagan, Ian McEwan, auch Nobelpreisträger wie Abdulrazak Gurnah oder Olga Tokarczuk, sich dafür einsetzten, damit Shibli diesen in der Literaturwelt und im Weltmaßstab eher unbedeutenden Preis doch noch erhalten könne, erhielt sie ihn nicht. Zurück blieben ein Eklat grotesken Ausmaßes und eine schweigende Autorin.
Nun also meldet sie sich nach fast einem halben Jahr das erste Mal zurück, und ich zitiere einzelne Passagen aus dem Kontext gerissen, aber Sie sind klug und werden sie in eine innere Ordnung bringen:
Shibli notiert:
Als jemand, der selbst oft den Boden der Tatsachen verlässt, um in der Imagination nach Lebensadern zu suchen, ist die Praxis, auf Unwahrheiten zu bauen, nichts, was ich anprangern würde. Nur wünschte ich mir, man würde sie als Fiktionen anerkennen, statt sie als wahre Tatsachen auszugeben.
Relevant wird Literatur nicht, wo sie Veränderungen bewirkt, sondern dort, wo sie Intimität und Nachdenken ermöglicht; sie bringt uns anderen wieder näher; kann ein Raum sein, in dem wir, zwischen Schmerz und Lebendigkeit, zu uns selbst und zu diesen anderen in Beziehung treten; ein Leitfaden dafür, uns ein besseres Leben vorzustellen.
Ich hatte schon länger darüber nachgedacht, an solchen öffentlichen Veranstaltungen überhaupt nicht mehr teilzunehmen. Immer mehr erschöpfte mich das hohe Maß an Mitteilsamkeit über den Schreibprozess, das sie verlangen, während das Schreiben selbst nach Schweigen verlangt.
Seit ich ein Kind bin, ist Literatur eine ethische Grundlage für mich. Auf Arabisch ist das Wort für Ethik und Literatur ein und dasselbe: adab.
Die Sprache steht unter Beschuss, kann missbraucht und gebrochen werden. Die Frage ist, wie man einer Sprache trauen kann, die einem auch Schmerzen zufügt, die dich einsam und sprachlos vor dem Grauen zurücklässt. Das alles brachte mich dazu, nach Erzählformen zu suchen, die eine solche Sprache trotz allem erlaubt, nach den unendlichen Möglichkeiten, die sie zwischen ihren Schichten versteckt, nach all dem, was deiner Liebe zu ihr und der Liebe, die sie vielleicht noch für dich hat, erwachsen mag.
Bitte lesen Sie den ganzen Text, er ist wirklich bewegend.
Mir geht es nicht darum, ob die Vorwürfe an dem Roman oder der Autorin begründet sind oder nicht.
Mich interessiert die Sehnsucht des Publikums nach realer Eindeutigkeit im fiktiven Kontext, und im Kontrast dazu, die nahezu defensive, fast schüchtern vorgetragene Rede einer Schriftstellerin, die ihr Recht auf eine eigene Sprache und individuellen Ausdruck verteidigt. Ihr Denken bewegt sich innerhalb eines künstlerischen Ordnungssystems. Das Thema ihres Romans handelt übrigens nicht vom Nahostkonflikt, sondern von sexueller Gewalt als Kriegswaffe und ihren Bedingungen. Deshalb keine Gesichter, keine Namen. Nur so ist es universell, mehrschichtig.
Das Anliegen des Romans wurde in Deutschland (und zwar nur hier!) unter der gewaltigen Forderung der deutschen Öffentlichkeit nach politischen Bekenntnissen erstickt. Shibli saß – so las ich es – noch nie auf einem politischen Podium, nur dieses eine Mal, damals in der Schweiz.
Für mich zeigt dieses Beispiel, dass die Sprache der Kunst sich gegen die Sprache der Nichtzweifler und Nichtzögerer verteidigen muss.
Kunst reagiert auf Krieg, Vertreibung oder andere politische Katastrophen manchmal Jahre oder Jahrzehnte später – oder aber im Voraus.
Kunst ist Abschweifung.
Kunst ist manchmal auch einfach nur Ikigai, also das Betreiben einer Sache um ihrer selbst willen.
Kunst ist Reflexion und Prozess, Verzweiflung, Suche, Scheitern oder schöner Schein. Mit Kunst betritt man einen selbst gestalteten Raum, der für gewöhnlich kein großes gesellschaftliches Ansehen genießt. Doch wenn die Realität sich zwischen Künstler und Werk schiebt, kann man gar nicht so schnell gucken, wie sich der Raum der Fiktion und Phantasie mit Besatzern im Namen der Eindeutigkeit füllen wird.
Und Poesie? Was genau ist Poesie? Vor allem ist sie nicht faktisch und real, aber wenn sie herausragend ist, dringlich und wahr. Einer der besten in dieser Zunft ist heute Abend mein Gast. Ein Spezialist der artifiziellen Geheimniskrämerei.
Er ist ein fabelhafte Punkrocker und Indie-Denker, der mit angemessen schlechter Laune gegen alles Arschgeigige dieser Welt musiziert, zum Beispiel: Viren, Depression,Kleinkunst. Der in seinen Liedern mal schlafwandelt, mal wild ist. Niemand hat es geschafft, ihn und seine Band dazu zu bewegen, ihre Songtexte doch bitte einmal ausführlich zu erklären und wirklich nichts an ihm ist und war in den vergangenen 30 Jahren seines Schaffens peinlich. Und als ob das alles nicht schon frech und unverschämt genug ist, tritt er seit einigen Jahren folgerichtig auch noch als exzellenter Autor in Erscheinung.
This boy, meine sehr verehrten Damen und Herren, is tocotronic, bitte begrüßen Sie mit einem freundlichen Guten Abend, Dirk von Lowtzow!
Soweit die Rede. Bis nächstes Mal, erneutes Tschüss und auf bald,
Ihre Mely Kiyak
Linksammlung:
Mely Kiyak hat Kunst mit Jan Böhmermann: https://www.gorki.de/de/mely-kiyak-hat-kunst-5
Die Website zur Reihe: https://kunst.gorki.de
Adania Shiblis Essay in der Berlin Review: https://blnreview.de/ausgaben/2024-02/adania-shibli-als-das-monster-freundlich-war-litprom-buchmesse
Grafik: Deniz Keskin
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