Am Wochenende tagten Autorinnen und Autoren, auf der von Sasha Marianna Salzmann und Max Czollek kuratierten Literaturkonferenz »Utopie Osteuropa«. Das vom Haus der Kulturen der Welt initiierte und vom Gorki Theater unterstützte Treffen, fand im Literarischen Colloquium Berlin am Wannsee statt.
Die Schriftstellerin und Gorki Theaterkolumnistin Mely Kiyak hielt die Rede:
Wo Bekenntnisse herrschen, liegt ein Mangel an Sprache vor
»Utopie Osteuropa« ist ein Begriff, der mich in den vergangenen Tagen ziemlich in Not gebracht hat. Osteuropa ist neben seiner geografischen Beschreibung vor allem eine politische Kennzeichnung. So wie »der Westen« einen politischen Zugehörigkeitsbereich markiert, der die Hierarchien und Selbstgewissheiten bereits in sich trägt, und vor allem durch Abgrenzung funktioniert.
»Der Westen« grenzt sich zum Beispiel vom »globalen Süden« ab, der natürlich keine Himmelsrichtung beschreibt. Denn andernfalls zählten Australien, Antarktis und Argentinien dazu, denn sie sind die südlichsten Länder und Kontinente. Der »globale Süden« löst als Synonym den Begriff der »Dritten Welt« ab, die wiederum aus der »westlichen« Perspektive betrachtet, den industriellen und wirtschaftlichem Entwicklungsstatus abbildet, vor allem aber eine gesellschaftskulturelle Rangordnung in sich birgt, und – natürlich, Sprache funktioniert so – sagte man less developed Länder und meinte less developed Menschen. Dem gegenüber stand »der Ostblock«, der heute Osteuropa genannt wird, womit wieder Länder unabhängig ihrer politischen, sprachlichen und kulturellen Merkmale, zusammengefasst werden.
Würden wir die alten Begriffe für die alte Welt beiseite wischen und neu etikettieren und beispielsweise strikt nach politischen Merkmalen sortieren, wäre der Begriff der neofaschistischen Staaten (also alle Staaten, die von antieuropäischen, antidemokratischen, antipluralistischen, antizionistischen oder antisemitischen, islamfeindlichen, rassistischen, rechtsextremen, völkischen oder nationalistischen Regierungen geführt werden) so viel treffender und würde eine Vielzahl Länder und Regionen zusammenfassen, die geografisch zwar weit auseinander liegen, von Brasilien bis Skandinavien, von Nord bis Südeuropa, nahezu der ganze westeuropäische Kontinent, Russland, Ungarn, Belarus, Aserbaidschan, Türkei, und so weiter, aber es wäre eine treffendere Zusammenfassung. Denn was all die Länder miteinander gemein hätten, wäre ihre innere Verfassung.
Der Neofaschismus hat einen enggefassten Begriff von Ehe, Familie, Staat, er hat eine obsessive Abwehrhaltung zur unabhängigen Presse, Kunst und Wissenschaft. Freiheit, Würde und Selbstbestimmung ist der Feind der neofaschistischen Führer, oder kurz: der freie Mensch. Diese Charakteristika sind so stark, und unsere gängigen Begriffe und Zusammenfassungen so schwach.
Und noch etwas habe ich mich gefragt: Darf man als Berliner Autorin, die die letzten Jahrzehnte frei von politischen Umbrüchen, unbehelligt von Krieg, Vertreibung und Geheimpolizei, einen Traum, beziehungsweise eine Utopie skizzieren, der anderer Leute Leben betrifft?
Habe ich mit meiner Herkunft und meinem Lebensmittelpunkt Deutschland, das Recht, für beispielsweise eine Ukrainerin, eine Vision zu entwickeln, ich phantasiere: »Freundschaft und Solidarität mit den Nachbarstaaten« die bedeuten würde, dass sie ihre Kriegstraumata und Erfahrungen beiseite wischen, und sich mit Russland versöhnen soll?
Von Deutschland aus, einem friedensbewegten Land, das bisher alle Weltkriege anzettelte, lassen sich Utopien leicht vom warmen Sofa aus skizzieren. Diese Anmaßung ist mir jedoch fremd.
Als Autorin weiß ich: Der Hass braucht nur eine Sekunde um seinen Weg ins Herz zu finden, aber Generationen, um diesen Ort wieder zu verlassen. Frieden geschieht nicht als Utopie, Frieden wird selten geschlossen, weil die Argumente so überzeugend sind. Erst wenn man kriegsmüde geworden ist, müde der gegenseitigen Angriffe und Denunziationen, wenn man sich satt gehasst hat, wenn die Wirtschaft und zu viele Menschenleben vollends zerstört am Boden liegen, wächst ein Keim der Zuversicht. Abgesehen davon ist Frieden sowieso ein großes, geheimnisvolles Wort. Die Abwesenheit von Krieg bedeutet nicht Frieden.
»Utopie Osteuropa« ist also ein großes Konferenzmotto.
Hätten wir in Deutschland nicht auch eine Utopie bitter nötig? Ich lebe in einem Land, in dem die Zeitungen voll von ostdeutschen Positionen sind, die die DDR mit ihren Bespitzelungen, Geheimpolizei und Foltergefängnissen mit gemütlichen Kaffeenachmittagen aufzurechnen versuchen. Oder wie die Autorin, Liedermacherin und DDR-Oppositionelle Bettina Wegner in einem Dokumentarfilm, der vergangenes Jahr Premiere hatte, nach ihrer Aussiedelung aus der DDR (sie wurde aus ihrem Staat herausgeekelt) auf die Frage, ob sie im Westen ihr Glück fand, ihre Sehnsucht nach der DDR damit begründete, dass früher alles »menschlicher« gewesen sei.
Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller beschrieb für das Schweizer Magazin Republik in einem großen Essay mit dem Titel »Die Freiheit könnte uns gestohlen werden« ein Ostdeutschland, das den Aufbruch in die Demokratie als Verlust betrachtet und den politisch selber herbeigeführten Wunsch nach Freiheit als »importierte Demokratie« diskreditiert. Auch Herta Müller ist empört über die Verklärungsbemühungen der Ostdeutschen, die
»das Gehorchen und Schweigen, die Willkür der Partei und ihrer Stasi (…) als unbeschwertes Leben verklärt. Man jammert über die Umbrüche in den ostdeutschen Biografien – und das bedeutet doch, dass die Freiheit als Einbruch in einen staatlich programmierten Lebenslauf beklagt wird«.
Ich habe das Konferenzmotto unseres Autorentreffens so verstanden, dass es darum geht, den Begriff Osteuropa, der fast ausschließlich mit Diktatur konnotiert ist, um zeitgenössische Impulse zu ergänzen und natürlich als Möglichkeit des Austauschs zu nutzen, wo wir sprechen, einander vorlesen und zuhören.
Und wie ich mein Denken in den vergangenen Tagen bemühte, um ein passendes Thema für die Rede zu finden, und in meiner Vita kramte, fiel mir noch etwas ein, das ich – unglaublich, aber wahr! – fast vergessen hätte:
Es ist noch nicht so lange her, nämlich fast zehn Jahre, dass ich gemeinsam mit drei Autoren (Antje Rávik Strubel, Nikol Ljubić und Tilman Spengler) zweimal in Folge, die Europäische Schriftstellerkonferenz in Berlin organisierte.
Beide Male luden wir Autoren aus 24 europäischen Ländern ein, (von Island bis Israel, Türkei, Russland, Ukraine, Osteuropa), beide Male tagten wir drei Tage lang, beide Male in Berlin. Einmal hieß unser Motto »GrenzenNiederSchreiben«.
Damit meinten wir, nicht nur die Grenzen niederzuschreiben, im Sinne von protokollieren oder aufschreiben, sondern wir wollten sie schreibend stürzen.
Uns Autorinnen und Autoren zeichnet aus, dass wir großzügiger denken können. Unsere Imaginationsfähigkeit ist nicht mit Stacheldraht, Grenzschutz und Selbstschussanlage umzäunt. Wir wissen, dass nicht nur Menschen über Grenzen wandern, sondern Grenzen über Menschen. Wir können Menschen gehen machen, oder bleiben, wir können Grenzen verschieben oder ziehen. Unser literarisches und historisches Gedächtnis zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Welt nicht in Ländern und Regierungen begreifen, sondern in aufeinanderfolgenden Epochen von kulturellem Wandel und natürlich von Geschichten.
Ich möchte Ihnen nur ganz kurz skizzieren, was uns vor zehn Jahren bewegte, die wir aus unterschiedlichen Ländern und Erfahrungen kommen. Vielleicht erscheint es Ihnen genauso wichtig wie mir, dass wir nicht jedes Jahrzehnt neu anfangen, sondern uns aufeinander beziehen, uns in literarischen Denktraditionen verorten und das begonnene Gespräch weiterdenken.
Wir, die 2014er und 2016er Gruppe, wollten mit denjenigen nachdenken, die bereits auf dem 1988er Literatentreffen tagten. Da fand nämlich die erste europäische Schriftstellerkonferenz statt, ebenfalls in Berlin. Selbstverständlich luden auch wir Autoren aus Osteuropa ein. Wir luden die ungarische Autorin Ágnes Heller (Jahrgang 1929) und György Dalos (Jahrgang 1943) ein und ließen uns von ihren damaligen Utopien erzählen. Dalos erzählte uns, was die osteuropäischen Bürger von ihren osteuropäischen Autoren unterschied:
»Den gemeinsamen Traum von Europa gab es sowieso nicht und wird es auch nie geben. Aber 1988 war zumindest ein Teil Europas, und das war der östliche Teil, der eindeutig und sehr stark an diesem Traum von ganz Europa festhielt.
Aber dass es nach zwei Weltkriegen und dem Zusammenbruch der Diktaturen im Osten möglich wurde, das war doch eine der größten und wichtigsten Ereignisse des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Das heißt, sie wollen etwas wiederherstellen, was in meinen Augen nicht mehr wiederherzustellen ist: alte Grenzen. Und Grenzen wollten wir nie.
Wir wollten die Grenzen nicht verändern, wir wollten sie überflüssig machen. Und das ist natürlich ein völlig anderes Projekt.«
Die kroatische Autorin Ivana Sajko drückte sich so aus:
»Angesichts einer Gesellschaft, die immer mehr in Richtung Angst, Hass und Hysterie driftet, müssen wir Schriftsteller eine Alternative aufzeigen: Okay, vielleicht haben wir keine politische Macht. Aber wir haben einen Willen, eine Vision einer besseren Gesellschaft, wir haben ein Werkzeug, das die Welt schöner macht. Wir haben einfach Stil – und deswegen werden wir gewinnen.«
Die ukrainische Kollegin Oksana Sabuschko erzählte aus ihrem Land über ein wiedererwachtes Interesse an Literatur:
»Wenn die Menschen ihr Vertrauen in die Politiker verlieren und ihr Leben auf dem Kopf steht, weil internationale Abkommen nichts mehr wert sind, weil nur noch Macht und Gewalt herrscht, dann entdecken die Menschen Kultur und Literatur als eine sehr starke Quelle moralischer Kraft.«
Und der in der Schweiz lebende russische Autor Michail Schischkin, der von dort aus, die Vorgänge in der Ukraine und Russland beobachtete, erzählte etwas sehr Ähnliches wie seine ukrainische Kollegin, nämlich:
»Literatur hat die Aufgabe, das Gefühl der menschlichen Würde im Leser zu wecken«.
Und weiter:
»Ich glaube nicht, dass ein Schriftsteller ein Europaprojekt unterstützen muss, er muss etwas tun, was andere nicht können.«
Das war übrigens eine der ganz großen Fragen, die wir damals kontrovers diskutierten: Wie beschützen wir unsere Kunst vor unseren politischen Idealen?
Der flämische Schriftsteller Jonas Terrin betonte die heilende Wirkung von guten Geschichten. Seine Einschätzung:
»Wenn der Leser schon vorher weiß, was der Autor ihm erzählen wird, ist es das Todesurteil für jedes Buch. Ich schreibe Bücher über Menschen, die ich nicht verstehe. Ich lasse mich von meiner Geschichte, von meinen Figuren leiten. Leser sind irrational: Man kann ihnen nicht einfach Argumente liefern, und schon schließen sie sich unseren Vorstellungen an. Wie erreichen wir die Leute, die nicht lesen? Indem wir einfache, klare Geschichten über Menschen schreiben, egal ob sie links oder rechts sind. Die Stärke eines Schriftstellers liegt in seinen Texten, nicht in seinen politischen Überzeugungen.«
Zwei Jahre später war Angst unser großes Thema. Die oppositionelle syrische Künstlerin und Kinderbuchautorin Kefah Ali Deeb, träumte angesichts der engen kulturellen Verflechtungen zwischen ihrer Heimat und Zentraleuropa davon, jeden einzelnen Europäer zu fragen, was genau ihm an den syrischen Flüchtlingen eigentlich Angst mache.
Die polnische Autorin Joanna Bator ging angesichts der anti-liberalen Flüchtlingspolitik in ihrer Heimat hart mit sich ins Gericht:
»Wir, die linksorientierten Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler Polens, wir haben schlicht versagt. Wir sind Übersetzer, die das, was in der Gegenwart passiert, in Sprache übersetzen sollten. Wir haben die Ängste der Menschen in Polen nicht verstanden und nicht respektiert. Aber die Leute hatten ein Recht darauf, Angst zu haben. Denn sie wussten nichts über die Flüchtlinge. Sie haben sechs Jahrzehnte lang im Kommunismus gelebt. Sie hatten die Erfahrung einfach nicht, wie es ist, mit anderen Menschen zusammenzuleben.«
Ich habe nach den beiden Schriftstellerkonferenzen und im Laufe der vergangenen Jahre ein paar Lehren für mich gezogen.
- Es gibt in der Künstlerschaft kein großes, verbindendes Wir, aber ein großes Bedürfnis danach, sich auszutauschen, und voneinander etwas zu erfahren, das über die Bücher hinaus geht.
Mir war es bis dahin immer peinlich, dass ich als Künstlerin ein ausgeprägtes politisches Denken mitbrachte. Als wir unsere Konferenzen abhielten, warf man uns, die wir in Deutschland leben und Deutsch als Arbeitssprache benutzten, oft unser politisches Bewusstsein vor; gelegentlich hielt man uns auch für Agenten der Heimatländer unserer Eltern oder Propagandisten. Wir sollten wohl besser Liebesromane schreiben oder Migrationskitsch, und ansonsten schweigen. Als ich sah, wie insbesondere die Kolleginnen aus Osteuropa selbstverständlich Kunst und Politik im Schreiben und Sprechen vereinen konnten, war ich von dieser Scham endgültig befreit.
- Wir müssen als Künstler, die aus vielen Ländern, Sprachen und Traditionen kommen, auf die Vielstimmigkeit und Multikulturalität bestehen. Beide Male haben wir ein literarisches Manifest verfasst, indem jede und jeder formulierte, was Europa für ihn bedeutet. Wir haben aus diesen unterschiedlichen Gedanken nicht einen Gedanken formuliert, sondern die unterschiedlichen Auffassungen nebeneinandergestellt.
Mich macht die Fülle an Petitionen, unterschrieben von Künstlern, ganz gleich in welcher Angelegenheit, unglücklich. Wir sind Geschichtenerzähler. Wo Bekenntnisse herrschen, liegt ein Mangel an Sprache vor. Es ist, ob würden man einem Balletttänzer schwere Winterstiefel anziehen und ihn zwingen, damit zu tanzen. Nie im Leben kann es diesen einen Gedanken geben, der mich und 100 weitere Autoren miteinander verbindet. Es braucht die Vielfalt an Anschauungen, die sich daraus speisen, wer, wann, wo gelebt hat. Wir sollten unsere Ansichten, unser Talent und unsere Kunst, nicht in offenen Briefen limitieren. Die Art wie wir über die Welt denken und urteilen, geht (hoffentlich) über die drei obligatorischen Absätze eines jeden politischen Briefes hinaus.
- Die Sprachen sind unser Kapital. Der Nationalismus zeichnet sich durch die Herrschaft der Einstimmigkeit und Eindeutigkeit aus. Eine Fahne, eine Sprache, eine Kultur, eine Religion, eine Erzählart, und so weiter. Der wahre Emanzipationskampf besteht darin, dass wir aus verschiedenen Erzähllandschaften und Zungen kommen und das schützen sollten. Wir sollten uns voreinander werfen und einander die Sprachen und Stile schützen. Dieser Kampf beginnt für mich bereits dort, wo aus unseren Texten Bücher werden und unsere Verlage uns nicht in unserem Sinn kategorisieren, und wo Kritiker uns, bedingt durch ihr beschränktes Leserepertoire zurückstutzen wollen auf ihren Wissenshorizont und ihren engen und alten Kanon.
- Autorin sein, Mensch bleiben
Das primitive Denken in binären Lagern widerspricht mir als Autorin. Wer die Konflikte auf »für Russland oder die Ukraine«, »für Israel oder für Palästina« herunter zu brechen versucht, um nur zwei Beispiele der Gegenwart zu zitieren, hat aufgehört verstehen und ergründen zu wollen.
Wenn ich an die brutalen Morde und Menschenplünderungen der klerikalfaschistischen Hamas in Israel denke, dann muss ich mein Denken und Fühlen nicht sehr bemühen: Ich litt, als die Islamisten und Dschihadisten Kurdinnen angriffen, als sie Alevitinnen angriffen, Jesidinnen, Iranerinnen, ich leide, wenn es israelische Schwestern betrifft. Aber nicht, weil sie Kurdinnen oder Jüdinnen sind, sondern weil sie Frauen sind und ich bin auch eine. Sie sind Menschen wie ich es bin.
Insbesondere die brutalen sexuellen Verstümmelungen und Zerstörungen an Frauen und Mädchen sind eben nicht einfach nur ein »Hamas- Angriff« oder »Überfall«. Ich sehe darin nicht nur ein Verbrechen, sondern auch Machtanspruch und Herrschaft über eine Zukunft, die Frauen aus der Öffentlichkeit verbannen will. Dieses Gespräch würde ich gerne mit Künstlerinnen aus Palästina führen und hören, was sie zu dieser Überlegung beitragen können. Ob sie das erkennen, was ich erkenne, was ihre Erfahrungen mit ihrer Gesellschaft sind.
Es fällt mir nicht schwer, diesen Grundgedanken der Frauenunterdrückung, den die islamistische Gewalt zweifelsohne als Handschrift in ihren Verbrechen trägt, als Zukunftsvision in den konservativen bis rechtsextremen Regierungen der Welt zu sehen, gewissermaßen als das, was uns blühen wird. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist auf besorgniserregende Art gefährdet. Und ja, vielleicht fällt mein Urteil routinierter und sicherer aus, weil ich, seit ich sprechen kann, Geschichten über diese Gewalt kenne, weil sie die DNA meines kulturellen Erbes sind, von nichts anderem handeln die Gedichte meiner Kindheit: Von der Unterdrückung der Frauen, dem Kampf um kulturelle Selbstbestimmung und dem erbitterten Widerstand gegen Despotie. Ich feiere jedes Jahr das kurdische Neujahrsfest Newroz. Dieses Fest ist immer auch ein Gruß an die Islamisten, Faschisten und Nationalisten.
Die Gewalt der Soldaten oder die Gewalt der Islamisten, oder die Gewalt, die flüchtende Frauen quer durch Osteuropa erleben, gehört für mich ausgeschrieben und ausbuchstabiert. Wie das gelingt, hat Maria Stepanova in Mädchen ohne Kleider eindrücklich, schmerzhaft, poetisch und zutiefst artifiziell gezeigt. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Gedicht gelesen, das auf schönste Weise vom Schlimmsten zu erzählen vermochte.
Hat das die Frage »Israel oder Palästina« beantwortet? Natürlich nicht.
- Geschichte und Geschichten schützen
Der Kampf um kulturelle Identität ist keine Petitesse. Wenn ein Volk seine Sprache nicht mehr sprechen darf, dann wird ihm seine gesamte kulturelle Identität genommen. Seine Musik, seine Sagen, seine Lieder, Gedichte, Epen, alles das, was den Menschen ausmacht. Wir haben als Minderheiten, egal in welchem Land, ein Recht darauf, unsere Geschichten zu erzählen. Und: Niemand darf unsere Geschichten plündern. Wir müssen darauf bestehen, dass wir unsere Figuren so zeichnen, wie wir sie sehen. Dies ist ein Umstand, den insbesondere deutsche Kolleginnen nicht immer verstehen, wenn sie von Deutschland aus die Welt betrachten. Nicht alle Völker leben in einem Land, mit Goetheinstituten, die mit staatlich finanzierten Mitteln Sprache und Kultur verteidigen, Theateraufführungen im Ausland finanzieren, Übersetzungen fördern, deutsche Schulen im Ausland finanzieren. Manche Kriege und Grenzkonflikte haben ihren Ursprung in der Verteidigung kultureller Selbstbestimmung. Es geht bei Krieg, oder Grenzkonflikten nicht bloß um die Frage von Grenzziehungen, es geht um die Frage, in welcher Sprache, also aus welchem Blickwinkel Geschichte erinnert wird. Es geht auch um Demokratie oder nicht Demokratie. Der größte Unterschied zwischen diesen beiden Regierungsformen ist die Frage, wer deine Geschichte erzählen darf.
In der Demokratie sind es die Bürgerinnen und Bürger, die Historiker, die Künstler, die erzählen, was ihnen widerfuhr. In einer Diktatur erzählt dein Führer dir, wer du bist, was dich ausmacht, was du erlebt und was du zu fühlen hast.
Es sind düstere Zeiten, und also ist diese Zeit wie gemacht für Kunst und Mut und Schönheit.
Ich möchte noch eine letzte Anekdote aus unseren vergangenen Literaturkonferenzen erzählen:
Ein isländischer Dichter verteidigte seine Kunst und seine Entscheidung, den Waldboden zu beobachten und daraus Gedichte zu machen. Er bestand darauf, dass seine Pflicht als Künstler, gerade in Zeiten drohenden Faschismus, darin bestehe, das Gras zu besingen. Daraufhin meldete sich ein kurdischer Lyriker, der neben seinen Gedichten europäische und amerikanische Literatur ins Kurdische übersetzen ließ und meinte, dass er früher auch einmal so dachte. Egal was geschah, er widmete sich dem weltliterarischen Kanon, übersetzte alles stoisch ins Kurdische, weil er meinte, seinem abgehängten Volk damit einen Anschluss an die Welt zu ermöglichen.
Eines Tages aber, so erzählte er weiter, schaute er aus dem Fenster, und sah, wie die Weltliteratur durch seinen Garten lief. Jesidische Flüchtlinge aus dem irakischen Sindschargebirge flohen vor der Terrormiliz IS, durch das türkische Kurdistan, Richtung Europa, über sein Grundstück und über die Straßen, die er täglich lief.
Er sagte: »Ich hörte auf Kafka zu übersetzen«. Er begriff, dass gerade die künftige Literaturelite mit ihrer Weltliteratur im Gepäck ins Exil floh. So wurde er schlagartig in die Geschichten seiner Gegenwart zurückgeholt. Er fand, es gibt eine Zeit, das Gras und die Wolken zu besingen und eine Zeit, mit dem Stift an der Seitenlinie zu stehen und den Weltuntergang zu beschreiben.
Damals dachte ich, jedes Wort, das er sagt, ist richtig. Wie kann man sich angesichts der geschundenen Mädchenkörper und die Väter, die ihre Kinder in Sicherheit bringen wollen, und dafür den Kontinent zu Fuß durchpflügen, auf den Boden legen und das Moos beobachten und bedichten?
Heute denke ich: Jetzt, genau jetzt, ist es an der Zeit den Waldboden anzuschauen. Mikrobetrachtungen über Moose, Flechten, Käfer festzuhalten. Denn irgendwer muss den Menschen zeigen, was am Ende aller Kriege und Kämpfe auf sie wartet.
Die tröstende Wirkung von Poesie in Musik, Lyrik und Literatur braucht ihre Anwesenheit in der Dunkelheit und nicht im Licht.
Die Kunst ist auch dafür da, zu zeigen, wofür es lohnt, sich anzustrengen.
Ich spreche nur für mich: ich muss wissen, wofür sich Angst und Verzicht, Witz und Widerstand lohnen. Jemand muss mir das Gras zeigen.
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