Fallobst

An der großen Kreuzung bei der Poliklinik steht seit einigen Wochen ein Jongleur. Wenn die Autos während der Rotphase an der Ampel warten, stellt sich der Artist auf die Kreuzung und versucht drei Mandarinen oder Apfelsinen oder anderes rundes Obst, selten Saisonware übrigens, in die Luft zu wirbeln und dann wieder aufzufangen. Ich habe ihn noch kein einziges Mal dabei beobachtet, dass ihm sein Kunststück gelang. Seine Früchte landen immer auf dem Boden. Der Witz an der ganzen Sache ist, dass sein Fallobstspektakel nicht als Witz gemeint ist. Aus vollkommen unerklärlichen Gründen wird er von den Autofahrern weder weggehupt noch ausgelacht, es hat ihn aus Protest auch noch niemand angefahren. Aber Geld verdient er mit seiner »Kunst« auch nicht.

Seit einigen Tagen wendet er einen Trick an. Zumindest glaubt er wohl, dass es einer wäre. Er hat sich sein künstliches Bein unterhalb des Knies abgeschnallt. Nun humpelt und springt er während der Rotphasen auf die Kreuzung, wirft sein Obst hoch, und natürlich gelingt es ihm immer noch nicht zu jonglieren. Doch nun kriecht er äußerst theatralisch seinem unjonglierten Obst hinterher und geht anschließend auf dramatisch gekonnte Weise abkassieren, indem er sich von Motorhaube zu Motorhaube festhaltend durch den wartenden Verkehr hangelt. Manchmal legt er, Kunst ist anstrengend, seinen Stumpf kurz auf den Vorderlichtern eines Autos ab, macht eine kleine Verschnaufpause, bevor er sein Publikum weiter nach Geld abgrast. Und immer noch zahlt niemand.

Ich schaue mir das Spektakel unglaublich gerne an. Denn die grimmigen Berliner Autofahrer spenden noch nicht einmal dann Honorar, wenn einer in der Rotphase eine komplizierte Herzoperation durchführen würde, wie sollten sie jemals einen Euro rausrücken, wenn einer sein Obst zu Matsch »jongliert«. Und immer denke ich auch, die Rotphase an dieser Kreuzung ist ungewöhnlich lang. Zu lang.

An der S-Bahnstation, wo ich gelegentlich aussteige, sitzt ein Musiker. Er kann weder singen noch beherrscht er ein Musikinstrument. Seine Gitarre hatte, als er die Karriere auf der S-Bahnbrücke begann, ursprünglich einmal drei Saiten. Es hängt mittlerweile nur noch eine Saite an der Gitarre, die er seit vorigem Jahr nun aber wenigstens richtig herum hält. Er spielt oder zupft die Saiten nicht. Er schlägt sie, oder besser, er haut sie mit der flachen Hand. Er ohrfeigt die Gitarre regelrecht. Sein Takt ist strikt unrhythmisch, eine Tonart zu greifen, kommt ihm nicht in den Sinn. Den Gitarrenhals hält er fest umklammert, als würde er im Meer ertrinken, und jemand wirft ihm eine Rettungsgitarre zu, nach der er mit aller Kraft greift. Seine faszinierend monotone Spieltechnik ergänzt er durch ein ungewöhnlich beschränktes Repertoire an Liedern. Entweder ist es Bella Ciao oder die deutsche Nationalhymne. Da er Deutsch nicht als Muttersprache spricht, brauchte ich eine Weile, um aus »eieiei und recht und ei« die Hymne herauszufiltern.

Berlin birgt eine Menge ungewöhnliche Künstler und ja klar, ich bin ja selber eine, die sich Worte ohrfeigend durchs Leben dichtet, aber wie sagte meine Friseurin Aynur so treffend: »Ganz ääährlisch? Niemand in dieser Stadt kann Haare schneiden, deswegen is egal wo du schneiden lässt, ich oder Aysun oder Ayten, wir sind alle Mittelmaß, aber auf hohem Niveau. Also setz dich abla, ich schneide jetzt.«

Es wünscht einen herrlichen Sommer,

Ihre Theaterkolumnistin Mely Kiyak

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