Skandale Randale

Auch ich, liebe Theaterkolumnen-Gemeinde, melde mich aus der Spielzeitpause zurück. Ich habe die vergangenen Wochen dafür genutzt, Skandalmeldungen im Zusammenhang mit Ausländern, Migranten und Flüchtlingen zu sammeln, die sich im Nachhinein als Lüge herausstellten. Vielleicht kann man als Faustregel Folgendes festhalten. Je skandalöser der Skandal rund um Ausländer und Co. eingestuft wird, desto wahrscheinlicher ist, dass von dem Vorwurf am Ende nichts mehr übrig bleibt.

Erinnern sich noch alle an den sogenannten „BAMF-Skandal“? Angeblich, so wurde es in allen Medien berichtet, war die Bremer Außenstelle des BAMF eine Art Touristenservice-Point für jesidische Flüchtlinge. In einer ganz bestimmten Abteilung mit einer ganz bestimmten Dienststellenleiterin habe man zu Unrecht positive Asylbescheide erlassen. Busseweise seien die Flüchtlinge aus anderen Landkreisen und Bundesländern rangekarrt worden und hätten sich ihre Bewilligungen abgeholt. Busseweise! Geld sei angeblich geflossen – Korruption! –, sogar eine Liebesgeschichte zwischen dem Anwalt der Flüchtlinge und der großzügig austeilenden BAMF-Mitarbeiterin wurde kolportiert. Das ganze Gerücht kam übrigens nur deshalb zustande, weil eine Kollegin die andere anschwärzte. Anne Will, die Barbara Salesch der Öffentlich-Rechtlichen, brachte dazu in ihrer Talkshow im vergangenen Mai eine Art öffentliche Gerichtsverhandlung („Systemversagen oder Einzelfall?“). Da war noch kein einziger Vorwurf bestätigt, aber es wurde vorsorglich schon einmal so diskutiert, als ob doch.

Der Innenminister versprach den „handfesten Skandal“, wie er es nannte, persönlich „aufzuräumen“. Der Asylskandal galt für ein paar Wochen als der größte in der Bundesrepublik. Um es kurz zu machen: Man hat nicht nur die 18.000 Fälle in Bremen erneut überprüft, sondern 100.000 Entscheidungen aus ganz Deutschland. Ergebnis: 0,7 Prozent der positiven Bewilligungen wurden fälschlich erteilt. 99,3 Prozent der positiven Entscheidungen stellten sich auch nach erneuter Prüfung als korrekt heraus. Hier und da las man winzige Meldungen darüber. Ich selber habe, um die Texte finden und entziffern zu können, zwei Lupen übereinander gelegt.

Mich hat das Ergebnis der Überprüfung durch die Behörden nicht überrascht. Die Vorstellung, dass sich ein aus Afrika oder dem Orient eingereister Geflohener wie an einem All-you-can-eat-Buffet ein Croissant und eine Aufenthaltsgenehmigung abholt, ist eine Disneyversion von Deutschland. Sie hat mit der Realität nichts, mit der von Rechtsextremen verbreiteten Propaganda aber sehr viel zu tun.

Falls jemand an wirklichen Skandalen interessiert ist, hier eine ganz andere Zahl. Sie betrifft die Fehlerquote unter den abgelehnten Asylanträgen. Knapp ein Drittel aller Ablehnungen, die von Januar bis September 2018 erteilt wurden, waren nicht korrekt. Im Jahr zuvor waren es sogar 40 Prozent. Das betrifft Tausende Asylbewerber jährlich. Und bedeutet auch, dass ein Geflohener, der eine Ablehnung bekommt, durchaus davon ausgehen muss, dass ihm Unrecht geschieht. Die Wahrscheinlichkeit ist einfach sehr groß. Der politische Druck sei zu hoch, schreibt die Süddeutsche Zeitung, die diese Zahlen veröffentlicht hat, über die möglichen Gründe für eine derart hohe Fehlerquote. Weshalb „Im Zweifel lieber gegen den Flüchtling“ entschieden wird als zu seinen Gunsten. Die Geschichte, dass Flüchtlinge und Migranten sich zu Unrecht in Deutschland aufhalten, ist eine vor allem in den Talkshows und Medien verbreitete Version.

Ein alle Jahre wiederkehrender Skandal ist das Gerücht, dass Araber, Muslime oder andere aus dem Mittelmeerraum stammende Aggressionsbomben in Freibädern Frauen, und Mädchen attackieren würden. Mal betrifft es das Prinzenbad in Berlin-Kreuzberg, dann wieder das Rheinbad in Düsseldorf. Wochenlanges Diskutieren und Analysieren der Gefahrenlage, am Ende musste die Bildzeitung, die darüber immer wieder Aufmacher brachte, eine Gegendarstellung drucken: „Es gab keinen einzigen Krawall“. Ganz schön erbärmlich, oder?

Interessant war auch die Erörterung, ob das Rennen hinter schwarzhaarigen und dunkelhäutigen Menschen, mit dem Ziel sie zu verprügeln, den Begriff „Jagd“ beziehungsweise „Hetzjagd“ rechtfertigt. Der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen hatte beharrlich behauptet, dass in Chemnitz, als Hitlergruß zeigende Neonazis zu einem „Trauermarsch“ mit weißer Rose im Knopfloch einluden, keine Hetzjagden stattgefunden hätten – obwohl Videos das Geschehen dokumentierten. Das abschließende Urteil der deutschen Öffentlichkeit war: eher keine Hetzjagd, sondern nur das hysterische Aufbauschen von „linken Medien“, die verheimlichen wollen, dass dieses Land aus 80 Millionen deutschen Opfern besteht, die dem Terror von Flüchtlingen, Muslimen und linken Sachbearbeitern in Asylbehörden ausgesetzt sind. Nun kam mittels der Chatprotokolle heraus, dass sich die als besorgte Bürger titulierten Trauermarschierenden zum Jagen von Ausländern verabredet haben und anschließend protzten, wer wen extrem brutal zugerichtet hat.

Allein diese drei Ereignisse müssten doch eigentlich dafür sorgen, dass irgendwer eine politische Verantwortung übernimmt und zurücktritt, oder? Anne Will, Horst Seehofer oder irgendwer anders. Andernfalls muss man davon ausgehen, dass das Verbreiten von Lügen über Bevölkerungsgruppen neuerdings zum guten, normalen Ton gehört.

Abschließend möchte ich Folgendes verkünden. Bei den drei eben aufgezählten Ereignissen – BAMF, Freibäder und Neonazis – befinden sich keine Deutschen unter den Opfern. Und mit dieser guten Nachricht eröffne ich hiermit offiziell die Theaterkolumnensaison.

Selam Freunde!
Ihre Mely Kiyak

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