Früher klickte ich zum Zwecke der Zerstreuung Nachrichtenportale an. Heute klicke ich mich durch Bedarfslisten verschiedener Berliner Flüchtlingseinrichtungen. Einen Tag später schaue ich die Listen an, um festzustellen, ob der Bedarf weiter besteht. Kinderärzte und Internisten werden in allen Einrichtungen gesucht. Wolldecken auch. Unterhosen in den Größen S und M hier und da. Zahnbürsten fast gar nicht mehr. Seit Wochen nichts Neues.
Die Listen sind, na klar wir sind in Deutschland, logisch geordnet. Es gibt vor Ort Koordinierungsstellen. Telefone. Registrierungsoptionen. Nur wer sich anmeldet, kann sich in die Liste eintragen. Einfach irgendwo hingehen und 5 Mark abgeben, wie es die Omis bei den schlesischen Ankömmlingen vor Jahrzehnten machten, war mal. Genaue Anweisungen, wie die Spende abzugeben ist, liegen als pdf zum Herunterladen bereit. Es gibt Bilder. Schuhe, lose in der Lidltüte, Bild durchgestrichen. Schuhe, mit zusammengebundenen Schnürsenkeln einzeln in Gemüsetüten verpackt, Häkchen. Auch der Mangel hat seine Ordnung.
Die Gruppen vor Ort sind streng. Es gibt Verhaltensregeln. Man kann sie nachlesen. Man möge beim Überreichen der Gaben „positiv denken“. Es klinge vielleicht komisch, aber man solle sich daran halten, denn es helfe. Der Flüchtling, der die Gabe annehme, spüre das Positive und man möge bitte nicht vergessen, er, der Flüchtling, der Nehmende habe, „Schreckliches durchgemacht“. Es nimmt schon wieder bizarre Züge an.
Mein ganzes Leben lang begleitet mich das Thema Flüchtlinge. In unserem Haus waren ständig Asylbewerber und Flüchtlinge zu Gast. Meine Eltern haben jahrelang für Flüchtlinge übersetzt, sie auf Ämter begleitet, Nachhilfelehrer für deren Kinder organisiert, sie waren dabei, wenn im Kreißsaal geboren wurde und nachts auf die Polizeiwache wurden sie auch gerufen. Das Wort Ehrenamt kannten sie nicht. Menschenpflicht nennt man so etwas bei uns. Die Flüchtlinge kamen aus dem Libanon, Irak oder dem kurdischsprachigen Teil der Türkei. Die Erzählungen der Flüchtlinge, davon, was sie erlebt hatten, lösten bei uns Jugendlichen einen Gruseleffekt aus, wie man ihn aus guten Krimis kennt. Man hört hin und will es eigentlich doch nicht genau wissen. Ich konnte schon mit 15 Jahren die Palette der Menschenrechtsverletzungen flüssig aufsagen. Alle in meiner Familie halfen, auch Tanten und Onkel. Sie waren Gastarbeiter. Das muss man sich einmal vorstellen. In gebrochenem Deutsch kämpften meine Eltern auf den Behörden für die Rechte der Flüchtlinge. Niemals, ich schwöre, niemals habe ich irgendjemanden aus meiner Familie den Satz sagen gehört: „Wir helfen Flüchtlingen“. Denn Regel Nummer Eins lautet: Man spricht nicht darüber. Man wichst sich auf seine Hilfsbereitschaft keinen ab.
In der Liste der Gruppe „Willkommen im Olympiapark“ las ich am Montag, dass Wasser ohne Kohlensäure sowie Brot benötigt werden. Hinter dem Brot stand in Klammern die Bemerkung „dringend“. Und hinter dem Wasser, „sehr dringend“. Ich fing an nachzudenken. In meiner Erinnerung laufen Fernsehbilder aus afrikanischen Lagern, die von UNICEF betrieben werden. In den Aufnahmen bittet man um Spenden, damit man die Flüchtlinge mit sauberem Trinkwasser und die Kinder mit Milch versorgen kann. Am Montag lese ich, dass ein Mangel an Wasser und Brot für Flüchtlinge besteht. In Deutschland. Ist es die Aufgabe von berufstätigen Bürgern, in einem funktionierenden Gemeinwesen Wasser und Brot, also das Elementarste vom Elementarsten für tausende Flüchtlinge zu organisieren? Wir sprechen hier nur von einem Ort. In Berlin gibt es unzählige Einrichtungen mit Tausenden von Flüchtlingen. Was passiert, wenn eines Tages niemand mehr Zahnbürsten und Äpfel durch die Stadt karrt? Am Dienstag verschwand das Wasser und Brot wieder von der Liste. Ganz Charlottenburg muss wohl Getränke Hoffmann geplündert haben.
Es wird nicht jeder wissen, aber wir haben in Deutschland eine Familienministerin, einen Entwicklungsminister, einen Gesundheitsminister und einen Innenminister. Es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen in Krisensituationen mit Wasser, Brot und Bepanthensalbe versorgt werden. Unser Entwicklungsminister Gerd Müller aber gibt derzeit Interviews, wo er die Golfstaaten auffordert, sich in der Flüchtlingskrise zu engagieren. Ich fordere hiermit Gerd Müller auf, sich einen neuen Job zu suchen.
Der graue Mensch, der seit Jahren von einem Ministerium ins nächste gespenstert, hat in der Flüchtlingsfrage genau eine Maßnahme getroffen. Nämlich die Grenzen zu schließen. Leute wie Thomas de Maizière würden auf dem Arbeitsmarkt sofort aus dem Job rausfliegen, weil sie nicht einmal die Mindestanforderung erfüllen. Er hat noch bisher in jedem Ministerium Mist gebaut, aber aus irgendeinem Grund hält die Kanzlerin eisern an ihm fest. Ein Kollege von einer Zeitung meinte neulich, die Verbindungen der Familien de Maizière und Merkel scheinen ganz schön fest verknotet zu sein, weshalb sie ihn einfach nicht rauswirft.
Was macht eigentlich unsere kinderfreundliche Familienministerin Manuela Schwesig? Kommt sie langsam in die Puschen? Wir haben Hunderte von minderjährigen Kindern, die unbegleitet in Deutschland gelandet sind. Kapiert sie das? Oder geht sie immer noch in Kitas Lieder singen und lässt sich dabei fotografieren?
Und der Gesundheitsminister könnte auch mal unsere Pharmafirmen bitten, in großem Stil Salben bereitzustellen, damit wunde Flüchtlings- und Kinderpopos nicht auf die Großzügigkeit von Frau Müller und Herrn Schmidt angewiesen sind. Sollen wir jetzt wirklich palettenweise Salbe kaufen? Die Pharmafirmen sind der Exportking der deutschen Wirtschaft. Wie wäre es, wenn Bayer und Co. und die zwanzig anderen den gesamten Bedarf der Flüchtlinge an Pflastern, Wundmaterial und Heilsalben übernehmen würden?
Und der Landwirtschaftsminister könnte mal die Industrie zwingen, dass sie den gesamten Bedarf an Milch und Brot für die Versorgung der Flüchtlinge übernimmt. Wer als Lebensmittelunternehmen die Felder der Welt plündert, Menschen und Ressourcen ausbeutet, soll sich anschließend um die Handvoll Hungrigen kümmern, die bei uns landen. Nestlé und Co! Ihr seid gemeint! 70 % der Agrarflächen Rumäniens werden von ausländischen Unternehmen kontrolliert. Aber sich aufregen, wenn arme Rumänen Deutschland betreten!
Nein, nein, Leute, wir müssen wütender werden. Und genauer aufpassen, dass wir nicht an die Stelle von Pflicht und Grundversorgung Hilfsbereitschaft setzen. Wir leben gerade den Traum der FDP. Der Staat zieht sich zurück und die Bürger springen ein. Ich möchte daran erinnern, dass wir als Bürger dieses Landes Steuern zahlen. Wir dürfen nicht nur, wir müssen laut werden und an unsere Politiker gerichtet sagen: Wir gehören zu den reichsten Ländern dieser Erde. Es ist Eure Aufgabe die Bedarfslisten durchzuklicken. Nicht unsere! Unsere Aufgabe ist es, die Flüchtlinge in unsere Mitte zu nehmen. Jeder, wie er kann. Der eine tut das klatschend am Hauptbahnhof mit Kuscheltieren werfend, ein Anderer begibt sich in positive Trance vor dem Erstkontakt und ein Dritter erledigt das anders elegant und stilsicher.
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