Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich, den Lesern dieser Kolumne Annika Krump vorstellen zu dürfen. In dem sehr schönen, kleinen Berliner Alexander Theaterverlag ist dieses Jahr ihr Tagebuch einer Hospitantin erschienen. Der Text besteht aus Aufzeichnungen des Jahres 1992/93, als sie an der Berliner Volksbühne hospitierte. Es war das gleiche Jahr, als Frank Castorf Intendant an eben diesem Theater wurde. Der Text dokumentiert, wie die Volksbühne jene Volksbühne wurde, um die in diesen Tagen so heftig gestritten wird. Krump beschreibt in herrlichen, kleinen Bildern wie sie Schlingensief kennenlernt, Marthaler, Castorf, Lilienthal. Das ganze deutsche Theaterpersonal der Gegenwart. Sie nimmt deren Sprachduktus auf, den Slang jener Tage, und man lacht sich kaputt, weil man Zeuge davon wird, wie Kunst entsteht.
Teich voller Ideenlosigkeit
Menschen, die nicht an Theatern arbeiten, gehen davon aus, dass ein Regisseur genau weiß, was er inszenieren wird, bevor er zur ersten Probe geht. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Der Regisseur (meistens handelt es sich um Männer) schwimmt in einem Teich voller Ideenlosigkeit und lässt seine Schauspieler darin ertrinken. Und dann irgendwie, Tag für Tag, entsteht so etwas wie ein Plan, ein Faden, an dem man sich entlang schlängelt, um nicht unterzugehen. Das ist Theateralltag und Frau Krump skizziert das unglaublich gut. Auch das hysterische Geschreie eben jener Kerle, die Hilflosigkeit, die Angst und das Breitbeinige.
Belgischer Museumsdirektor aus London
Annika Krumps Tagebuch einer Hospitantin sollte von allen gelesen werden, die sich dafür interessieren, wodurch ein Theater ein Theater wird. Nämlich durch sein Personal. Und deshalb erscheint es auch absurd zu glauben, dass bei einem Intendantenwechsel, der Nachfolger im Geiste seines Vorgängers zu handeln habe. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn Frank Castorf geht, geht die Ära Castorf Volksbühne zu Ende. Und wenn der Neue (ein belgischer Museumsdirektor aus London) Chris Dercon kommt, beginnt die Dercon Ära. Das ist gut und richtig so. Die Welt dreht sich weiter und mit ihr die Kunst.
Volksbühne wird Volksküche
Man kann den Beruf Theaterdirektor an keiner Schule studieren. Wohl aber kann man das furztrockene Knäckebrotfach Theaterwissenschaften studieren. Aber gut, was bringt das groß? (Die Autorin dieser Zeilen hat in ihrem ersten Leben Theaterwissenschaften studiert. In ihrem zweiten Leben ist sie ausgebildete Dramatikerin und Drehbuchautorin. Hätte man ihr die Leitung der Volksbühne übertragen, hätte sie das Haus zur Kochschule umfunktioniert, Flüchtlinge als Kochlehrer eingestellt und daraus die „Volksküche“ gemacht. Warum? Weil’s schön wär!)
Paradiesdirektor kommt nach Berlin
Dercon übrigens hat auch Theaterwissenschaften studiert, der Ärmste, und leitet den berühmtesten Kunsttempel der Welt. Die Tate Gallery of Modern Art. Ich meine so ein Typ ist erstmal eine Bombe! Die Tate Modern ist jeden Tag voll. Alle Künstler dieser Welt wollen dort ausgestellt sein. Es gibt keinen schöneren, gebildeteren und unterhaltsameren Ort als die Tate. Ich traf Künstler im tiefsten Kurdistan, die von der Tate träumten. Die Tate ist das Paradies. Und nun kommt dieser Paradiesdirektor nach Berlin und wird vom Genöle der grauhaarigen Theaterdirektoren empfangen. Oh man, Germany, you are manchmal echt ätzend!
Was nun folgt, ist ein Gastspiel bei Kiyaks Theater Kolumne. Annika Krump war so freundlich, uns für diese Woche eine Theaterkolumne zu schreiben, als Zeitzeugin sozusagen. Es ist eine schöne Collage aus Tagebuchnotizen, Regiebuchauszügen mit Bezug auf die aktuelle Lage an der Volksbühne und überhaupt ist sie eine glänzende Schreiberin. Wäre sie Theaterkolumnistin, wäre sie meine schärfste Konkurrentin. Aber bislang ist das Gorki Weltmarktführer in Sachen Theaterkolumne. Noch.
Voilà, der Gastauftritt, viel Vergnügen wünscht Mely Kiyak.
KILL YOUR DARLINGS!
von Annika Krump
Berlin, 17. 8. 1992
Spielzeitbeginn. Frank Castorf hat im Zuschauersaal vor allen Mitarbeitern der Volksbühne seine Eröffnungsrede zur neuen Spielzeit gehalten – grauenhaft pessimistisch.
Von Zuversicht für die Mitarbeiter keine Spur. Vielleicht aber gerade deswegen ehrlich? Er sagte immer: »Ick weeß ja och nich, wie’s hier weiter jeht« und »Ick kann ja och nur hoffen, det sich allet zum Juten wendet … In der DDR haben wir ja Improvisieren jelernt! Ick würde euch bitten, nich so sehr auf die Presse, die Kritiken und andre Theater zu hören: Feinde jibts überall, die sich über Misserfolge freuen. Wichtig is unsere innere Verfassung, det uns dit hier in der Volksbühne Spaß macht. Ick bitte euch, einfach mal een Jahr durchzuhalten! Ick bin ja och keen Intendant … Es ist halt ein Versuch. Ick hab ja erst mal ’n Werkvertrag bis Oktober. Den richtijen Vertrag hab ick noch jar nich unterschrieben … Matthias Lilienthal hatte mir vorher extra noch jesacht, ick soll hier Optimismus machen … Ick hoffe, det is mir jelungen.«
Ist diese Offenheit für mich als »Wessi« schwer verständlich, weil sie nicht in mein Schema von Führungs-kraft und Vermarktung passt? Abwarten – vielleicht ist es ja eine echte Alternative und es funktioniert! »In zwei Jahren tot oder berühmt«, wie Ivan Nagel sagte.*
Nach 23 Jahren ist die Volksbühne international immer noch im Gespräch und sehr berühmt: Als letzte Insel des Ostens…
Am Abend nach der Probe meinte Frank Castorf am Kantinentisch: »Ick weeß ja jar nich, ob Theater überhaupt Sinn macht. Etabliertes Theater is sowieso langweilig. Also ick seh keenen Sinn und rate – besonders den Jungen hier am Tisch – rate ick ab, am Theater zu arbeiten.«*
Den Baumeister Sollness lässt Frank Castorf als sein Alter Ego ausrufen:
Marc Ha! Heute, wo ich es Ihnen zeigen will, steht keine Jugend draußen. Ich könnte schwören, (schreit) massenhaft lümmeln die sich hier rum! Diese Hospitanten! Tod den Hospitanten!
Kathi Aber ich bitte Sie. Vor den Hospitanten brauchen Sie doch keine Angst zu haben.
Marc (im Gang) Doch, doch. Vor denen habe ich Angst, vor den Hospitanten. Die stehen alle an der Tür, die klopfen an der Pforte, die klopfen am Eingang, die klopfen im ehemaligen Kartenhäuschen, die klopfen in der Kantine, bei Olaf. Was meinen Sie, warum ich ab 22 Uhr die Hintertür absperre?
Kathi Wegen der Hospitanten?
Marc tritt rechts neben den Raumteiler.
Marc Nicht nur. Auch die Assistenten. Deshalb habe ich mich auch so abgekapselt. Sie müssen nämlich wissen, diese juvenilen Kackbratzen werden herkommen und an die Tür donnern und mein Haus erstürmen. **
Und jetzt haben wir den Salat: Keiner aus den eigenen Reihen, der in Castorfs Fußstapfen tritt. Das Stück, im Mai 2014 raus gebracht u.a. als selbstironische Reflektion des Regisseurs mit vielen Volksbühnen-Insider-Ausdrücken („Frau Becker!“ und nicht nur deswegen unbedingt sehenswert, solange es die „alte Volksbühne“ noch gibt), knüpft Castorf an die Anfangszeit an und nimmt gleichzeitig visionär das „böse Ende“ der Volksbühne schon vorweg: Dilettanten in kreischend-pink und grell-gelben Marketing-Plüschtier-Ganzkörperanzügen übernehmen am Ende die Volksbühne. Ihr wichtigstes Anliegen: Spaß ohne Arbeit und Anstrengung! Anrufbeantworter spielen statt Konzepte entwickeln! Die Limousine vorm Haus!
Mit Intendanzende kommt Frank Castorf auf ein Vierteljahrhundert. Obwohl er alle fünf Jahre unkte, dass er bald aufhört.
Probebühne Korleput, 26.8.1992
Der letzte Abend in Korleput: Georg Buchmann von der Requisite kochte »Äthiopisches Huhn«, Lukas* hatte draußen ein Lagerfeuer gemacht. Frank saß wieder den ganzen Abend mit einer Zeitung vor dem Kamin. Ich habe mich zu ihm gesetzt und ihn gefragt, wie es ihm jetzt so geht mit seinem Intendanten-Job. »Och weeßte, manchmal denke ick, die fünf Jahre sind rausjeschmissene Lebenszeit. Und dann bin ick wieder froh, det ick Matthias Lilienthal als Chefdramaturgen habe und André Schmitz als Verwaltungsdirektor. Also dass das so aufjeteilt is und ick nur der Künstlerische Leiter bin. Ick will mich auf die Regiearbeit konzentrieren. Jesellschaftliche Anerkennung is mir och scheißejal – ick halte mich sowieso nich in Kunstkreisen auf.“ *
*Lukas Langhoff, Regieassistent bei „Rheinische Rebellen“ 1992
Das war 1992. Nun geht Castorf also 2017. Heute verstehe ich, dass er sich und die Volksbühne mit dem 5-Jahre-Limit-En-suite künstlerisch lebendig gehalten hat. Ein 25-Jahres-Vertrag klingt für jeden Künstler wie ein Todesurteil.
Die Atmosphäre von 1992/93, die ich damals erlebt habe, als noch alle zusammen am Kantinentisch saßen – Bühnentechniker, Obdachlose, Intendant, Schauspielerinnen, Hospitanten – und es irgendwie ein großes Miteinander war, war sehr geprägt vom Arbeitsbegriff des Ostens, von einer Wertschätzung der Arbeit des einzelnen und von Castorfs marxistischem Wunsch, dass es allen Spaß machen möge (allerdings ein Spaß, der die Anstrengung nicht ausschließt).
Als Gesamtkunstwerk OST hat sich das Konzept einer aufmüpfigen, international prägenden Theaterlebensform mit diesem Ensemble (das sich selbst sympathischerweise und selten genug am Theater nicht so wichtig nimmt) ein Vierteljahrhundert getragen. Das soll mal einer nachmachen. Nichts gegen Veränderung. Aber auch nichts gegen Würdigung.
Ich sitze im Café Sauer gegenüber der Volksbühne. Spontan entscheide ich mich, am Abend in die Vorstellung zu gehen, da ich dem Menschenstrom der sich über die Wiese am Räuberrad vorbei zum Theater schiebt nicht widerstehen kann. Doch der freundliche Mensch an der Kasse sagt: „Ausverkauft.“
Auf dem Spielplan steht: KILL YOUR DARLINGS!
Volksbühne April 2015 Foto © Annika Krump
*Auszüge aus: Annika Krump TAGEBUCH EINER HOSPITANTIN – Berlin, Volksbühne 1992/93 erschienen Februar 2015 im Alexander Verlag Berlin
**Auszug aus: Regiebuch BAUMEISTER SOLLNESS, Regie Frank Castorf, Volksbühne 2014
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