Ich lese die Nachrichten und denke, so ist das also bei uns. Da können Rechtsradikale vierzehn Jahre lang unbehelligt raubend und mordend durch Deutschland reisen. Anschließend fliegt das Mordtrio auf und das Leben geht wie gewohnt weiter. Der gesamte deutsche Sicherheitsapparat hat sich über ein Jahrzehnt hinweg wie ein Haufen inkompetenter Luschen verhalten und anschließend machen die Herren allesamt Karriere im Apparat. Politisches Erdbeben? Mit Sicherheit nicht. Doch nicht wegen einem Haufen toter „Ausländer“!
Doch dann der ungeheuerliche Verdachtsmoment. Sebastian Edathy, der Vorsitzende des Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU, wird verdächtigt, Kinderpornographisches Material konsumiert zu haben. Im Zuge dieses Verdachtes kommt heraus, dass SPD Genossen aus Unerfahrenheit und wohl auch Dummheit alles taten, damit sich dieser Verdacht herum spricht. Jeder rief jeden an, um heraus zu finden, ob der Parteikollege der Partei schaden könne und ob bereits gegen ihn ermittelt wurde. Da es sich beim Chef des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke praktischerweise um einen Genossen handelte, klingelte man kurz durch und fragte nach. Noch ist nicht ganz klar, wann der BKA Chef erfuhr, dass Edathy in Kanada Material von nackten Kindern bestellt hatte. Bevor der NSU Ausschuss tagte? Mitten drin? Danach? Das ist deshalb wichtig, weil Ziercke vor dem Ausschuss als Zeuge im Rahmen des Behördenversagens rund um den NSU vernommen wurde.
Ich habe dem NSU Ausschuss als Beobachterin viele Monate beigesessen und erinnere mich noch sehr genau daran, wie BKA Chef Jörg Ziercke vor dem Ausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy Rede und Antwort stehen musste. Es war ein irritierender Moment, dass der BKA Chef angesichts seines erbärmlichen Behördenversagens und seines eigenen persönlichen Unvermögens vor Scham nicht unter die Tischplatte rutschte. Stattdessen war er aggressiv bis rotzig und seine Bockigkeit ging so weit, dass man sich fragte, was in ihn gefahren war, dass er dem Untersuchungsausschuss so respektlos gegenüber trat. Seiner Genossin Eva Högl gelang es nach einem nervtötenden Hin und Her zwischen Edathy und Ziercke, den Zeugen Ziercke zur Raison zu bringen.
Heute frage ich mich, ob es wohl sein könnte, dass BKA Chef Ziercke seine unverhohlene Missachtung gegenüber Sebastian Eadthy aus seinem Wissen speiste, dass Edathys Name in einer kanadischen Kundenkartei für Kinderfotos auftauchte? Konnte es sein, dass Edathy während der Befragung versuchte heraus zu finden, was BKA Chef Ziercke in seiner Laufbahn als oberster Sicherheitsapparatschik gegen Rechtsradikalismus bislang auf die Reihe brachte, während Ziercke die ganze Zeit dachte: Alter, Dir muss ich gar nichts erklären, Du geilst dich doch an Kinderschwänzen auf! Und war es weiter möglich, dass Edathy die ganze Zeit zurück dachte: ich weiß, dass Du es weißt, Blödmann, aber Du kannst mir gar nichts, das Material ist legal!
Das alles ist so abstoßend, dass man gar nicht weiß, worüber man sich zuerst ekeln soll. Ein Innenminister wird rausgeworfen, weil er gepetzt hat, dass gegen einen Kollegen ermittelt wird. Während der NSU aufflog, hat die Kanzlerin niemanden heraus geworfen, obwohl in diesem Land Beweismittel gegen Neonazis mutwillig vernichtet wurden.
Die Geschichte um und über den NSU mit all seinen Details, angefangen davon, dass in unserer Bundesrepublik bis heute eine Gruppe Terroristen unerkannt leben und in Morde verstrickt sind, bis hin zu Teilen unseres Sicherheitsapparates, deren Verachtung für deutschtürkische Mitbürger das Handeln des NSU ermöglicht haben bis hin zum Kinderpornographieverdacht gegen Edathy ist so haarsträubend, so unerhört, so was von nie dagewesen, dass man sich fragt, wer alles die Strippen zieht und zog. Wird man es je erfahren? Ich glaube nicht.
Mehrere deutsche Theater versuchten und versuchen den NSU in unterschiedlichen Facetten auf der Bühne zu beleuchten. Ich finde, an die Realität kam bislang noch nichts ran. Wir schürfen mit unseren Einschätzungen über den Neonazismus in Europa immer an der Oberfläche herum. Wir trauen uns nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Zum Beispiel trauen wir uns nicht, die ukrainische Protestbewegung gründlich auseinander zu nehmen. Wir trauen uns nicht, unseren ehemaligen Boxweltmeister zu fragen: was er von den strammen Nazis auf dem Maidan hält, mit denen er bis gestern gemeinsam auf der Straße war und die für eine „ethnisch reine Landkarte“ der Ukraine auf die Straße gingen. Wir trauen uns nicht, Teile der türkischen Gezibewegung zu verdammen und zu sagen, da laufen hartgesottene Nationalisten mit, die bis gestern daran beteiligt waren, dass Menschen in den Gefängnissen gefoltert wurden, einfach nur, weil sie kurdisch sprachen. Wir trauen uns nicht zu sagen, dass die AfD, der wahr gewordene und auferstandene Alptraum der bürgerlichen rechten Elite von vorgestern ist. Apropos Vorgestern. Wir trauen uns nicht zu sagen, dass diese ganze deutsche Stauffenbergverehrung unappetitlich ist, denn er und seine Leute waren erst jahrelang Mitläufer des Systems und machten darin Karriere bevor sie zu Hitlers Gegnern wurden. Apropos Stauffenberg. Hat der Filmproduzent Nico Hoffmann sich die Filmrechte am NSU Komplex gesichert? Mit Benno Fürmann als Uwe Böhnhardt und Joachim Król in der Rolle als Uwe Mundlos’ Vater?
Was noch los ist bei uns? Ich höre, dass der Intendant des Berliner Ensemble Thilo Sarrazin als Gesprächsgast beherbergt, um über den in Deutschland herrschenden Meinungskonformismus, also den Feind der Demokratie, zu diskutieren. Nun hätte man Claus Peymann gerne dazu gratuliert, wenn er seinerzeit nach dem Auffliegen des NSU den Meinungskonformismus in unseren Ermittlungsbehörden diskutiert hätte, denn dort war man über ein Jahrzehnt, Bundesländer und Ermittlungsbehörden übergreifend einer Meinung. Nämlich: Selbst ein toter Türke ist kein Opfer sondern ein Täter. Weshalb man, immer wenn ein Türke abgeknallt wurde, im Wesentlichen in der Familie des Türken ermittelte und den Hinterbliebenen das Leben zur Hölle machte.
Nun aber wird Thilo Sarrazin beherbergt, damit er allen Ernstes „den in Deutschland herrschenden Meinungskonformismus in Deutschland“ beschreiben darf. Hier wird der Meinungskonformismus – übrigens ein Merkmal von Diktaturen – als Befund gar nicht erst in Frage gestellt, sondern als Zustandbeschreibung und Ausgangspunkt der Diskussion markiert. Soll Thilo öffentlich verteidigt werden, weil er sich in seiner Freiheit bedroht sieht, Muslime zu kritisieren?
Man möchte rufen: Du kannst in diesem Land Muslime nicht nur als genetischen Müll deklarieren, sondern als Nazi im Hauptberuf abknallen, ja Du kannst sogar als vom Staat bezahlter Verfassungsschützer in diesem Land so unbeeindruckt von Anblick eines Moslems sein, der gerade in seiner Blutlache krepiert, dass du anschließend felsenfest behaupten darfst, dass du den Anblick vergessen hast und weiterhin unbehelligt Dienst schieben.
Wieviel Freiheit brauchst Du noch, Sarrazin?
Nun beherbergt also Peymann den Sozialdemokraten Sarrazin, damit dieser den aktuellen Zustand seiner Hirntätigkeit öffentlich zur Schau stellen darf – eigentlich auch eine Menschenrechtsverletzung – aber irgendwie auch ein Beitrag zum Antirassismus.
Kann mal jemand vom Gorki zum Bertolt Brecht Denkmal gehen und dem Brecht die Augen verbinden?