
Kann sich irgendjemand vorstellen, wie es wäre, 43 Jahre unschuldig in einem Gefängnis zu sitzen? 43 Jahre lang kein Sonnenlicht empfangen, keinen Horizont sehen, keinen Wind zu hören, der durch die Äste eines Baumes weht?
Ragheed al-Tatari wurde noch unter dem Hafis al-Assad Regime inhaftiert, weil er sich als syrischer Kampfpilot weigerte, demonstrierende Zivilisten aus der Luft zu bombardieren. Der alte Assad wurde gestürzt, sein Sohn kam an die Macht, die Mauer fiel, in Rumänien wurde der Diktator vor laufenden Kameras erschossen, Terroristen flogen in zwei New Yorker Türme, eine Sache namens Internet wurde erfunden – er saß immer noch ein und durfte den Übergang vom Winter zum Frühling, vom Sommer zum Herbst nicht erleben. Und dann die Schmerzen. Die Angst. Die Folter, die keinen anderen Zweck verfolgte, außer zu quälen, denn die »Schuld« war längst verhandelt und festgestellt. Die Ungewissheit. Leben die Angehörigen noch? Wissen sie um einen? Sprechen sie noch manchmal von ihm, oder haben sie sich mit der Abwesenheit ihres Sohnes, Ehemannes, Vaters abgefunden?
Ein Schicksal, ein Lebensweg von Tausenden, Zehntausenden, vielleicht noch mehr. Bernd Dörries lernte al-Tatari in Damaskus kennen und schrieb seine Geschichte für die Süddeutsche Zeitung auf. So las und erfuhr ich im fernen Deutschland von dem Langzeitgefangenen und seinen Stationen in den verschiedenen syrischen Haftanstalten, von denen es wohl bessere und schlechtere gab. Davon wie al-Tatari sich das Malen beibrachte und aus Brotkrumen kleine Skulpturen formte. Der Titel des Porträts heißt Ich habe immer an ein besseres Leben geglaubt. Mit diesem einen Satz erzählt al-Tatari meiner Meinung nach die ganze Geschichte des Menschseins und skizziert damit eine Philosophie des Aushaltens, um der Hoffnung, des Überlebens und der Lebenslust willen. Ein Häftling kann demnach ein halbes Leben lang unter barbarischen Umständen gefangen gehalten werden und kommt als kultivierter Mensch heraus, der freundlich lächelnd und geduldig einem ausländischen Journalisten sein Leben erzählt. Was ist das? Glaube? Geduld? Langmut?
Oder diese Geschichte. Ein junger Medizinstudent wird 13 Jahre lang in einem syrischen Gefängnis grausam gefoltert und das Erste, was er macht, als er entlassen wird, ist seinen Abschluss in Medizin nachzuholen. Anschließend flieht er kreuz und quer durch die Welt und landet in Deutschland. Immer hat er Sehnsucht nach seiner Frau Samira, die von syrischen Milizen verschleppt wurde und seit über einem Jahrzehnt verschollen ist. Ein Arzt will er nicht mehr sein. Er beginnt zu schreiben. Aber vor allem nachzudenken. Über das Exil, die Hoffnung und die Freiheit. Er bildet sich zum Philosophen aus. Er denkt über die Gemeinsamkeit von Folter und Liebe nach. Über den Begriff der Grenze, die in der Liebe freiwillig aufgehoben wird, als Einladung an die Geliebte, sie überschreiten zu dürfen. Und die Missachtung dieser gleichen körperlichen Grenze, die vom Folterer gegen den eigenen Willen brutal übertreten wird. Der Name dieses Autors ist Yassin al-Haj Saleh. Während Sie diesen Text lesen, ist der Autor gerade in Syrien, um seine verschollene Samira zu suchen. Ich glaube, noch schlimmer als die Trauer um jemanden, der starb, ist die Trauer um jemanden, der verschwunden ist. Wovon erzählt so ein Lebensweg? Vielleicht von Liebe und dem unbedingten Willen die eigene Würde aufrecht zu erhalten.
Und dann gibt es noch den palästinensisch-syrischen Pianisten, von dem Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung berichtet. Aeham Ahmad spielte in den zerbombten Straßen des Lagers Jarmuk für die Kinder Klavier. Jarmuk war ein Flüchtlingslager mit nahezu einer Million palästinensischen Flüchtlingen. Als das Lager gegen Assad protestierte, stellte das Regime Nahrung, Strom und Wasser ab. Aus dem Flüchtlingslager wurde ein Todeslager. Typhus und Gelbfieber brachen aus. Hunger. Der junge Ahmad rollte sein Piano zwischen die Menschen und spielte. Die Kinder jubelten, sie liebten es so sehr. Ahmads Verwandte distanzierten sich öffentlich von ihm. Sagten der Geheimpolizei, dass er nicht zur Familie gehöre. Der IS steckte Ahmads Klavier in Brand. Der Musiker floh. Als er hörte, dass das Assad-Regime gestürzt war, machte auch er sich sofort auf den Weg in das mittlerweile komplett zerstörte Lager, wo noch nach Jahren Leichen aus dem Schutt ragten. In diesen Trümmern traf er einen Oud-Spieler, mit dem er früher zusammen gespielt hatte. Vor einigen Jahren veröffentliche der S. Fischer Verlag Aeham Ahmads Geschichte. Das Buch hieß Und die Vögel werden singen, Untertitel Ich, der Pianist aus den Trümmern. Sie haben von diesem Buch nie gehört? Oder von Al-Haj Salehs wegweisenden englischsprachigen, französischen oder spanischen Schriften? Auf Deutsch erschienen zwei Bücher im Matthes & Seitz Verlag.
Eine Million Syrer leben seit einem Jahrzehnt unter uns. Aber wir sind völlig uninformiert (vielleicht auch desinteressiert?) über diese Menschen, die einen unendlichen Fundus an Kultur, Geschichte und politischen Erfahrungen in sich tragen. Wir aber reden und urteilen über sie, als wären wir Großgrundbesitzer und sie unsere dummen Lakaien. Ein Grund, weshalb unsere Politiker mit dem Schicksal dieser Syrer jonglieren, ist das fehlende mediale und öffentliche Interesse wirklich etwas zu erfahren. Mit Afghanen und Irakern ist es im Prinzip das Gleiche. Oder den Geflohenen aus Afrika. Sie sind da, aber eigentlich auch nicht. Denn bis auf wenige Bücher oder gelegentlich eine Reportage (die Süddeutsche Zeitung leistet in dieser Hinsicht eine hervorragende Arbeit), gibt es nahezu keine Möglichkeit, ihnen zuzuhören, wie sie mit eigener Stimme erzählen. Oder sie zu lesen.
Auch das ist der Grund, weshalb in der deutschen Öffentlichkeit Migration ein Spielfeld übelster Propaganda geworden ist. Diese Propaganda ist Aggressionsgeladen und in obsessiver Art davon besessen, diese Bevölkerungsgruppen als zurückgebliebene Primaten zu charakterisieren. Können Sie sich in den vergangenen zehn Jahren an einen einzigen Flüchtling in einer Talkshow des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks mit Namen oder wenigstens einem Gesicht erinnern, der über Haft, Folter oder Kunst berichtet hat? Geschichten über »Ausländerkriminalität« kennen Sie hingegen sicher einige, nicht wahr? Sehen Sie. Das ist gewollt.
Wenn Menschen nur noch als bedrohliche Masse wahrgenommen werden, dann erscheint Politik, die beispielsweise unter dem entmenschlichenden Begriff »Zustrombegrenzungsgesetz« eingeführt wird, als etwas sehr Normales. Abgesehen davon, dass es überhaupt gar keinen Zustrom gibt. Möglicherweise gingen Sie protestierend auf die Straße, weil sie es geschmacklos fanden, dass das Gesetz unter Umständen mit den Stimmen der Neonationalsozialisten durchs Parlament gewunken werden sollte. Ich aber finde das Gesetz, seinen Geist, sein Anliegen und seinen Namen geschmacklos, uninformiert und propagandistisch. Seine Urheber sind kulturlose Indoktrinisten. Anders erzählen ist deshalb auch eine Form von Widerstand. Die erzählen von Zustrom, Gefahr und der Notwendigkeit von Begrenzung? Wir erweitern den Horizont und erzählen vom Menschen, seiner Kraft und »dem Glauben an ein besseres Leben«. Die wollen die Welt verkleinern. Wir wollen unseren Blick auf sie vergrößern. Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied.
Mit folgenden Zeilen aus Ghayath Almadhouns Gedichtband Ich habe dir eine abgetrennte Hand gebracht, der demnächst im Karl Rauch Verlag erscheinen wird, möchte ich enden. Almadhoun ist nach Schweden geflohen, er wuchs als palästinensischer Flüchtling in einem Lager in Damaskus auf. Seine politische Dichtung klingt so:
Wie eine zärtliche Mutter schlich sich der Krieg nachts auf Zehenspitzen heran, um sich zu vergewissern, dass wir ruhig schliefen. Er legte unsere Köpfe auf den Sandsäcken zurecht, als wären es Federkissen, deckte unsere Leichname mit den Trümmern zu, damit wir uns nicht erkälten, und versuchte uns zusammen in Massengräbern zu begraben, damit wir uns nicht einsam fühlen.
Mely Kiyak
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