ich habe keine angst. ich habe gar nichts.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, schrieb Hermann Hesse in seinem Gedicht über die Vergänglichkeit, und immer dichte ich in Gedanken um: Denn jedem Zauber wohnt ein Abschied inne und jedem Abschied Poesie. Das ist meiner Meinung nach die Grundbrühe einer jeden Kunst: Den Tod fürchten oder überleben, ihn verstehen oder bewältigen. Es ist der Kern eines jeden europäisch sakralen Chorwerkes genauso wie altorientalischer Liebeslyrik. Die Fähigkeit, zu schwärmen, schwelgen oder trauern, ist in uns angelegt. Wir weinen, weil wir es sollen, wir erinnern, weil wir es können. Wir sind bekümmert, weil wir Menschen sind. Und also schaffen wir Werke, um uns damit auseinanderzusetzen.
 
In der Aprilausgabe von meiner kleinen Rumpelshow Mely Kiyak hat Kunst lud ich die Dichterin Lütfiye Güzel ein, die für ihr Schreiben den famosen Begriff von Poesie als letzter Ruhestätte erfand. Lütfiyes Gedichte strahlen im Glanz der kargen Worte. Sie dichtet entlang der Lücken, lakonischer Fado, kein Sentimentalitätsmaterial. Niemand trauert so gekonnt wie sie. Die ganze Kunstreihe entstand überhaupt nur deshalb, weil ich mit ihr eine Lesung im Maxim Gorki Theater veranstalten wollte. Die Intendantin fragte: „Lütfiye? Wer ist das, ich kenne sie nicht“. Also erzählte ich unserer Theaterpräsidentin von ihr. Und genau davon handelte auch meine Eröffnungsrede in der Aprilausgabe, die den Güzelschen Poesiepsalm ich habe keine angst / ich habe gar nichts als Titel trug.

Bitte schön!


 
Sehr geehrtes Publikum,
 
Lütfiye Güzel ist wohl die prominenteste Untergrunddichterin Deutschlands. Unter Lyrik-Spezialisten wird sie verehrt, bewundert und vergöttert, aber da sich die Welt der Lyrik-Spezialisten nahezu unter dem Meeresspiegel abspielt, wird dieser Kosmos, in der sie die Berühmteste unter den Unberühmten ist, selten beleuchtet. Manche bezeichnen ihre Kunst als beat poetry, was cool klingt, aber nicht stimmt. Denn die Beatpoeten der 40er und 50er schrieben aus Gründen der Rebellion gegen das Mainstreamschreiben der amerikanischen Literatur an. Lütfiye dichtet nicht aus Protest zu etwas Bestehendem. So ein Schreiben verstünde sich schließlich immer als Beitrag zu einem Debattenmarkt. Würde Lütfiye sich ins business einreihen wollen, wäre sie zu einem der Mainstream-Verlage gewandert, die bei ihr Schlange stehen. Sie aber pfeift darauf und bleibt lieber autonom. Folgerichtig verlegt sie sich selbst. Ihre Bücher kann man auf ihrer Bücherkaufseite erwerben. Dort stehen Cover, Titel, Preis. Keine Klappentexte, keine süßen Autorinnenfotos, keine Leseprobe, keine Blurbs, Lobhudeleien und anderer Marketingschrott. Erst Geld, dann Gedicht. Ihr poetologisches Verfahren würde ich so beschreiben: Sie atmet Welt ein und Dichtung aus.
 
Sie ist Duisburgerin und damit ein bisschen auch Sängerin einer vergangenen Welt; die der Zechen, Schlote, Gastarbeiter, aus ihren Schornsteinen fließt der Wortruß. Pottpoetin wäre vielleicht eine Etikette, mit der sie leben könnte.
 
Ihr Schreiben ist unkorrupt, sie manipuliert und posiert nicht, stellt Leben und Leiden nicht aus, sondern benennt es, wie es ist. Trist, eintönig, Galaxien erschütternd im Inneren, lakonisch im Äußeren. Privat denke ich freilich noch anders über ihre Zeilen, privat lese und denke ich, diese Verse saugen mein Blut aus den Adern und prügeln mir die Tränen aus den Drüsen. Ich kann nicht anders. Bei Lütfiye muss ich weinen.
 
Das war nicht immer so. Ich habe Lütfiye vor 1000 Jahren kennengelernt, im Ruhrgebiet. Sie baute sich vor mir auf und fragte nach meiner Adresse. Dann schickte sie mir Brottüten voll mit ihren Gedichten. Ich fand das, was sie machte ungewöhnlich, interessant, aber ich wusste nicht so richtig, was das ist. Eines Tages fasste ich mir ein Herz und sagte: „Lütfiye, ich liebe was du machst, aber ich verstehe kein Wort.“ Daraufhin schaute sie mich mit ihrer unnachahmlich schmunzeligen Art an und sagte: „Ich auch nicht.“
Das ist Lütfiye pur, genau das. Aber wenn man sie einmal auf einer Bühne lesen und rezitieren sah, versteht man jede Zeile.
 
Die Intendantin hörte aufmerksam zu, wie ich über Lütfiye schwärmte: „Wenn dir deine Lütfiye so viel bedeutet, so gestalte doch eine Reihe und lade sie ein“, schlug sie vor. Dazu muss man wissen, dass mich die Intendantin seit Jahren überreden will, am Maxim Gorki Theater eine gesellschaftspolitisch relevante Gesprächsreihe zu gestalten. Was ich natürlich nicht will, weil ich von sowas keine Ahnung habe. Ich sagte: „Intendantin, ich will keine Reihe, sondern einen freien Abend, an dem ich mir mit dieser Autorin die Bühne teile.“

So ging es hin und her. Sie sagte: „Ich gebe dir nicht einen Abend, ich gebe dir eine ganze Reihe.“ Ich sagte: „Ich will keine Reihe, ich will einen Abend.“ Sie argumentierte, wenn ich eine Reihe hätte, könnte ich mir hundert Lütfiyes einladen, ich schrie: „Es gibt nur eine Lütfiye!“ Ich stand mittlerweile schon auf dem Klavier: „Ich will nur einen einzigen Scheißabend!!“ Ich drohte damit, die Kolumnen zu kündigen, ich drohte mit Anschlägen, ich drohte mit dem Schlimmsten, mit dem man ihr drohen kann: „Wenn ich hier keinen Abend mit Lütfiye kriegen werde, schmeiße ich alles hin und gehe ans Deutsche Theater!“ Sie sagte nichts. Dann stieg ich vom Klavier runter und sagte kleinlaut, „ok, ich mach‘ ne Reihe“, weil auf dem Klavier stehen sehr gefährlich ist. Man kann runterfallen und sich weh tun. Und außerdem war die Intendantin schon längst gegangen.

Deshalb diese Abende. Und was soll ich sagen? Ich liebe es. Schon allein deshalb, weil ich an meinem Notenständer stehend, in schwungvollen Reden meine Abenderöffnungen Kim Yong-unnen kann, der Kunst huldigen, sie verteidigen kann. Oder wie Arno Widmann, unser Theaterphilosoph und Hausgriesgram, sagen würde: „Das hat die Kunst nicht nötig von dir verteidigt zu werden.“ Vermutlich hat er Recht, denn die Kunst steht über allem. Sie thront über den Fehlern, dem Lebenspech, den Lügen, den persönlichen und politischen Konflikten. Sie hat es nicht nötig, verteidigt zu werden, und doch stellen wir uns als Künstler immer schützend vor sie. Denn wir haben nur das.
 
Diese Woche war die Weltpremiere von Salman Rushdies Memoir Knife. Zeitgleich erschienen weltweit in allen relevanten Zeitungen Vorabdrucke, Interviews und Reviews seines Buches. Rushdie verarbeitet in dem Buch den Messerangriff auf ihn. Ein Anschlag, den er schon so lange fürchtete, ein Angriff, von dem er sich fragte, ob er wohl je noch geschehen werde.
 
Dann, als es geschah, das war 2022, wurde Salman Rushdie auf einer Bühne im Bundesstaat New York von einem islamistischen Attentäter fast getötet. Er sah den Angreifer auf sich zugehen und dachte:
Du bist es also.
Und
Echt jetzt? Warum heute? Warum nach all den Jahren?
 
Seit diesem Abend hatte der Schriftsteller geschwiegen. Die ganze Welt fragte sich, wird er zurückkommen, und wenn ja, was wird er sagen? Was wird ein Schriftsteller, der sich allein durch die Macht der Worte gefährdete, einem solchen Angriff entgegensetzen? Wir kennen die Antwort. Er wird ihn mit den Mitteln der Kunst bewältigen. Denn von dort ging die Kraft der Sprache aus und von dort aus muss sie heilen.

Rushdie überlebte den verheerenden Angriff, der ihm unter anderem sein Auge kostete, nur knapp. Er beginnt sein Buch, indem er von der Liebe schreibt, vom Glück, seine Frau getroffen zu haben und dem gemeinsamen Leben mit ihr. Er schreibt mit Humor und Selbstironie. Es sind einfache, unkomplizierte Sätze. Er überschreibt die Erinnerung an die gewaltige Verwüstung, die der Attentäter an seinem Körper hinterließ, mit der Erzählung über sein schönes Leben. Wie als wolle er dem Attentäter sagen, meine Sicherheit und mein Auge nahmst du mir, nicht aber die Wahrheit, Deutung und Macht über meine Kunst. Knife ist ein Buch, das dem Messer mit dem Stift begegnet, und das letzte Wort behält.
 
Auch Sprache ist ein Messer, schreibt Rushdie.
 
Sie kann die Welt aufschneiden und ihre Bedeutung zeigen, ihre inneren Mechanismen, ihre Geheimnisse, ihre Wahrheit. Sie kann von einer Wirklichkeit in eine andere stechen. Kann Bullshit offenbaren, Augen öffnen, Schönheit schaffen. Auf Gewalt wollte ich mit Kunst antworten.
 
Kunst ist kein Luxus. Sie ist die Essenz unserer Menschlichkeit und außer dem Recht, sein zu dürfen, verlangt sie keinen besonderen Schutz. Sie akzeptiert Streit, Kritik, sogar Ablehnung – aber keine Gewalt. Und am Ende überdauert sie jene, die sie unterdrücken.
 
So ähnlich argumentieren viele, die schreiben oder malen und sich von ihren Traumata auf diese Weise emanzipieren.
 
Auch Lütfiye äußerte sich zur Frage, in welchem Verhältnis ihr Leben zu ihrem Schreiben steht, mit einem bemerkenswerten Satz: „Ich bin existenziell geladen.“
 
Was ja nur bedeutet, dass jede Künstlerin und jeder Künstler mit verletztem Glück weitermacht.



Das war die Rede. Der Abend war eine Wucht. Wer mag, kann Mely Kiyak hat Kunst hier nachstöbern: https://kunst.gorki.de. Und hier bitte Lütfiye Güzels Gedichthefte kaufen und glücklich werden: https://luetfiye-guezel.tumblr.com
 
Bis zum nächsten Mal grüßt hochgestimmt
Ihre Mely Kiyak

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