Es ist und bleibt die Leitfrage an den eigenen Beruf: Was kann Kunst? Muss sie überhaupt etwas können? Ich habe mich mit dieser Frage in unterschiedlichen Kontexten beschäftigt. Zuletzt sehr intensiv auf den beiden Europäischen Schriftstellerkonferenzen 2014 und 2016, die ich gemeinsam mit meinen Autorenkollegen Antje Rávic Strubel, Nicol Ljubić, Tilman Spengler sowie dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Berlin organisierte. Ich habe – und tue es noch – an die Macht der Literatur geglaubt. Aber nicht in dem Sinne, dass sie unmittelbar in Politik eingreifen könnte, was ja doch eine vergleichsweise profane Wirkung hätte, sondern, dass sie etwas viel Größeres kann. Musik, Bilder und Literatur bewirken die Bewegung des Geistes. Dem Handeln des Menschen geht das Denkbare voraus. Er bewegt sich immer im Rahmen der eigenen Vorstellungskraft. Nur wer in der Lage ist, sich in etwas hineinzudenken, kann das Eigene verlassen und dorthin gelangen.
Als ich Philipp Ruchs Buch Schluss mit der Geduld las, fand ich ein ähnliches Berufsverständnis. Dass er als politischer Aktionskünstler an die „Macht der Fiktion“ glaubt, ist klar. Doch wusste ich nie ganz genau, was sich hinter dem Schaffen des Zentrum für Politische Schönheit als theoretische Grundlage verbirgt. Ruch erzählt, dass bereits die alten Griechen überzeugt davon waren, dass eine Gesellschaft erst im Medium der Imagination zu einer empathischen Gesellschaft wird. Die Reichweite der Vorstellung bestimmt, ob Gewalt, die ein anderer erleidet zum eigenen Schmerz wird. Deshalb blickt der eine weg, und dem anderen „entwurzelt sie gleich die ganze Seele“. Diesen Radius nannten die antiken Philosophen phantasia.
Ich habe mit Erlaubnis des Autors und des Münchener Ludwig Verlags (denen ich herzlich danke), das Schlusskapitel des Buches von 55 Seiten auf ein paar wenige Seiten zusammengestrichen und so zusammengestellt, dass sie sich wie ein Manifest oder ein Monolog lesen. Ich fand den Text (in dieser komprimierten Version) auch deshalb so aufregend, weil er natürlich mit dem, was am Theater gemacht wird, sehr viel zu tun hat. Hier ist er:
Phantasie und Widerstand
– von Philipp Ruch –
Die Historiker sind unsere Kinder. Vor ihnen werden wir keine Gnade finden. Wir wissen das, weil unsere Eltern die Generation unserer Großeltern, die den Nationalsozialismus geduldet oder mitgemacht hat, nicht anders beurteilt hat. Der Blick auf uns wird auf etwas fallen, das keinen Halt geben kann – auf das Wasser. Auf das Meer. Auf den stillen Untergang Hunderttausender von Menschen in den letzten zwanzig Jahren. Auf unsere Politik. Auf unser Handeln und Nichthandeln. Das Zurückhalten der Rettungskräfte. Die mangelnde Bereitschaft, Menschenleben zu schützen. Das ist unsere Politik.
Später werden wir behaupten, dass alles sei zu komplex gewesen. Dass wir abgelenkt waren von sozialen Medien, Eilmeldungen oder Aktienkursen. Wir konnten nicht erkennen, was vor sich ging. Wir konnten nicht sehen, was wichtig war. Aber das stimmt nicht. Wir hätten es erkennen können. Wir können heute schon sehen, was aus uns geworden ist. Jeder kann sehen, dass viele unserer politischen Debatten wie Kometen an den großen Themen unserer Zeit vorbeizischen.
Wir gehören zu den reichsten Nationen der Erde. Wir leben in einem Wohlstand, der beispiellos ist. Wir haben Zugang zu allem, wovon die Menschen die gesamte Geschichte lang geträumt haben: Wissen, Wasser, Nahrung, Technik, Wohlstand. Aber was wir politisch in den vergangenen zwanzig Jahren zuwege gebracht haben, führte in einen Zustand der humanitären Anarchie. Ob wir Humanität erreichen oder verfehlen, wird dem Zufall des Einzelnen überlassen.
Auf den Breitengraden des Mittelmeeres endet das Menschenrecht. Wir wollen, dass hier das Naturrecht herrscht. Es ist die Politik der Europäischen Union. Unsere Politik. Wir wollen, dass dort kein Recht, kein Gesetz, keine Gerechtigkeit regiert. Die Menschheit geht hier sehr direkt unter. Hier sinkt er zum zweiten Mal, der europäische Traum. Die Ertrinkenden sind europäischer als wir alle zusammen. Sie haben den Glauben an die Menschlichkeit Europas bewahrt. Eine Menschlichkeit, die untergeht, weil es der Glaube der Flüchtenden an Europa ist, der sie unter Wasser zieht.
Die wenigen, die sich gegen unsere Politik stemmen, artikulieren und organisieren den zivilen Willen, Menschen aus der maritimen Todeszone zu fischen. Ihr Humanismus ist radikaler, illegaler und kompromissloser als die sonst üblichen Lichterketten und Mahnwachen, die dem bürgerlichen Gemüt entsprechen. Die Seenotrettung ist Made in Germany. Es sind in großer Zahl deutsche Schiffe, bezahlt von der deutschen Zivilgesellschaft, die im größtmöglichen Stil Leben retten. Doch ausgerechnet sie werden von Journalisten verächtlich gemacht. Von Politikern angegriffen. Von der Polizei verhaftet.
Die Fährte der Spuren ist kompliziert. Aber von einer Bildlosigkeit des Verbrechens kann keine Rede sein. Zwar tauchen die wenigsten als Leichen wieder auf. Aber einige tun es. Wie Bojen schnellen die Bilder lebloser Menschenkörper ins Bewusstsein. Sie sind da. Alle kennen das Bild des dreijährigen Alan Kurdi. Der Tag, als dieses Bild entstand, war im Übrigen der Tag des größten Versagens in der jüngeren deutschen Pressegeschichte. Der Rest der Welt druckte das Bild. In Deutschland unterschlugen es fast alle Zeitungen. Selbst die BILD entdeckte plötzlich Pietätsgefühle und schob die Kinderleiche kurzerhand von der Titel- auf die letzte, immerhin trauerschwarz umrandete Seite. Die freie Presse mutete der deutschen Öffentlichkeit das Bild erst zu, als es im Ausland und in den sozialen Medien ikonisch geworden war. Ich horte ein Archiv mit ertrunkenen Kinderkörpern. Ich will wissen, wo, wie und wann Kinder sterben. Ich will wissen, woran meine Mitmenschen sterben. Wir müssen das wissen. Es sind keine Sklaven. Es sterben Menschen wie wir. Wie meine Kinder.
Die Wirklichkeit mit Fiktion unterlaufen
Wir können noch so herunterbeten, dass wir als Menschen unsere Würde nicht verlieren können. Wir können sie verlieren. Natürlich können wir. Durch das Handeln. Und durch Untätigkeit bei Verbrechen, deren Zeuge wir werden.
Solange es irgendwo auf der Welt wissensfreundliche, wahrheitsliebende Gesellschaften gibt, bleibt in den Geschichtsbüchern einzig die moralische Perspektive übrig. Hitler betrachten wir nicht ökonomisch oder soziologisch, auch wenn es durchaus möglich wäre. Es gibt Forschungszweige, die das versuchen. Aber sämtliche Perspektiven auf das NS-Regime sind der moralischen Perspektive bei Weitem unterlegen.
Alle Menschen teilen ein Interesse am Guten. Der Glaube an ihre moralische Gutartigkeit hält jede Gesellschaft zusammen. Die Vernichtung moralischer Regungen ist die Voraussetzung von jeder Form der politischen Barbarei. Deshalb ist der Grad der Moralverachtung unter Gebildeten, die schon moralische Fragen für anstößig halten, erschreckend. Moral ist nicht der Feind.
Was kann Kunst in diesen Zeiten ausrichten? Was kann Kunst ändern? Die politische Kunst ist unbequem. Sie ist antiautoritär. Sie ist noch da antitotalitär, wo sie sich gänzlich totalitär geriert. Die freie Kunst kritisiert und kontrolliert Macht. Wenn die Luft vergiftet wird, werden Literatur und Kunst zu Schutzbunkern, in denen der Traum von einer besseren Welt überwintert. Das Bewusstsein darum, dass es immer anders sein könnte, dass die Wirklichkeit nicht so sein müsste, wie sie ist, dieses Bewusstsein stiftet die Kunst. Kunst ist Fiktion. In Zeiten, in denen die herrschenden Kräfte totalitär oder autoritär werden, mutieren Theaterhäuser und Bücher zu intellektuellen Zentren des Widerstands. Von diesen Herzkammern der Fiktion aus kann der Kampf gegen den Ungeist und Unmenschlichkeit gelingen.
Während Wissenschaft und Journalismus der Non-Fiction verpflichtet sind, ist die Kunst befreit von einer solchen Bindung. Im Gegenteil: Von der Kunst wird erwartet, fiction zu liefern. Das wird oft übersehen. Wir kommen der Wahrheit nicht nur mittels Non-Fiction näher. Wir kommen ihr mit fiction mitunter viel näher. Erich Kästner drückt das in einem Beitrag in der Weltbühne so aus: »Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, müßt ich lügen!« Manchmal enthüllt eine Lüge erst die Wahrheit. Die Wirklichkeit kann Theater sein. Und das Theater wie im Fall des Zentrums für Politische Schönheit Wirklichkeit. Das ist eine Versöhnung der unterschiedlichsten Kräfte: Dem Theater geben wir die Wirklichkeit und der Wirklichkeit das Theater zurück.
Die Kraft der journalistischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft rührt aus der Selbstverpflichtung, sich ihre Erzeugnisse nicht auszudenken. Die freie Kunst kennt keine derartige Selbstverpflichtung. Sie darf sich nicht nur alles ausdenken. Sie darf es auch als Wirklichkeit ausgeben. Kunst darf sogar wirklich sein und sich nichts ausdenken. Manchmal ist die Wirklichkeit das beste Versteck für Fiktion. Zu unerträglich erscheint es der Gesellschaft, dass wahr sein könnte, was wir behaupten.
Churchill las
Ich bin ständig mit Menschen konfrontiert, die hören (oder erklären) wollen, dass es sich bei dem, was wir tun, nicht um Wirklichkeit, sondern um Kunst handle. Als sei die Kunst kein Teil der Wirklichkeit. Kunst kann in einer Weise zu Wirklichkeit gerinnen, dass Menschen das Bedürfnis überkommt zu erfahren, wo die Wirklichkeit beginnt. Das ist nur oft gar nicht möglich. Weil die Gesellschaft erst wird. Gerade durch die Macht von Fiktionen.
Das Wesen von Aktionskunst ist die »radikale Nähe zur Wirklichkeit«. Diese Nähe kommt aus einer anderen Richtung als der Journalismus auf die Wirklichkeit zu. Aber sie ist nicht weniger legitim bei der Entdeckung der Welt. Wir haben die großen Kämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst vergessen, als es um die Frage ging, wer die Gesellschaft besser beschreibt: Soziologie oder Literatur? Diese Fragen sind heute so zentral wie damals. Die Erkenntnisse der Schriftsteller waren für das Verständnis einer Gesellschaft einst genauso bedeutend wie die der Soziologie. Sie galten auch lange Zeit als akkurater als alles, was Psychologen über den Menschen herausfinden konnten. Churchill bezog sein Wissen über den Menschen aus Büchern. Die Literatur füllte ihn mit Schätzen, von denen die politikwissenschaftliche Machttheorie gar nichts wusste.
Erzählen ist erinnern. Das kollektive Gedächtnis besteht aus Geschichten. Wenn wir die Geschichtenerzähler nicht achten, wenn wir Menschen, die mit dem Erzählen ihr Geld verdienen, aus den öffentlichen Debatten ausschließen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie der Gesellschaft nichts geben können.
Die Künste können Öffentlichkeit mit Mitteln bewegen, die weder Politik noch Journalismus zur Verfügung stehen. Natürlich ist es wichtig, zu »sagen, was ist«. Aber der Anspruch darf nicht hinter die Erkenntnishöhe zurückfallen, dass das, was ist, wie jede gesellschaftliche Wirklichkeit verhandelt wird. Dies geschieht erzählend, im Modus zu erprobender Fiktionen. Zurückgefragt: Was ist denn? Wissen wir das? Wissen wir, warum Trump gewählt wurde? Wissen wir, warum der Rechtsextremismus auf dem Vormarsch ist? Wissen wir, warum Hitler 1928 in den Wahlen krachend scheiterte und vier Jahre später die Gesellschaft ins Grab reißt? Je klüger eine Person ist, desto weniger kann sie von den wichtigen Dingen erklären. »Sagen, was ist«, ist im Angesicht der Wirklichkeit eine intellektuelle Zumutung. Man kann den Satz anbeten. Aber er passt nach Hamburg, wo Visionen zum Arzt gehören.
Ich bin der Meinung, dass Menschen ohne Fiktionen zum Arzt gehen sollten. Inmitten von Fiktion zeigt sich Wirklichkeit. Mit Phantasie lässt sich der Wirklichkeit näherkommen. Fiktion ist eine ganz passable Möglichkeit zu sagen, was ist. Phantasie kann Wahrheit enthüllen. Sie kann uns aus der Höhle gesellschaftlicher Phantasmen befreien. Kunst distanziert uns von der Wirklichkeit. Und Kunst ist, wie Alexander Kluge sagt, nicht nur »Distanzierungsmittel«, sondern auch »Angriffsmittel«.
Wir dürfen die politischen Angriffe nicht dem Zufall überlassen. Mut und Zuversicht brauchen Geschichten. Auch die Geschichten derer, die dabei waren. Sie leben noch. Menschen wollen, dass man von ihnen erzählt. Sie wollen vorkommen. Sonst klicken sie auf AfD-Seiten Amok.
Schriftsteller und Künstler waren es, die Deutungen schufen, mit denen wir Menschen uns besser verstehen können. Geist, Seele, Bewusstsein, Ethik, Gewissen – alles Ideen, die nicht von der Philosophie, sondern in der Kunst (im griechischen Theater genaugenommen) entstanden sind.
Wir leben in einer Welt der Ideen von Künstlern. Bruno Snell weist diesen Ursprung in seinem atemberaubenden Buch „Die Entdeckung des Geistes“ nach. Ob seelische Spannungen, Individualismus, Subjektivität, Kollektivismus oder die Macht von Entscheidungen – alles Entdeckungen der Lyrik und des Theaters. Die Philosophie greift sie auf. Das Theater im antiken Griechenland probiert und entdeckt. Selbst die großen politischen Ideen – wie etwa die Demokratie – nehmen ihren Lauf aus dem Theater und der Literatur. Wie weit die Strahlen der menschlichen Künste reichen und leuchten können, es ist unglaublich.
Wir brauchen weniger Meinungs- und mehr Sehnsuchtsbildung. Kunst ist kein Luxus. Kunst ist ein Grundnahrungsmittel. Die Hitzewelle psychischer Krankheiten, die uns erreicht, dürfte nichts mit der Geschwindigkeit der Welt zu tun haben (in der Menschheitsgeschichte gab es wesentlich dramatischere Umbrüche). Aber viel mit dem Niedergang des Buch- und Zeitungsmarktes. Lesen ist nicht eine Kompetenz unter vielen. Ohne das Lesen gibt es keine Artikulation, kein Denken, kein genaues Fühlen.
Der leere und hungrige Geist ist eine Gefahr.
Mehr Sehnsuchtsbildung!
Über die Macht der vierten Gewalt ist viel geschrieben worden. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Journalisten in der Lage sind, Waffenhändler zu entlarven und illegale Geschäfte aufzudecken. Aber sie tun das mit Investigation, nicht mit Fiktion. Was ist mit der Macht der Fiktion?
Kunst kann Gegenwirklichkeit herstellen. Von ihr wird erwartet, dass sie Fiktion ist. Deshalb empören sich in der Kunst auch so viele Fachleute über das Zentrum für Politische Schönheit. Wir sind ein umgedrehter Claas-Relotius-Fall für die Kunst: Wo Fiktion erwartet wird, ist bei uns Wirklichkeit.
Eine Sprecherin des Innenministeriums sagte vor laufenden Kameras in der Bundespressekonferenz: »Die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit tragen dazu bei, eine Polarisierung der politischen Debatte voranzutreiben und einer Spaltung der Gesellschaft Vorschub zu leisten.« Seither wird dieser Vorwurf auch von eher kritischen Journalisten übernommen.
Wenn eine offene und großzügige Gesellschaft, die Durchsetzung des Rechtsstaats oder die verfassungsmäßig garantierte freie Kunst die Gesellschaft zu spalten vermögen, dann liegt das vielleicht weniger an der offenen Gesellschaft, dem Rechtsstaat oder der freien Kunst als an denen, die diese Güter als spaltend erleben. Wen ein Bekenntnis zur Demokratie zu empören vermag, der steht vielleicht schon nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes.
Das Interesse an Humanität stellt keine Meinung in der politischen Debatte dar und ist nicht gleichwertig mit der Meinung, dass die Gewaltenteilung oder die freie Presse abgeschafft gehörten. Für den Humanismus existiert keine demokratiefeindliche Entsprechung. Der Rechtsextremismus gehört ganz einfach nicht zur demokratischen Debatte dazu. Er steht weit abseits davon. Wir haben uns alle schon viel zu sehr daran gewöhnt, dass rechtsextremes Gedankengut in einem Teil der Gesellschaft vorhanden ist. Die offene Gesellschaft lebt davon, dieses Gedankengut nicht zu dulden. Das Interesse an Mitmenschlichkeit ist ein Grundsatz, durch den die politischen Debatten überhaupt erst stattfinden können. Humanität ist keine Position unter vielen. Sie ist keine Meinung, die dann der Rassist konterkarieren kann. Sie ist die Substanz der Republik. Sie ist die Substanz dessen, was wir mit der Würde des Menschen eigentlich meinen.
Kunst kann, als Werk an die Öffentlichkeit übergeben, Boden gutmachen. Kunst kann dazu beitragen, dass wir weniger grausam zu uns selbst sind. Dass wir alle weniger grausam zu den anderen Menschen, im Mittelmeer, in Syrien, sind. Fiktion macht es erst möglich, nicht länger wegzuschauen. Mittels Phantasie können wir der menschlichen Pflicht nachkommen, mitmenschlich zu handeln. Deshalb ist Kunst womöglich eine angemessene Form, etwas gegen die Verbrechen unserer Tage auszurichten.
Über den Holocaust heißt es wieder und wieder, er sei »unvorstellbar«. Ich misstraue dieser Behauptung. Nicht weil sich im Holocaust nicht unvorstellbare Dinge ereignet hätten. Aber seine Schrecken verdienen es nicht, mit philosophischem Fatalismus abgedeckt zu werden. Das Leid der Menschen, die der Holocaust vernichtet hat, schreit geradezu danach, vorgestellt zu werden. Den Holocaust als etwas zu betrachten, das sich jenseits aller Vorstellungskraft befindet, entlastet uns erst von der anstrengenden und aufreibenden Suche nach Vorstellungen.
Der Topos, die Verbrechen des Holocaust seien unvorstellbar, dient vielen als Vorwand, die Quellen gar nicht erst zu studieren und zu versuchen, sich das Geschehene vorzustellen. Wer sich die Mühe macht, die Bücher, Dokumente, Prozessakten und Gespräche mit den Überlebenden genau zu lesen, der kommt schon zu so etwas wie einer Vorstellung davon, was sich in Auschwitz oder der Schlucht von Babyn Jar abgespielt hat. Sie oder er kann sich die Verbrechen des Holocaust genauer und besser vorstellen als jemand, der die Zeugnisse einfach ignoriert, weil es ja unvorstellbar sei, was da geschehen ist. Das gilt übrigens in jedem Krieg und für jedes Verbrechen.
Die Vorstellung, die sich die Einzelne von Auschwitz macht, kann armselig sein im Vergleich zu dem, was sich in Wirklichkeit ereignet hat. Aber eine vage Vorstellung der Verbrechen halte ich für immer noch besser als gar keine Vorstellung. Versuchen zu verstehen ist immer noch besser, als nie mit der Suche zu beginnen. Im Mittelmeer ertrinken Menschen. Sie haben Angehörige, die um sie trauern. Sie haben zum Abschied ihre Hände oder Stirn berührt. Sie waren zärtlich zu ihnen. Sie sind alle Könige für irgendwen auf der Welt. Sie sind wie wir.
Eine meiner wichtigsten Entdeckungen bestand in der Erkenntnis, dass wir nicht aus Mangel an gutem Willen oder aus purer Bösartigkeit unfähig sind, uns in die Lage anderer Menschen zu versetzen. Wir sind immer nur aus Mangel an Vorstellungskraft unfähig dazu mitzuleiden. Das ist eine Erkenntnis, die Hoffnungen weckt.
(Aus: Philipp Ruch, „Schluss mit der Geduld – Jeder kann etwas bewirken. Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten“, Ludwig, € 12,00)
Foto: Zentrum für Politische Schönheit, Gestaltung: María José Aquilanti
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