Mir fiel bereits vor längerer Zeit auf, dass meine männlichen Kollegen in ihrer Leserpost stets mit „Werter Herr von Kolumnist“ angesprochen werden, also immer siezend und mit Nachnamen. Ich hingegen werde prinzipiell mit meinem Vornamen angeschrieben: „Mely!“ Das Ausrufungszeichen ist sehr wichtig. Ohne geht es eigentlich nie. Immerhin können sich meine Leser die Buchstabenfolge merken, tröste ich mich. Einmal, das ist Jahre her, lud mich der Ehemann einer Pastorin aus Halle an der Saale zu einer Lesung ein. Wir vereinbarten, dass er mich mit den Worten vorstellt: „Herzlich willkommen Kely Miyak“, dann wollten wir abwarten, ob es jemand merkt. Tatsächlich meldete sich eine Zuhörerin aus dem Publikum und merkte an: „Sörry Theö, die heißt nicht Kely Miyak, sondern Necla Kelek.“
Der Klassiker unter den Fragen, die mich erreichen, lautet: „Sag mal, wer bumst Dich eigentlich? Mely!“ Meistens wird mir diese Frage von Lesern aus dem orientalischen Mittelmeerraum gestellt.
Natürlich antworte ich auf so etwas unverstellt und offen: Die Frage, wer mich bumst, ist abhängig von den Jahreszeiten. In Monaten mit M bumst mich der Herr Mustafa, in Monaten mit S Herr Süleymann. Für die Monate mit Ü und Y allerdings fehlen mir noch Bumser, antwortete ich einmal einem Leser. Er schrieb zurück: „Kein Problem, da bumse ich dich. Kann auch die anderen Monate übernehmen“. Ich antwortete: „Fangen wir lieber klein an. Üprül bis Yktober können Sie vorbeikommen, Gorkitheater Berlin, Hauptbühne, 19.30 Uhr“.
Was mir immer wieder auffällt, ist die Diskrepanz zwischen den Lesern mit Muttersprache aus dem orientalischen Mittelmeerraum und jenen, deren Eltern gebürtig nördlich der Alpen entstammen. Die erste Gruppe, also die Mittelmeerrezipienten, sind besessen von der Frage, ob ich „da unten“ Haare habe. „Hat sie Haare?“, „Die Schlampe hat bestimmt Haare“, „Sie ist schon so alt, sie hat bestimmt keine Haare mehr“, „Vielleicht hat sie Borsten, diese verfickte Hure“. Neulich sah ich in einer Teenagerkomödie das Foto einer dunkelhaarigen Vulva mit leicht geöffneten roséfarbenen Labien. Zwei Schuljungen überboten sich aufgeregt in bildreichen Beschreibungen. Eine davon lautete, dass die Muschi aussehe, wie ein Hamster mit einer Scheibe Schinken drauf.
Die andere Gruppe konfrontiert mich zuverlässig mit der Frage danach, was meine Arbeit bewirke. Ich reagiere besonnen, was soll ich sonst tun: „Was erwarten Sie sich von meinen Texten, es handelt sich um Infotainment mit einer Prise Amusement“ – „Ja, labern kannst Du. Nichts als labern. Aber Lösungsvorschläge hast Du keine. Mely!“
Die Leute denken, dass Kolumnen schreiben dazu diene, dass man beim kritisierten Gegenstand auch gleich den Verbesserungsvorschlag liefern müsse. Muss man natürlich nicht. Das macht diesen Beruf zu einer begehrten Tätigkeit, die sich gut in die bestehende Tagesfreizeit integrieren lässt. Leicht verdientes Geld unter Beibehaltung geregelter Schlafens- und Mahlzeiten.
Im Gegensatz zu politischen Korrespondenten, die mit den Politikern in den Regierungsmaschinen sitzen und sich anschließend beim Schreiben darüber bewusst sein müssen, dass auch nur der leiseste Hauch einer Kritik dazu führen wird, dass sie demnächst nicht wieder mitfliegen dürfen, kann ich alles schreiben. Ich bin – mein Gott, das wird mir jetzt erst bewusst – frei wie ein Kuckuck am Baum. Ich hämmere konsequenzlos meinen Schnabel ins Holz.
Einmal saß ich in der Parlamentarischen Gesellschaft des Deutschen Bundestags und war hingerissen von der Schnittchenauswahl. Die Handynummer des Politikers, die er mir während der Soiree zusteckte, besitze ich noch. Zu Weihnachten schicken wir uns glühende Zeilen der Verehrung hin und her. Er hat ein gutes Herz, half mir aus der Jacke, goss mir zu Trinken nach, brachte mich zum Lachen. Wer bin ich, einen so feinen Mann, der mich mit Aufmerksamkeit überschüttet, zu kritisieren? Ich bin eine Frau in mittleren Jahren, ich schrieb es auch schon als ich eine Frau in jungen Jahren war, ich bin süchtig nach Zärtlichkeit. Wenn man mich bewirtet und umgarnt, setzt meine Kritikfähigkeit aus.
100 Theaterkolumnen später gehört es sich Bilanz zu ziehen. Was hat Kiyaks Theater Kolumne erreicht?
Ich würde sagen: Im Großen und Ganzen nüscht.
Im Laufe der einhundert Theaterkolumnen habe ich viele Schauspieler kommen und gehen sehen. Allein das Studio hat in der Zwischenzeit drei Mal die Leitung gewechselt. Es ist immer die gleiche Tragik. Wir holen die Kinder von der Straße, stecken unser ganzes Herz- und Hartz IV in die Bagage, bilden sie tippitoppi aus, dann kommen die reichen Clubs und kaufen sie uns wieder weg.
Mein Gott, wie ich hier begann, gab es im Studio noch getrennte Toiletten für Frauen und Männer. Ach, was rede ich! Als ich anfing im Gorki zu schreiben, gab es noch Frauen und Männer!!
Wir waren die erste Generation, die aus West-Berlin kam und am Festungsgraben Aufbauarbeit leistete. Meine Kolumnen wurden abends vor der Vorstellung von studentischen Aushilfskräften mit Glöckchen an den Filzschuhen laut „Depesche, Depesche!“ rufend vor dem Hauptportal verteilt. Manchmal hielten Touristen Unter Den Linden an, um sich das Spektakel anzusehen und fragten, „Is the Kaiser still alive? – Yes“, antworteten unsere mittelalterlichen Boten und drückten ihnen eine Theaterkolumne in die Hand, „she is verkünding her newest Dekret.“
Auf die Kolumnen folgten Köfte und der ganze andere Bums, mit dem man uns nachsagt, wir wären eine Art Asylbewerberheim mit angeschlossener Theater AG.
Mittlerweile steckt meine Theaterkolumne in einer Kunststoffkolumnenvitrine neben der Theaterkolumne unseres Exiltürken, den unsere Direktorin in der Zwischenzeit auch noch einstellte. So liegen die Kolumnen wie in einem Klopapierhalter im großen Foyer. Wer will, nimmt sich ein Blatt, faltet es und fächert sich damit während der Vorstellung Luft zu. Eine Zuschauerin, ich sah es mit eigenen Augen, nahm sich eine meiner Kolumnen, las sie aufmerksam durch und sagte zu ihrem Ehemann: „Schau mal, sie spielen heute wohl doch nicht Kleiner Mann – was nun?, sondern Kiyaks Theater Kolumne. Ist das nicht von Thomas Bernhard?“
Oft steht bei uns in der Kantine eine neue Aushilfe, die mir beim Abkassieren den Ausländertarif berechnet, also den Preis für „Außer-Haus-Gäste“. Sie will mir partout nicht glauben, dass ich zugehörig bin, wenn ich sage: „Mach Hauspreis, Liebling“. Ich bin einfach zu selten da, weil ich viel „Homeoffice mache“. Meistens aus dem Restaurant vom Fünfsterne Hotel de Rome aus, das auf der anderen Seite der Linden liegt. Manchmal habe ich Glück und Schauspieler aus dem Haus bürgen für mich. Wie neulich, da standen unsere beiden Schauspiel-Mehmets hinter mir in der Reihe und sangen wie in einem antiken, griechischen Chor, vallah, sie ist keine Scheingorki, sie ist eine indigene Iphigenie.
Eine Sache habe ich doch erreicht, fällt mir ein. Ich habe mit meinem Schreiben die herrschenden Machtverhältnisse geändert. Die Faschisten sind mittlerweile im Bundestag vertreten. Ich wurde dafür schon miofach in Haftung genommen. Meine hassdurchsiebten Weltbetrachtungen führten angeblich dazu, dass unbescholtene demokratieverliebte Deutsche aus Gründen des Selbstschutzes die AfD wählen würden. Das ist eine Logik, die man nur versteht, wenn man sich in der NSDAP-Ideologie auskennt. Am Faschismus sind immer die Opfer schuld. Das klingt simpel und nur deshalb funktioniert es. Ich bin aber nicht schuld am Aufstieg der Faschisten. Umgekehrt ist es präziser. Ohne meine Präsenz würde es den Faschisten schwerer fallen, ihren Faschismus zu legitimieren. Bitte gern geschehen, man hilft, wo man kann. Aber insgeheim denkt man sich auch, meine Güte, diese Nazis sind gegen Inklusion, brauchen zum Arschlochsein aber unsere Hilfe.
Diese Theaterkolumne besteht aus der fabelhaften Majo Aquilanti, die die Grafik erstellt und damit die Nachfolgerin des famosen Deniz Keskin ist, der jahrelang an dieser Stelle zeichnete und bebilderte. Nach dem ägäischen Türken Deniz dachte ich, ich könne nie wieder lieben, aber mit meiner neuen argentinischen Flamme erlebe ich gerade einen zweiten Frühling.
Der supergeduldige und superelegante Lutz Knospe koordiniert die Abnahme durch unsere Frau Direktorin, was bedeutet, dass er tagelang Shermin Langhoff hinterherläuft, damit sie den Text liest und freigibt, denn nur so bewahrt sie uns alle vor juristischen Rechtsstreitigkeiten. Ohne sie säßen wir schon längst alle in Abschiebehaft.
Patrick Kennedy ist verantwortlich für den Atomknopf. Wenn er abdrückt, dann erscheint die Kolumne bei Ihnen im Postfach, auf der Homepage, in den sozialen Netzwerken. Er ist auch derjenige, der Ihr digitales Ich auslöscht, wenn Sie mir auf Facebook zu nahe treten. Er kann Leben auspusten, er ist eine Art Kim Jong-un, aber ohne dessen finanzielle Mittel im Hintergrund.
Diese Kolumne wäre undenkbar, ohne die superschlaue, stilsichere und filigran denkende Xenia Sircar. Sie ist die Redaktion hinter diesem Format und für mich das, was Gordon Lish für Raymond Carver war. Es sind immer die Lektoren, die die Texte mitschreiben, es gibt keinen Autor auf dieser Welt, der auch nur eine Sekunde ohne seinen Lektor überleben würde. Xenia ist die geheimnisvolle andere Hälfte meiner Autorenschaft. Einer ihrer häufigsten Hinweise am Rand der Texte lautet: „Bitte etwas mehr Mely. Mely!“. Eigentlich ist sie ich.
Meine sehr verehrten Leserinnen und Leser, ich danke für Ihr Interesse.
Wir machen weiter.
Herzlich
Ihre Mely
PS: Am 5. Mai feiern wir das Jubiläum im Studio. Da erzähle ich ausführlich, wer wie was und warum. Es gibt Torte, Lesung ohne Ende und natürlich freien Eintritt. Wolle Rose in Mund stecke und komme?
Foto: Esra Rotthoff
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