Verstümmeltes Deutsch mit Kaputthintergrund

Mely Kiyaks Theater Kolumne #97
Wenn ich Menschen begegne, die nur Deutsch sprechen können und allenfalls etwas Schul-Russisch oder Schul-Englisch beherrschen, oder die zu Hause die gleichen Worte verwenden wie auf dem Schulhof, kann ich vor Mitgefühl kaum innehalten.

Dann schaue ich diese Leute an und denke: „Eeeecht jetzt? Voll space, vallah! Nur eine Sprache? Wie vollamputiert. Hast Du Behindertenausweis?“

Ich erwähne das bloß, weil neulich in der Bild-Zeitung eine in meinen Augen vollkommene Normalität zur Schlagzeile wurde: „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause deutsch“. In der Unterzeile zitierte man noch eine Rektorin aus Neukölln: „Wir sind arabisiert“.

Mein erster Gedanke war: inşallah yarabbim! Hoffentlich bleibt es nicht bei leeren Versprechungen!

In bestimmten Landstrichen Deutschlands traf ich Menschen, deren Muttersprache eigentlich Deutsch ist, aber das, was sie sprechen, könnte man allenfalls als Alternativdeutsch beschreiben. Paralleldeutsch. Fakedeutsch. Ich meine damit keinen Dialekt, was in meinen Augen immer und in jeder Sprache ein linguistisches Kunstwerk darstellt. Nein, ich meine verstümmeltes Deutsch mit Kaputthintergrund. Gesprochen von Henning und Jasmin. Heike und Jerôme-Björn.

Menschen, die aus anderen Ländern kommen und ihre Kinder hier in Deutschland erziehen, sind in meinen Augen hiesigen Muttersprachlern vielfach überlegen. Sie sprechen unter Umständen semi-exzellentes Deutsch, dafür können sie eine Menge Dinge, die andere nicht können.

Sie kennen sich mit zwei Steuersystemen aus. Sie können in zwei Ländern ihre behördlichen Angelegenheiten regeln, Autos mieten, anmelden, abmelden. Sie wissen, wie man sich in zwei Medizinsystemen bewegt, kennen die Fachtermini aller Volkskrankheiten in zwei Sprachen. Sie können sich in zwei Ländern ins Auto setzten und nicht nur blind jedes Dorf und jede Stadt anfahren, sondern wissen auch auf Anhieb wie man in die Nachbarländer kommt. Sie kennen die Berge, Flüsse und Täler von zwei Ländern, wissen wo sie münden und in welchen man schwimmen kann. Sie kennen die Küchen zweier Länder, ihre spezifischen Gewürze und Geschmäcker, die Kochmethoden, die Schulsysteme, das Banken-, Kredit- und Währungswesen. Sie wissen alles über Sparbriefe und Girokonten zweier Länder, kennen die Dispo-Kreditzinsen und die Formeln, um die Grundsteuer auszurechnen aus dem effeff. Sie können im Kopf in Sekundenschnelle von Mark in Euro, in Lira, Dirham, Dinar und zurück in Dollar umrechnen, gleichzeitig einkaufen, den Preis drücken und dabei sehr lustig und irre peinlich sein. Deutsche Monosprachler schieben einfach nur traurig und leidenschaftslos ihre EC-Karten in den Bezahlschlitz bei Rewe an der Kasse, Bisprachler aber können dabei auch angeberisch gucken oder romantisch oder einfach nur pleite, als wären sie auf dem Basar und nicht bei Penny. Ausländereltern mit Doppelsprachhintergrund kennen die Ein- und Ausreisebestimmungen der Länder, in denen sie wohnen, aus denen sie flohen, in denen sie Ferien machten oder machen wollen, aber wegen fehlender Papiere nicht dürfen. Sie wissen, was man tun muss, um diese Papiere zu bekommen. Die Visabestimmungen ändern sich fortwährend. Sie sind immer auf zack, es entgeht ihnen keine Novellierung. Sie beherrschen nicht nur die Alltagssprache sondern auch die Behördensprache, was ja in allen Ländern eine Welt für sich ist. Und wenn man sie auf der Straße fragt, wie es Ihnen geht, wissen sie, dass der Arzt die gleiche Frage nur in anderen Worten stellt („Was sind Ihre Beschwerden?“). Sie kennen das Liedgut, die Literatur, Gedichte und die Sprichwörter zweier Länder, sie können in zwei Sprachen einen freundlich gemeinten Witz von Sarkasmus unterscheiden. Sie kennen die Fußballvereine und alle Clubs, die in der ersten Liga spielen. In beiden Ländern! Sie kennen die Fußballhymnen, die Weihnachtslieder, die Bayrambräuche, die Feiertagsfloskeln, die Flüche, die Verwünschungen, die Beileidsworte und auch die Glückwünsche zur Geburt. Sie kennen die UKW-Stationen ihrer Lieblingssender beider Länder auswendig, sie wissen, wann in welchem Land Feiertag ist. Sie verfolgen ntv, CNN, BBC, ARD, al-jazeera und sie schauen immer das ZDF Wetter im heute journal. Die Wetterkarte beider Länder haben sie fest im Blick, denn egal wo sie sind, immer ist jemand, den sie lieben, hier oder dort, und da will man wissen, ob demnächst mit Frost oder Hitze zu rechnen ist. Sie kennen die Handytarife und Roaming-Gebühren ihrer beiden Länder auswendig. Sie kennen die Zeitungen und Zeitschriften zweier Länder, sie beherrschen das Lotteriesystem und dessen komplizierte Regeln hier wie dort. Sie kennen bedeutende Reden von Politikern aus zwei Ländern, wenn man sie nach Naturkatastrophen befragt, haben sie diejenigen aufgrund von Sturm, Wind und Regen genauso erlebt wie die aufgrund von Hitze oder Erdbeben tausende Kilometer entfernt.

Sie kennen und wissen mehr. Sie erfahren mehr. Sie lesen mehr. Sie hören mehr. Sie sehen mehr. Sie sind nicht Ausländer. Sie sind Mehrländer.

Manchmal denke ich, dass Ausländersein in Deutschland nur noch die Funktion hat, damit sich Nichtausländer an ihnen abreagieren können. Es ist der immer gleiche, alte Stumpfsinn. Deutsche wollen, dass man deutsch wird wie sie. Ich würde jedem Nichtdeutschen empfehlen, der zu bleiben, der er ist. Warum freiwillig all diese Erfahrungen, Kompetenzen, Ressourcen aufgeben? Damit man die gleichen Minderwertigkeitskomplexe hat wie diese Rektorin aus Neukölln? Damit man auf ihrem Bildungsniveau stecken bleibt? Sie hat offenbar kein einziges Linguistikseminar während ihrer Pädagogikausbildung besucht.

Bilingualität bedeutet eine erhöhte Multitaskingfähigkeit. Mehrsprachler sind fitter im Gehirn. Es gibt dazu Studien ohne Ende. Sie belegen alle, dass Mehrsprachler gegenüber Monolingualen in vielen Dingen überlegen sind. Sogar von einem geringeren Alzheimer-Risiko ist die Rede. Wer zwischen zwei Sprachen hin- und herwechselt, vollzieht mit seinem Gehirn eine anspruchsvolle Transferleistung. Mehrere Sprachen sprechen bedeutet nicht nur einen größeren Vokabelschatz zu haben, sondern zwei Leben zu führen. Zwei Systeme zu beherrschen. In zwei Universen ein- und auszugehen.

Um die Welt und den Menschen zu ergründen, bringt es gar nichts, die Länder zu bereisen und im all-inclusive Urlaub fünf weitere Kilo zuzunehmen. Wenn Du Dich zum Spottpreis im sinnlos all-inklusiven Urlaub bedienen lässt, dann bleibst Du, wie Du warst, bevor Du wegfuhrst. Dann reicht es nur für die Bildzeitung. Es kann niemals nur um Grammatik, Semantik und Rhetorik gehen. Wer versucht, die Sprache eines anderen Volkes zu sprechen, einen Schritt raus zu gehen, auf den Markt, auf die Behörde, mit einem Stück Börek beim Nachbarn klingeln, wer versucht die Sprache seines Mitbürgers zu sprechen, der weiß, dass im Leben einzig Gemeinschaft zählt und niemals Genitiv.

Wer sich in einem fremden Land ein neues Leben aufbaut, begrüßt seine Schulkinder möglicherweise mono-, bi-, tri-, nix-verstehen-, oder liebevolllingual. Einzig darum geht es im Leben. Dass Dir einer mit freundlichem Gesicht die Tür öffnet:

Hallo Kinder. Schule schon lange Ende eşek oğlu eşekler! Wo wart ihr, çikken naggetler kalt oldu!

Macht’s gut kıros out there
Ihre Theaterkolumnistin

 

 

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