Riesenmeldung überall. Gauland darf nicht mehr zu Plasberg. Wegen ungehörigen Äußerungen. Warum ausgerechnet diese eine Bemerkung von Alexander Gauland dazu führte, dass Frank Plasberg beschloss, den AfD-Politiker künftig nicht mehr in die Talkshow Hart aber fair einzuladen, ist mir völlig unverständlich. Gauland hatte auf dem Bundeskongress der Jungen Alternative über die Nazijahre in Deutschland gesagt, dass sie im Vergleich zu „1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ nur ein Vogelschiss seien. Im September vergangenen Jahres auf dem Kyffhäuser-Treffen sagte er schon das Gleiche in Grün. Mit Blick auf die NS-Zeit müsse man „uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr“ und verkündete das Recht, „stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Wo besteht der Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen?
Warum also wird Gauland, der ständig Sätze abfeuert, in denen immerzu „gejagt“, „entsorgt“ und „unser Land“ von irgendwoher „zurückgeholt“ wird, plötzlich aus einer Fernsehsendung verbannt? Und spielt Gaulands künftige physische Abwesenheit bei Hart aber fair überhaupt eine Rolle, wenn die Themen seiner Partei dort weiter verhandelt werden – und zwar immer schön brav in der Kombination „Flüchtlinge und Kriminalität“, „Flüchtlinge und ihre Integrationsunfähigkeit“, „Flüchtlinge und ihre Herkunft aus archaischen Gesellschaften“? Das war beispielsweise diesen Montag so. Aber Ende Februar auch. Da ging es um die Justiz und die damit verbundene Frage, ob sie zu überlastet, zu überfordert und zu lasch sei.
Zu Gast war unter anderem der AfD-Bundestagspolitiker und ehemalige Staatsanwalt Roman Reusch. Damit die Diskussion die richtige Stoßrichtung bekam, half der Moderator nach, so gut er konnte. Man sprach über verschiedene Fälle. Reusch sagte, dass er erkennen könne, ob einer kriminell sei oder bürgerlich (allein dieses Gegensatzpaar ist schon ziemlich schräg), woraufhin Plasberg ein beherztes „in diesem Fall waren’s übrigens Flüchtlinge“ hinterher schob, woraufhin Reusch den Ball sofort aufgriff. Das überrasche ihn nicht, schließlich habe die Mehrzahl aller Intensivtäter einen Migrationshintergrund und davon sei „die Masse orientalisch“. Es ist also egal, ob Gauland bei Hart aber fair sitzt oder jemand anderes. Ja, es ist sogar egal, ob über Flüchtlinge oder die Justiz gesprochen werden soll, am Ende landet man immer beim kriminellen Orientalen.
Einen Tag später lieferte die Sendung dann den Faktencheck zu Reuschs Aussage über die kriminellen Orientalen nach, wobei die Redaktion das Zitat verkürzte, indem sie den Teil mit dem Orientalen wegließ. Dabei ging es Reusch doch darum. Sei’s drum. Reusch habe Recht, so schreibt die Faktenredaktion jedenfalls von Hart aber Fair, zumindest was das Jahr 2006 betreffe. Verlinkt wurde aber keine Statistik, sondern ein Arbeitsgruppenbericht.
Ich lud mir den über 100-seitigen Bericht runter und erfuhr, dass es in diesem besagten Jahr 424 registrierte Intensivtäter in Berlin gab. Davon schaute man sich aber nur die Altersgruppe der 14-21jährigen an. Innerhalb dieser Altersgruppe haben 65 einen türkischen und einer einen libanesischen Migrationshintergrund. Das stellt aber doch keine Mehrheit aus arabischen Ländern dar. 165 in dieser Altersgruppe haben eine deutsche Staatsbürgerschaft, inklusive der Russlanddeutschen, die man also aus der Gruppe der Täter mit Migrationshintergrund herausrechnet. So stellen die Türken natürlich im Vergleich zur gesamten Gruppe einen hohen Prozentsatz dar, weil die untersuchte Gruppe immer kleiner wird. Was aber ist mit dem Rest, der jünger als 14 Jahre und älter als 21 Jahre ist? Und wie war die Verteilung 2001, 2005 oder 2007? Man kann es drehen oder wenden wie man will. Irgendwie stimmt die Aussage nicht. Und um es noch komplizierter zu machen, tauchen in dem Bericht noch Zahlen über Täter mit einem Migrationshintergrund aus dem ehemaligen Jugoslawien auf, die man zu „den Orientalen“ zählt. Das heißt, die Gruppe der kriminellen Orientalen samt Kosovo-Albanern und Bosniern wird immer größer und die andere Gruppe wird immer kleiner.
Vielleicht bin ich zu blöd, um Grafiken und Texte zu verstehen, aber eines weiß ich, wenn man unbedingt möchte, dass eine These stimmt, dann kreist man die Zahlen solange um Faktoren wie Alter, Straftat oder Untersuchungszeitraum ein, bis es passt.
Abgesehen davon, was hat der Bericht mit den Flüchtlingen von heute zu tun, die Plasberg erwähnte und Reusch doch genau diesen Zusammenhang aufmachte: Intensivtäter-Orient-Flüchtling? Und ist Berlin repräsentativ für Deutschland? Gab es keine eindeutige Statistik, wollte die Redaktion die These mit Fakten unterfüttern, weil eine Widerlegung im Nachgang die Gästepolitik in ein schlechtes Licht gerückt hätte? Oder soll der Zuschauer alles eigenhändig faktenchecken und sich dann ein Bild machen? Warum gibt es dann aber den Faktencheck?
Dringende Talkshowfrage: Wenn man, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage aufrecht zu erhalten, alle Kriterien abzieht, um die These nicht zu belasten, handelt es sich dann noch um einen Fakt? Anders gefragt: Wo genau liegt eigentlich die Grenze zwischen zurecht gebogenen Fakten und Fakten? Das betrifft den politischen Diskurs doch immerhin ungemein.
Wäre es sehr pingelig, wenn man noch anmerkt, dass eine politische Talkshow, die ihre Glaubwürdigkeit mit nachgereichten Fakten am Folgetag beweisen möchte, eine einzige Kapitulationserklärung für dieses Format bedeutet? Warum redet man heute mit sogenannten Experten, wenn man morgen die Fakten der Alternativ-Experten nachliefert? Warum sitzen dann nicht gleich die richtigen Experten am Talkshowtisch?
Die Fragenliste ist ohnehin lang. Warum sitzen Flüchtlingsbekämpfer in öffentlich-rechtlichen Talkshows und dürfen über Flüchtlinge Auskunft geben? Warum wird über Geflohene als Täter ständig öffentlich verhandelt, obwohl die meisten von ihnen gar nichts angestellt haben? Gelten rechtsextreme Deutsche eigentlich als Intensivtäter?
Wenn es nicht die AfD war, die bei Plasberg saß und Menschenhass verbreitete, waren es andere, deren Interesse weder dem Informationsauftrag noch dem Meinungsaustausch galt, sondern immer dem Vorantreiben eines rechtsextremen Verlages, einer Partei, eines Buches oder einer Solo-Agenda. Kann sich noch jemand an die Zeit erinnern, als der Schweizer Roger Köppel bei Plasberg saß und über Migrationsfragen in Deutschland Expertentum verströmen durfte?
Die Dichotomie „geflüchteter Moslem“ und „zivilisierter Westen“ wird nicht nur von geladenen Gästen, sondern von den Talkshowredaktionen selber konstruiert. Ohne die Beibehaltung des vermeintlichen Gegensatzes würden sich die Gesprächs-Shows das Wasser abgraben. Wo keine Gegensätze sind, kann man ja auch nichts mehr diskutieren. Es gibt aber gar keinen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Islam (wohl aber einen zwischen Antisemitismus und Christentum). Keinen zwischen Kriminalität und muslimischen Geflohenen. So wie es auch keinen Zusammenhang gibt zwischen ostdeutscher Herkunft und Frauen, die ihre Kinder töten und in Balkonkästen oder Mülltonnen verscharren. Oder zwischen österreichischen Familienvätern, die ihre Töchter im Keller missbrauchen und der Bibel. Sich einer solchen Argumentation zu verweigern, ist keine Frage der Moral oder politischen Einstellung, sondern eine Frage des Verstands.
Seit Jahren gehen die Rechtsextremen in den Talkshows ein und aus. Und damit einher gehen Asylrechtsverschärfungen sowie der Versuch, Muslime in ihrer Religionsfreiheit einzuschränken oder Geflohene anderweitig zu erziehen. Die Sehnsucht nach der Hierarchie, die sich darin bemerkbar macht – finde nur ich die unangenehm?
Sie scheinen nicht einmal darüber nachzudenken, die Polittalk-Langzeitfunktionäre Plasberg, Will, Illner, die Phoenix-Runde oder Maischberger. Apropos, bei der saßen Frauke Petry und deren Kollegen viele Male, um über sich selbst Auskunft zu geben. „Sind Sie Rassisten?“, wurde Petry von Maischberger bereits 2016 gefragt. Ähhm, ääh, lächellächel, hüstel, nein, das sind wir nicht, räusper, qietschfidel und pudelwohl grinsgrins. Mit dieser Strategie hat sich die AfD in den Bundestag gegrinst und gehüstelt, immer mit Hilfe der öffentlich-rechtlichen Talkshows, in denen nahezu nie ein Gegenspieler auftrat, der jeder scheinheiligen Äußerung eines AfDlers ein paar gepfefferte Belegzitate vom Neonazi-Festival namens Kyffhäuser-Treffen hätte entgegen schleudern können.
Wie nennt man das, wenn Plasberg, Maischberger und Co. bei der Rehabilitierung von völkischer Ideologie helfen, einfach in dem sie die Aussagen von Rechtsextremen gleichwertig neben die politischen Ansichten der demokratischen Parteien stellen? Betreutes Radikalisieren der politischen Mitte? Keine Partei dieser Welt kann es nämlich in Deutschland allein durch Interviews hinter Bezahlschranken und Reden in Bürgerhäusern mit 13 Prozent in den Bundestag schaffen. Das schafft man nur, indem man in den Medien eine Plattform findet. Es reicht schon, dass die Rechten vorkommen. Egal, ob sie polemisieren, polarisieren, provozieren und anschließend relativieren. Ihr bloßes Vorkommen in allen seriösen Formaten von Fernsehen, Radio und Zeitung vermittelt den Wählern, dass sie schon irgendwie in Ordnung seien.
Sie sind aber nicht in Ordnung. Und die Begründung ist etwas komplexer, was auch mit einem Begriff zu tun, der neuerdings häufiger benutzt wird: Framing. „Jede gemeinsame Handlung fängt mit einer gemeinsamen Sprache an, in der wir diese Handlung planen und in der wir diese Handlung rechtfertigen“, erklärte der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch bei einem Vortrag vor einigen Wochen im Berliner Literaturhaus. Die Geschichte habe gezeigt, dass jedes gemeinsam begangene Verbrechen mit einem Diskurs beginnt, der dieses Verbrechen gemeinsam denkbar macht. Das gilt für die Kolonialisierung, für den Sklavenhandel, für fast alle politischen Katastrophen. Es beginnt immer mit einer sprachlichen Unterscheidung von Menschen in die und wir. Dabei handelt es sich immer um willkürliche Abgrenzungen. Die Unterscheidungen bilden nicht die Wirklichkeit ab, sondern werden zuerst gezogen, dann verhandelt und erzeugen dadurch eine Wirklichkeit.
Damit war es möglich, die Schwarzen zu kolonialisieren und zu entrechten. Das gleiche kann man am Diskurs über Sinti und Roma beobachten, so war es bei Juden in Europa, den Armeniern in der Türkei, den Rohingya in Myanmar. Framing meint, wirklich nur knapp erklärt, dass es einfach genügt, Jude, Flüchtling oder Muslim zu sagen. Die dazu gehörenden Etiketten (gewaltbereite Horden, Kopftuch, Burka, Beschneidung, zustechen, klauen, primitiv) die man gemeinsam zuvor laut aussprach – zum Beispiel in Talkshows – werden irgendwann automatisch dazu gedacht. Allein die Vorstellung schafft eine Wirklichkeit, die mit der Realität nichts zu tun hat. Das ist nicht leicht zu verstehen. Aber es ist die Wahrheit.
Ihre Mely Kiyak
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