Radikale Solidarität

Das Jahr, wie man in feinen Kreisen zu sagen pflegt, macht einen letzten Diener und schiebt gemächlich den Vorhang zu. Kann sich irgendjemand an eine einzige politische Maßnahme der vergangenen zwölf Monate erinnern, von der man sagen könnte, sie war ein Meilenstein? Etwas, das uns erhaben, benommen, demütig zurückblicken ließe? Etwas, von dem wir später sagen können, das brachte uns weiter?

Sollte ich jemals über 2018 befragt werden, wüsste ich nur zu sagen, es war das Jahr, als sich alle einen Barwagen ins Wohnzimmer schoben.

Täuscht der Eindruck oder hat jetzt jeder in seinem „Salon“ so eine Schubkarre, beladen mit Schnaps und eingelegten Oliven, herumstehen? Manchmal macht man sich ja doch einen Spaß und fragt den Gastgeber:

Na, was hast Du denn da Schönes auf Deinem Wägelchen kuratiert?

Es ist nämlich so. Kenner kuratieren. Nur normale Leute stellen etwas ab. Interessanterweise stehen die Barwagen immer bei solchen Leuten herum, die auch diese seltsamen Strümpfe tragen, die bereits knapp unter dem Knöchel enden. Als Antwort ziehen die seltsam bestrumpften Gastgeber mit ihren Händen einen Halbkreis über das Arrangement und beginnen zu referieren:

Dieser Grappa wurde im Piemont auf einem verlassenen Bauernhof von einer alleinstehenden Italienerin im sogenannten Sattelbrandverfahren hergestellt. Dazu legt die Bäuerin die Trauben unter den Pferdesattel und reitet darauf bis nach Ligurien und wenn sie zurück ist, destilliert sie durch das Rosshaar den Brand.

Ich sah einmal die amerikanische Tänzerin Dita von Teese oben ohne in einem gigantischen Martiniglas auf einer Bühne planschen. Sie fischte die Riesenolive aus ihrem Martini-Badewasser und drückte sie über ihr seidig-schwarzes Haar aus. Wie eine Fontäne schoss der Aperitif aus der Olive und ergoss sich über sie. Entweder man stellt sein Verhältnis zu Spirituosen gegenüber Dritten auf diese Art dar, oder aber man lässt es bleiben. Jemand anderer Meinung?

Ich werde jetzt wieder häufiger zu Leuten nach Hause eingeladen. Irgendwo las ich, dass man sich in reaktionären und autoritären Gesellschaften öfter gegenseitig die Wohnungen öffnet, wohingegen in liberalen Gesellschaften der Zugang ins Private eher beschränkt bleibt. Wo es besonders freiheitlich zugeht, werden die Kindergeburtstage in Spaßbädern und Schnellimbissketten ausgerichtet. Freunde werden in sogenannte Showküchen eingeladen, wo man unter professioneller Anleitung gemeinsam Speisen zubereitet und an fremden Orten Vertrautheit und Privatsphäre inszeniert. Am Abend geht jeder in seine eigene Wohnung und kaum einer weiß, wie es beim Anderen Zuhause aussieht. Man trifft sich in Schmusegruppen. Das sind Veranstaltungen, wo sich einander unbekannte Menschen in bequemer Kleidung und gut beheizten Gruppenräumen begegnen und gegenseitig anfassen. Nahezu jeder Bereich des persönlichen oder intimen Lebens wird da, wo absolute Freiheit, Demokratie und Sehnsucht nach Gleichberechtigung herrscht, in die Öffentlichkeit ausgelagert. Nun da die Rechtsextremen im Deutschen Bundestag sitzen und Unruhe verbreiten, wird wieder zu Hause gekocht und gestreichelt. Man betrinkt sich daheim.

Ich wünsche mir, dass das kommende Jahr den 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, Glück bringen möge. Dass auch sie endlich ein Daheim besitzen, so wie wir alle, die wir das Privileg eines Zuhauses haben.

Meine Gedanken sind bei den Hungernden und Verzweifelten im Jemen, in Libyen, in den Lagern in Jordanien, Libanon, der Türkei und Griechenland. Jetzt, in den kalten Monaten, frieren diese Menschen und es ist absolut unnötig, dass es so ist. Wir besitzen auf dieser Welt die Mittel und das Wissen es zu verhindern. Es mangelt einzig am gemeinsamen Willen.

Ich erkläre mich radikal solidarisch mit den Geflohenen dieser Welt. Und wünsche mir eine Partei, deren gesamtes Programm sich im kommenden Europawahljahr 2019 mit diesen beiden Worten zusammenfassen lässt: Radikale Solidarität.

Das Ziel muss immer sein, dass es nicht so wenigen wie möglich blendend geht, sondern so vielen wie möglich einigermaßen gut.

Für mich hat sich nichts geändert. Es ist noch genauso, wie ich es Ihnen zum letzten Jahreswechsel schrieb:

Mein Herz schlägt Hoffnung.

Ihre Theaterkolumnistin aus dem Gorki Berlin
Mely Kiyak

 

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