Am Samstag war ich selbstverständlich auch auf der Berliner #unteilbar Demo und hatte angesichts der vielen Initiativen Integrationsschwierigkeiten. Das Problem habe ich bei jeder Demo. Wo mitlaufen? In welchen Block einreihen?
Am Ende bin ich natürlich bei den Schwulen gelandet. Deren Block wurde von einem Diskowagen angeführt. Aus den Lautsprechern liefen Songs wie 99 Luftballons oder Smells Like Teen Spirit. Demzufolge lief man auch nicht mit, sondern tanzte sich vorwärts. Irgendjemand hatte eine Plüschvagina in Schwarz-Rot-Gold dabei. Jeder, der durch die Kuschelmuschi in die unteilbar-Welt sprang, räkelte sich anschließend und näselte „Wie neu geboohrn!“ Der Wagen war mit Sprüchen geschmückt, da stand Open your Mouth und Sexualität ist keine Entscheidung. Ich fühlte mich geborgen und richtig am Platz.
Ich hielt penibel Abstand zu den Kurden, die vor uns liefen. Sie trugen YPG-Fahnen und schauten so traurig, wie man nur schauen kann, wenn man eine Fahne, aber kein Land hat. Hinter uns lief Die Linke. Die waren ebenfalls sehr traurig. Ihre Situation ist ähnlich wie die der Kurden. Sie haben eine Fahne, aber nicht nur kein Land, sondern gleich gar keine Bewegung.
Als die Geziproteste in Istanbul, Izmir und anderswo stattfanden, war es auch schon so. Ich lande immer bei den Schwulen, die genau genommen zur weltweiten LGBT-Bewegung gehören. Ich habe diese Bewegung das erste Mal übrigens in der Türkei kennengelernt und nicht hier in Deutschland. Den Türken geht so ein Begriff sehr leicht über die Lippen LäSchäBäTä. Wenn man ein reaktionärer Sack ist und seinen Sohn einen Schwuli schimpfen will, sagt man: Oğlum, LGBT misin? „Junge, bist Du LGBT oder warum willst Du Sozialpädagogik studieren?“. Ich sage nicht, dass ich das gut heiße, ich will nur bemerken, dass man politisch korrekt herabsetzt.
Ich lief jedenfalls ein paar Stunden mit und freute mich, dass so viele Menschen auf der Straße waren. Einige der Initiatoren dieser Demonstration kenne ich persönlich. Noch am Vorabend hatte ich eine Freundin aus dem Planungsteam getroffen, die sich Sorgen darüber machte, ob wohl genügend Menschen teilnehmen werden. Es ist nun einmal so. Eine friedliche Demonstration wirkt und beeindruckt nur durch Masse. Ist eine Demonstrationszug eher mäßig, seine Botschaft aber ungehörig, aggressiv und extremistisch, dann, ja dann reichen ein paar Leute, um Aufsehen zu erregen.
Wenn man selber im Protestmarsch steckt, hat man natürlich keinen Überblick über die Menge, aber man spürt, ob es sich um viele oder nicht so viele handelt. Am Samstag spürte man die Masse physisch. Nicht, weil es gedrängt zugegangen wäre – im Gegenteil, es war zu keinem Zeitpunkt bedrückend, sondern immer unbeschwert und heiter –, sondern weil eine viertel Million Körper eine sehr spezielle Energie übertragen.
Unweigerlich gingen mir die Bilder des sogenannten Chemnitzer Trauermarsches durch den Kopf. Das war die Demo mit den Hitlergrüßen und den nackten Ärschen, die von der sächsischen Regierung anschließend als ein Hilferuf der ostdeutschen Bevölkerung interpretiert wurde. Wie man den Hitlergruß zu einer Forderung nach einer Mietpreisbremse umdeuten kann, werde ich nie verstehen. Es sei denn, man deutet den gesamten Nationalsozialismus um. Wobei, wenn ich es recht bedenke, geschieht das bereits. Wie sagte Björn Höcke mal so schön, Hitler als das absolut Böse zu sehen, sei Denken in Kategorien von schwarz und weiß. Geschichte sei aber nie nur das eine oder andere. Aus Sicht der jüdischen Opfer wüsste man natürlich gerne, was die positiven Aspekte ihrer Vernichtung waren, aber so wie man die AfD in den letzten Jahren kennengelernt hat, werden sie es uns sicher ganz bald erklären.
Am Tag nach der Demo hieß es in den Nachrichten anerkennend, ja fast erstaunt, dass sich eine überwältigende Menge von Menschen friedlich gegen Rassismus und Nationalismus ausgesprochen habe. Übrigens waren nur 900 Beamte im Einsatz, die im Wesentlichen mitsummten, Eis aßen und einfach nichts, wirklich nichts zu tun hatten. Doch schon am Sonntag gegen Nachmittag ging es um die Auszählung der abgegeben Stimmen bei der bayerischen Landtagswahl und bereits am Montag war von #unteilbar nicht mehr die Rede. Ist eigentlich aufgefallen, dass die Demo auf den Seiten der Springerpresse nicht vorkam? Jedenfalls nicht als große Sache und nicht ganz oben und nicht ganz wichtigwichtig. Als Pegida lief, begleitete man jahrelang jede (!!!) Kundgebung und deutete sie als etwas Großes und Gewichtiges. Die Woche fing an und es war, quer durch alle Medien so, als wäre am Samstag nichts geschehen. Als wäre nichts gelaufen. Keine parteipolitischen Vereinnahmungen, keine Talkshows, nichts. Die Sorgen und Nöte der Demokratiefreunde sind, so scheint es, unheilbar.
Da fällt mir ein, als im Oktober 2015, also vor genau zwei Jahren über 150.000 Menschen gegen TTIP und CETA in Berlin auf die Straße gingen, lief es ähnlich. Es beeindruckte medial kaum und politisch gar nicht. Der Welthandel ist nicht gerechter geworden.
Wie ich immer noch total naiv und gottgläubig täglich darauf warte, dass jemand aus der Politik auf die Idee kommt, die Anliegen von einer Viertelmillion Menschen ernst zu nehmen, wird diese Bewegung nicht einmal als Diskursmasse betrachtet. Ist es falsch zu behaupten, dass die Grenzüberschreitungen der Rechtsradikalen mit anschließenden Talkshow-Operetten geadelt werden, die politischen Forderungen der demokratischen Bürger aber nicht zur Diskussion stehen? Schreien in Bautzen, Cottbus oder sonstwo drei Handvoll asoziale Nazis aus der Mitte des Bürgertums auf, werden Parteiprogramme umgeschrieben, Asylgesetze verschärft, nach Afghanistan abgeschoben. Soll man daraus nun einen Trick ableiten? Wäre es sinnvoller gewesen, wenn am Samstag ein paar Linksextreme randaliert oder Polizisten angegriffen hätten? Sollte man als demokratischer Bürger, der für Frieden, Gleichheit und Europa auf die Straße geht, künftig auf jeder Demo in einer Hand eine Hakenkreuzfahne halten und wann immer Seehofers Gesicht erscheint „Absaufen, absaufen“ brüllen? Ist das die Lösung?
Fragt herzlich grüßend
Ihre Theaterkolumnistin Kiyak
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