Werden sie uns mit FlixBus deportieren?

Der Witz ist, dass man sich nie öffentlich traut, darüber zu spekulieren, wie es wohl sein wird, wenn sie uns eines Tages deportieren. Der Witz besteht natürlich nie darin, dass sie es tun würden, wenn sie könnten, sondern darin, dass wir uns nicht trauen, es laut auszusprechen. Und zwar aus, man halte sich bitte fest, Pietät. Ihnen gegenüber. Nicht denen gegenüber, die das schon einmal erlebten, denn die sind ja bekanntlich die letzten, denen diese Möglichkeit nicht wahrscheinlich erscheint. Nein, ihnen gegenüber trauen wir uns das nicht. Wir wollen sie nicht in die Bredouille bringen. Sie fühlen sich dann nämlich immer so schlecht. So in die Ecke gedrängt, unschuldig beschuldigt, benachteiligt, stigmatisiert.

Jetzt schreien sicher ganz viele wieder auf. Ihr, wir, sie, ihnen – wer genau ist damit gemeint? Also bitte! Wem ich das erklären muss, der hat ja nun wirklich Erbseneintopf in der Birne. Alle mit Erbseneintopf in der Birne mögen bitte Tichys Einblick, Broders Auswurf oder wie auch immer diese ganzen »Debattenmagazine« heißen, abonnieren. Bei denen lernt man sehr genau, wer wer ist.

Diesen Sommer saß ich mit Mehmet Yılmaz zusammen. Das ist der einzige Schauspieler bei uns im Gorki-Ensemble, den sie nicht verkleiden müssen, wenn er einen Türken auf der Bühne spielt. Jede zusätzliche Kostümierung würde das ihm von der Natur gegebene übertrieben starke türkische Aussehen in eine unglaubwürdige Richtung lenken.

Wir trafen uns in Kreuzberg im Teehaus, wo ich einen Tee für 70 Pfennig trank, und er – war ja klar! – einen Bio-Amsel-Gangbang-Fanta-Phantasie-Shot für sieben Euro neunzig den Schluck.

Wir saßen da und ich sagte: »Memo, was glaubst du, bringen sie uns mit der Deutschen Bahn ins Lager?« Er sagte: »Deutsche Bahn? Träum weiter! Die wollen, dass wir ankommen. Die deportieren uns mit FlixBus.« Ich dachte, stimmt. Die sind doch nicht blöd. Die laden sich doch nicht ’ne Million von unserer Sorte in Berlin in den ICE und in Spandau kommt dann die erste Durchsage: »Bordbistro mit eingeschränktem Angebot«, in Braunschweig die zweite: »Heute leider nur kalte Speisen«, und ab Wolfsburg gibt es nur noch »Carat Naturelle« von Christinen Brunnen. Unsere Leute würden noch an Ort und Stelle eine Massenschlägerei anzetteln und das Technische Hilfswerk müsste evakuieren.

Ich fragte einen deutschen Kollegen von der Zeitung, er heißt Günther, ob ich mir bei ihm einen Unterschlupf reservieren könne. Er reagierte irritiert: »Unterschlupf? Wofür?« Ich sagte: »Also hör mal, Günther. Bald beginnt hier in Deutschland die Wende, der totale Umsturz, gewissermaßen die ganz große Ladenräumung wegen neuem Sortiment, ist doch klar, dass ich auf Solidarität angewiesen bin.« Ich schwöre, er sagte: »Ääh, sorry, bei uns ist kein Platz.« Ich schrie: »Waas? Hast du mir nicht erzählt, dass ihr euch in eurer Eigentumswohnung im Bötzow-Viertel einen begehbaren Kleiderschrank eingebaut habt? Im zweiten deutschen Krieg wurden zum Teil drei Erwachsene in einem Kleiderschrank versteckt und du willst mir sagen, dass in deinem begehbaren Exemplar kein Platz für mich sein wird?« »Vallah«, sagte er, »das musst du verstehen, das ist ein Durchgangszimmer, da müssen unsere Zwillinge abends zu ihren Schlafräumen durch.« »Schlafräume, Günther?« Er nickte und sagte: »Bedaure, es geht nicht.« Ich war geknickt, enttäuscht, fix und fertig. Doch innerlich dachte ich, intuitiv traf er die richtige Entscheidung. Die Untergetauchten damals waren genügsam und demütig. Niemand beklagte sich. Nachdem der zweite deutsche Krieg vorbei war, gingen sie ganz normal zum Einwohnermeldeamt, meldeten sich um und lebten weiter, als wäre nichts gewesen. Sie klagten nicht, sie machten es den anderen nicht unnötig schwer. Unsere Leute wären anders. Es fängt ja schon damit an: Wenn du drei von uns in einer Wäschetruhe versteckst und nach sechs Jahren die Klappe öffnest, kommen doppelt so viele raus. Wie die Karnickel.

Neuerdings haben unsere Leute ja auch Allergien und Unverträglichkeiten. Früher hast du denen eine Kartoffel gegeben und etwas zum Lesen. Damit kamen sie eine Woche über die Runde. Unsere Leute sind anders: »Kannst du bitte was ohne Gluten organisieren?« Und: »Starte mal den Router neu, wir haben schon wieder kein Internet in der Truhe.« Egal, wo ich bin. Überall erzählen sich die Leute die gleichen Geschichten. Jeder fragt sich: Kommt bald das Ende? Muss es erst einmal so richtig untergehen, damit es wieder normal werden kann? Muss man weg? Wann genau hatten die anderen beschlossen zu gehen? Ist ja nicht so, dass Menschen immer erst dann gehen, wenn die Gefahr konkret von einem Krieg oder einer Vertreibung ausgeht. Die, die gehen, bereiten sich darauf auch vor. Die sind ja nicht blöd. Die sehen, wie es läuft. Selbst die Dümmsten unter ihnen spüren die Witterung. Dafür braucht es keine Regierungserklärungen, Statistiken, Fernsehbilder. Das liegt in der Luft. Die betroffenen Arten spüren den Wetterumschwung immer ein bisschen früher. Sie sind wie Vögel.

»Nee wa?«, rufen einem manchmal die Entsetzten entgegen, wenn man sich ihnen anvertraut, »jetzt vergleicht ihr euch aber nicht mit denen?!«, heißt es dann. »Die waren wirklich betroffen, das waren echte Opfer«, rufen sie einem völlig entgeistert entgegen, »das damals war ganz neu und einzigartig. Das war EINZIGARTIG!!!« Man sagt dann nichts. Man denkt, sicher, alles ist zu seiner Zeit neu und anders.

Heute würden sie wahrscheinlich anders vorgehen. Zeitgemäßer, umweltgerechter. Hinterher werden sie dann sagen: »Vergebt uns. Wir luden Schuld auf uns. Aber wenigstens haben wir die Feinstaubbelastung gering gehalten. Wir haben das Kyoto-Protokoll berücksichtigt. Der CO2-Abdruck eurer Deportation kann sich sehen lassen.« Alles ist eben zu seiner Zeit horrend und nie dagewesen. Mein Gott, ich weiß doch auch nicht, wie es sein wird, wenn es sein wird.

Memo jedenfalls zündete sich eine seiner Bio-Zigaretten an und hielt mir einen Vortrag darüber, dass dieser Tabak, den er kiloweise inhaliert, reinstes, vitaminreichstes Stroh sei, weil ohne Beigabe von »Zusatzstoffen«, wie sie die »Zigarettenmafia« – seine Worte, nicht meine – in ihre Produkte mischen würde. Ich habe einfach nur gesagt: »Liebling, gewöhne dir das Zeug schon mal ab.« Und dann mussten wir lachen. Sehr lachen. Lang und laut. Bis einer von uns beiden sich zusammenriss und dem anderen einbläute: »Noch lachst du, noch!« Und dann mussten wir erst recht lachen. Irgendwie kann man es dann doch nicht glauben. Aber sicher ist man sich auch nicht.

Herzliche Grüße von
Ihrer Theaterkolumnistin

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