Frank Plasberg fahndet nach dem „kleinen Rassisten in uns“ und wird im Moslem fündig. In Chemnitz machen sie den Hitlergruß.

Wer mich kennt, weiß, dass ich einen Talkshow-Spleen habe. Ich muss zwanghaft jede Politsendung in den Öffentlich-Rechtlichen gucken, nur um mir immer wieder selbst zu bestätigen, wie strunzgefährlich sie alle ob ihrer sagenhaft aggressiven Abwesenheit von politischer Bildung sind. Dabei laufen sie unter der Rubrik Informationssendung mit Informationsauftrag: Informationsauftrag bedeutet, dass der Zuschauer etwas lernen soll.

„Steckt in jedem von uns ein kleiner Rassist?“, fragte Frank Plasberg am Montagabend. Ich dachte, Gott behüte, ich bin doch nicht Beate Zschäpe. In der steckten mindestens zwei. Zunächst einmal erwartete ich eine Begriffsklärung. Man will ja doch zu gerne wissen, wodurch sich der kleine Rassist vom großen Rassisten unterscheidet. War Josef Mengele beispielsweise ein kleiner oder doch eher ein mordsmäßig großer Rassist? Wo befindet sich Thilo Sarrazin auf einer Skala von klein bis groß und wo Björn Höcke?

In der Runde saßen weder ein Soziologe noch ein Politologe, obwohl es doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste, dass man so etwas nur diskutieren kann, wenn wenigstens ein Rassismusforscher oder jemand anderer vom Fach dabei ist. Bezogen auf den kleinen Rassisten „in uns“ wünscht man sich außerdem noch einen Anthropologen. Stattdessen ging es darum, wer was meint, fühlt und erlebt. Als sei Rassismus eine Art Liebeserfahrung, die so oder so ausgehen kann. Und also saß die Selbsthilfegruppe bestehend aus dem, dem und dem und einer machte den Anfang. „Ja, also ich denke manchmal auf der Autobahn …“, sagte einer. „Ja, aber ich beispielsweise …“, entgegnete dann jemand anderer. Plasberg näherte sich dem Thema so behutsam wie möglich: „Kann man Rassismus messen?“, fragte er. Ratloses Mäandern in der eigenen Befindlichkeit. Nee, messen kann man’s nicht. Aber wenn es geschieht, fühlt man es. Hmm, ja, ja.

In 75 Minuten fielen nicht ein einziges Mal die Worte AfD, völkisches Weltbild, Kyffhäusertreffen, Identitäre, Ungarn, Rechtsextremismus, NPD, Republikaner, Thilo Sarrazin, Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte, Brandanschläge, Solingen, Rostock, NSU, Heimatschutz, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, NSU, Pogrome, Wilhelm Heitmeyer, nichts von alledem. Kein einziger politischer Sachverhalt, kein einziges Schlagwort aus der Rassismusforschung fiel auch nur ein e i n z i g e s Mal.

Es wurden aber Einschätzungen wie diese geäußert:

Muslime haben ein krankhaftes Verhältnis zur Sexualität.
Muslime haben ein problematisches Verhältnis zu Hunden.
Muslime bevölkern die Rheinterrassen (die Zuschrift einer Zuschauerin wurde eingeblendet, deren Tochter sich da nicht mehr hintraut).
Wenn man Ausländern die Shishas wegnimmt, wird eine Stadt sicherer.
Türken sind deutschenfeindlich.
Die Kölner haben ein traumatisches Erlebnis mit Muslimen hinter sich.
Türken verheiraten ihre Kinder nicht mit Nichttürken.
Özil wäre bei den Nationalsozialisten mitgelaufen.

Das sind nur ein paar Beispiele. Sätze wie diese fielen fortwährend.

Ich schaute auf das Datum, weil ich mir sicher war, dass ich eine unaktuelle Sendung sah. Denn parallel zur Ausstrahlung am Montag liefen Neonazis wie bereits den Tag zuvor durch Chemnitz. Die Presse berichtete vor Ort und live. Kein Wort davon in der Sendung. Kein einziges Wort davon, was in dieser Stadt seit Sonntag passierte. Das deutsche Fernsehen und die deutsche Gegenwart sind zwei völlig voneinander unabhängige Parallelgesellschaften.

Es ist nun einmal so: der Faschismus wurde in allen Ländern dieser Erde, auch und vor allem in Deutschland, nicht durch den pöbelnden Mob eingeläutet, sondern durch die Eliten, die den Rassismus der Bevölkerung legitimieren und ihn im öffentlichen Denken, Sprechen und Handeln institutionell und systematisch verankern. Die Opfer von Rassismus und Faschismus werden in der Öffentlichkeit zu aggressiven und gewaltbereiten Tätern umgedeutet, während zeitgleich die deutschen Arme zum Hitlergruß in Anwesenheit von Polizeibeamten in die Luft gestreckt werden. Bei Plasberg fahndete man eifrig nach dem „kleinen Rassisten in uns“ und wurde im Moslem fündig. Irgendwie auch große Kunst. Ich möchte tot umfallen, wenn ich jemals wieder eine Talksendung gucke. Ich muss dringend in ein Aussteigerprogramm. Gibt es das, weiß wer was?

Lieber Deniz, werde unglücklich und komm’ zurück!

Apropos große Kunst und weil es jetzt ohnehin nicht mehr besser wird, traf mich in den Sommerferien auch noch die schlimmste aller Nachrichten. Nämlich, dass mich der ästhetische Erfinder dieser Theaterkolumne verlassen hat. Deniz Keskin, mein ägäischer Grafiker, der den look dieser Seite verantwortet und die warmherzigsten, anrührendsten und amüsantesten Bilder schuf und die schönsten Typographien aussuchte, geht weg von mir. Ich weiß nicht wohin, wieso, weshalb, er erklärte es mir wortreich, aber ich weinte so sehr, ich konnte nicht zuhören. Bei Hollywoodpaaren, die ihre Scheidung bekanntgeben, heißt es immer, aus Liebenden wurden Freunde. Damit ist gemeint, dass es im Bett nicht mehr läuft. Oder, dass einer eine Affäre hat. Na ja, bei uns lief es ähnlich. Deniz verließ vor einigen Monaten das Theater und fand in der freien Wirtschaft eine neue Tätigkeit. Gekränkt, mit baumelnden Lockenwicklern im Haar und runter gerutschten fleischfarbenen Perlonkniestrümpfen schrie ich ihm im Schnapsrausch entgegen: „Was hat die freie Wirtschaft, was ich nicht habe?“ Ich konnte ihn noch ein paar Monate lang halten, weil ich mich dramatisch auf den Boden warf und mit Suizid drohte. Aber, mein Gott, ich werde auch älter und sagen wir, optisch problematischer, und irgendwann reicht es nicht mehr zu drohen. Man muss es dann auch machen. Jetzt verlässt er die Kolumne endgültig.

Als die Intendanz mich als Hauskolumnistin verpflichtete, gab sie mir den Agäistürken obendrauf. Ich sollte ihn irgendwie integrieren und nicht aus den Augen verlieren. Fünf Jahre und 90 Theaterkolumnen lang war er mein treuer Begleiter, brachte mir die Grundlagen der Typographie für digitales Publizieren bei, bewies, dass es sehr wohl einen Unterscheid macht, ob man auf Papier oder auf dem Bildschirm liest. Dass es wichtig ist, den Abstand zwischen den Buchstaben so und nicht anders einzuhalten und dass man es mit Weißraum auch übertreiben kann. Das Theater ließ uns beide machen und er machte es toll. Er ist genau die richtige Mischung aus Künstler und Handwerker, so etwas gibt es nicht oft. Dass einer technisch spitze und obendrein kreativ ist. Außerdem ist er politisch sehr sensibel, weshalb uns in unserer Kolumne nie das passierte, was bei Magazinen häufig geschieht. Der Text behauptet etwas, das Titelbild aber das Gegenteil. Wir haben das Bebildern der Kolumnen immer als eine Art Erweiterung des Anliegens verstanden. Das Bild nahm auf geistreiche Weise ein Detail des Textes auf und bereitete damit gewissermaßen die Temperatur der Rezeption vor. Ich könnte darüber Vorträge halten, weil wir jahrelang darüber grübelten, wie man es wohl am besten macht. Weil Bild und Text immer gleichwertig sind. Für uns jedenfalls war das so.

Wohin Du auch gehst, lieber Deniz, werde unglücklich und komm zurück!

Quatsch!! Mögen Deine Wege mit Garamond, Geneva und Gil Sans gepflastert sein, mit Glück und Gold. Mögen Deine Templates luxuriöser ausgestattet sein als unsere kleine Baracke hier. Unsere Intendantin hat sich bis zum Schluss geweigert, uns etwas Besseres zu spendieren. Wir jammerten: „Müdürüm, Deutsches Theater, Volksbühne, BE, alle benutzen bessere Templates, sogar Sabah, ja sogar Junge Freiheit“. Antwort: „Ihr seid Ausländer, seid dankbar.“

Mit tränenerstickter Stimme rufe ich, aus Fremden wurden Freunde, aus Bohemiens wurden Lohnsteuerklasse 1 und 4, aus einem Westtürken und einer Kolumnistin wurde Kiyaks Theater Kolumne. Danke Deniz für alles!

#sevgiler
#veda
#hasret
#bijiduweißtschonwas
Mely

PS: Das Foto heute zeigt eine kleine Auswahl seiner allerbesten Grafiken. In den folgenden Wochen werde ich mal diesen und jenen Grafiker ausprobieren. Bin ja jetzt Single und werde mich bei Grafik-Tinder anmelden.

 

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