Es war Anfang der 1990er Jahre. Wir gingen mit der Schulklasse ins Kino und schauten „Schindlers Liste“. Klassenweise ging das ganze Gymnasium in den Film. Anschließend redeten wir im Unterricht darüber. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, aber wir erzählten unseren Eltern zu Hause davon und eines Nachmittags ging also Familie Kiyak geschlossen ins Kino.
Wir saßen in dem Film, meine Eltern waren geschockt. Zwar hatten wir die Handlung zu Hause Minute für Minute nacherzählt, aber trotzdem, die Eltern waren komplett am Ende. In der Schlussszene – der Regisseur Steven Spielberg hatte einige der Juden, die der Emaillefabrikant Oskar Schindler retten konnte, ausfindig gemacht – liefen diejenigen, die ihm ihr Leben verdankten, einen Hügel hinauf zu seinem Grab in Jerusalem und legten einen Stein ab.
Als wir draußen auf der Straße standen, weinten meine Eltern hemmungslos. Mein Vater umarmte uns Kinder. In dieser Umarmung steckte die für Eltern typische Dankbarkeit, weil ihre Kinder leben, im Gegensatz zum bitteren Schicksal anderer Eltern und Kinder. Sagenhafte Traurigkeit hatte sie erfasst. Sie redeten von nichts anderem mehr.
Wir Kinder waren peinlich berührt von unseren Angehörigen und hatten furchtbare Angst, dass wir von Gleichaltrigen als weinende Familie auf dem Bürgersteig erkannt werden.
Heute denke ich anders darüber. Meine Eltern haben getrauert. Weil ihnen leid tat, wovon sie erfuhren. Sie weinten, weil die, die getötet wurden, Menschen waren. Und weil sie selber Menschen waren. Da gibt es keinerlei tieferen Erkenntnisgehalt. Sie weinten als Vater und Mutter, sie weinten als Tochter und Sohn, als Eheleute und Liebende, weil sie alles das genauso waren wie die anderen es auch waren.
Anschließend gingen wir ins Eiscafé. Mein Vater stolperte sich durch eine seiner berühmten Bestellungen: Ein Erpresso, ein Kapputschitscho und zwei Kugeln Straßenteller, bittaschön. Giovanni, der Eisdielenbesitzer verstand meinen Vater und brachte die Kaffees und das Stracciatella-Eis.
Diese Woche las ich in der taz ein Interview mit dem Publizisten und Juristen Michel Friedman, das der Kollege Ulrich Gutmair mit ihm geführt hatte. Darin fragt Friedman etwas, das auch mich interessiert. Es geht um die Anfänge:
Bei der Pogromnacht in Berlin, Frankfurt oder München. In Städten und Dörfern brannten Religionshäuser, und niemand reagierte. Es war eine millionenhafte Verstrickung, als die Juden abgeholt wurden und durch die Finanzämter Zwangsvollstreckungen ihres Mobiliars stattfanden. Was bedeutet das denn, wenn mein Nachbar für wenig Geld meine Teppiche, mein Besteck, meine Möbel kauft? Glaubt dieser Nachbar, ich komme je wieder?
Das ist genau der Punkt, der mich beispielsweise auch am Genozid an den Armeniern verstört. Was dachten die Nachbarn, die ihre Äcker vergrößern konnten, ihr Hab und Gut vermehren und ihr altes Werkzeug gegen besseres austauschen konnten? Wie kann man bereichert aus der Vertreibung seiner Nachbarn herausgehen und hinterher felsenfest behaupten, dass man nicht im Geringsten bemerkte, dass etwas nicht mit rechten Dingen vor sich ging? Wenn doch eine bestehende Ordnung derart aus den Angeln gehoben wird. Nehmen das wirklich nur diejenigen wahr, die deportiert werden?
Ich will mir darüber kein Urteil erlauben. Weil es doch jedes Mal so ist, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen unter Zeugenschaft verschwinden. Also muss es da einen Mechanismus geben, der einen hindert zu protestieren. Nur welchen?
Es ist schon Jahrzehnte her, ich schrieb darüber in meinem Buch „Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“, da fragte mein Vater unseren Vermieter: Erhard, sag mal, hast du im Krieg Juden getötet? Der Vermieter sagte: Ich gebe dir mein Wort, dass ich keinen Juden getötet habe. Mein Vater sagte: Erhard, ich glaube dir, aber irgendwie will es nie jemand gewesen sein.
Diese Stelle fiel mir ein, als ich im Friedman-Interview folgendes las:
Ich wurde über Jahrzehnte von Schuldirektoren angerufen, die sagten: „Wir wollen mit den Kindern reden, aber wir brauchen Zeitzeugen, es gibt so wenige Überlebende.“ Ich habe dann gesagt: „Sie irren sich, es gibt Millionen Überlebende. Fragen Sie Ihren Vater oder Ihren Großvater.“
Als ich einmal mit Michel Friedman zusammen Zug fuhr und mein Vater uns am Bahnhof abholte, da begegneten sich die beiden zum ersten Mal. Sie umarmten sich sehr freundlich, Michel Friedman herzte den Vater, der etwas schüchtern war. Dabei kannten sie sich eigentlich, ohne sich zu kennen. Immerhin hatte Familie Kiyak schon um Familie Friedman getrauert.
Michel Friedmans Eltern wie auch seine Großmutter sind, das wissen vielleicht die wenigsten, sogenannte Schindler-Juden. Der Rest der Familie kam in Auschwitz um.
Ich will auf dieser Heulerei meiner Eltern nicht groß herumreiten, zumal in meiner Familie das Weinen als besondere Kulturleistung betrachtet wird, die man bei allerhand Gelegenheiten hegt und pflegt. Leider. Aber mir ist diese Woche beim Beobachten der Gedenkfeiern zum Holocaust erstmals aufgefallen, dass ich noch nie in meinem Leben, weder im privaten noch im öffentlichen Rahmen, jemals einen deutschen Nichtjuden um einen Juden weinen sah.
Stattdessen sehe ich allerkorrektestes Gedenken. Vielleicht, so ein Gedanke, ist das ein wichtiges Detail. Wenn man in diesem Land einmal geweint hätte, so richtig, von Herzen, vielleicht wäre es heute ein anderes Deutschland. Das gilt für jedes Volk, das eine solche Katastrophe selbstverschuldet und ohne jede Not mitbetrieben hat. Nach 1945 und dem nationalsozialistischen Völkermord gab es allerhand Auswirkungen: Die Nürnberger Prozesse, die Schlussstrich-Debatten, die RAF und die 68er, den Streit um das Holocaust-Mahnmal. Aber das allereinfachste, die simpelste aller menschlichen Reaktionen, das Weinen, Trauern und Vermissen der Toten, das gab es nicht. Ich jedenfalls habe es noch nicht gesehen.
„Ich bin auf einem Friedhof geboren“, sagte Michel Friedman in dem Interview, was eine niederschmetternde Erkenntnis ist. Dieses Bild, des auf dem Friedhof geborenen Menschen, brennt in mir und je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, dass ich akzeptieren muss, dass es Mitbürger gibt, in denen so ein Satz nicht einmal lodert. Und ja, es tut mir leid, darin steckt keinerlei Trost.
Ihre Mely Kiyak
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