Mely Kiyak fühlt sich nicht

Kiyaks Theaterkolumne – Mely Kiyak fühlt sich nicht

Dies ist eine Ersatzkolumne. Die von mir und Ihnen geschätzte Gorki-Theater-Kolumnistin Mely Kiyak ist leider verhindert bzw. derzeit nicht in der Lage, diese Kolumne zu verfassen – und so muss ich ran.

Zunächst einmal zur Frage, warum Frau Kiyak nicht selbst schreibt: Selbstverständlich könnte ich einfach den wahren Grund nennen, aber damit würde ich die ganze Angelegenheit banalisieren. Zumal im Berliner Kolumnistenmilieu so wunderbare Spekulationen über ihren Zustand kursieren: Burnout, akute Psychose, Selbstentzündung, Drogen, Suff, eine Zwillingsschwangerschaft nach einer Behandlung mit ukrainischen Billighormonen, beim Ponyreiten im Zoo vom Haflinger gefallen, eine hartnäckige, über Jahrzehnte den Geist degenerierende Geschlechtskrankheit, die jetzt in die finale Phase eingetreten ist, eine Entführung durch ausländische Geheimdienste, Zwangsheirat, eine geschlechtsangleichende, aber im ersten Anlauf misslungene OP…

Meinen Lieblings-Kolumnen-Nichterscheinungsgrund druckte übrigens die englische Wochenzeitung »The Spectator« am Ende des vergangenen Jahrhunderts jedes Mal, wenn ihr Kolumnist Jeffrey Bernard keinen Text lieferte: »Jeffrey Bernard is unwell«. Kurz, schlicht, informativ. Und alle wussten dann, dass Mr Bernard mal wieder hackedicht in der Ecke lag, weil er zu intensiv für seine Kneipen- und Exzess-Kolumne »Low Life« recherchiert hatte. Diese fehlende Balance zwischen Recherche und Textproduktion war das Lebensdilemma Jeffrey Bernards.

Soweit ich weiß, trinkt Frau Kiyak selten größere Mengen Alkohol. Dennoch sollten wir es hier bei einem »Mely Kiyak fühlt sich nicht« belassen. Das ist schön vage und lässt der Phantasie genügend Raum. Außerdem komme ich dann nicht in die Verlegenheit, davon zu berichten, wie ich sie neulich besuchte, um von ihr die Anweisungen für dieses Kolumnen-Substitut entgegenzunehmen. Sie lag im seidenen Kimono auf ihrer Manufactum-Récamière, blinzelte in die durchs offene Fenster scheinende Sonne und ließ sich von jungen blondierten, androgynen Domestiken in Matrosenanzügen – die sie, wie sie sagte, aus der Frühlingsfrische in Meckpomm mitgebracht hatte – die Fußnägel lackieren. Wirklich krank wirkte sie dabei nicht, aber wer bin ich schon? Hab ich Medizin studiert? Also: Frau Kiyak fühlt sich nicht, basta!

Nun hätte sie tatsächlich jeden anderen Kolumnisten fragen können, für sie einzuspringen, aber aus naheliegenden Gründen fiel ihre Wahl auf mich. Schließlich schreibe ich seit einiger Zeit für das Staatschauspiel Hannover auch eine Theaterkolumne, was aber nicht einfach nur Nachmacherei ist, sondern ein klassisches kapitalistisches Franchise-Unternehmen. So wie Starbucks oder McDonalds: Ich betreibe die Kolumne auf eigene Verantwortung und eigenes Risiko. Das heißt, alle Verluste, die durch juristische Klagen beleidigter Kolumnen-Opfer  – Politiker oder Unterhaltungskünstler, die sich falsch dargestellt fühlen –  entstehen, habe ich selbst zu tragen. Von meinen Gewinnen muss ich jedoch einen nicht unbeträchtlichen Prozentsatz an die Lizenzgeberin, die Firma »Kiyak Inc. « abführen. Außerdem ist es Bestandteil des Franchise-Vertrages, dass ich bei krankheitsbedingter Verhinderung Frau Kiyaks an ihrer beziehungsweise an dieser Stelle einspringen muss. So, here I am.

Apropos gerne mal beleidigte Politiker: Vor einigen Tagen postete der grüne Tübinger Bürgermeister Boris Palmer auf Facebook ein Foto von einigen dunkelhaarigen, jungen Männern, die auf einem Bahnsteig sitzen. Und die – das unterstelle ich mal – nicht gefragt wurden, ob sie zu diesem Zwecke fotografiert werden wollten. Dazu folgender Text: »Sigmaringen. Bahnhof. Fünf junge Männer. Offensiver Auftritt. Kontrolle im Zug: Keiner hat einen Fahrschein. Zugfahrten haben sich verändert in den letzten Jahren. Ist es rassistisch, das zu beschreiben? Ist es fremdenfeindlich, sich dabei unwohl zu fühlen?«

Nun ist nichts dagegen zu sagen, dass Herr Palmer sich unwohl fühlt. Dass darf er. Genauso wie Herr de Maizière sich wünschen darf, in einem Land zu leben, in dem »aufgeklärte Patrioten« sich bei jeder Gelegenheit die Hand geben, dabei keine Burka tragen und die NATO dufte finden. Bloß was geht mich das alles an? Warum müssen mich Politiker mit ihren privaten Vorlieben, Neigungen, Ängsten und Wahnvorstellungen belästigen? »Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland«  – auch das eine Aussage des Innenministers. Das kann man denken. Klar, warum nicht. Ist zwar Quatsch, aber egal. Deutschland ist nämlich genauso von Kultur und Philosophie geprägt wie von Flachsinn, Gewalt und Borniertheit – wie die meisten anderen Nationen auch. Sicher, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Goethe, Büchner, Schopenhauer, Hitler, Helene Fischer und Heidi Klum –  das ist Deutschland. Molière, Voltaire, Napoleon, Le Pen, Louis de Funès, Plastic Bertrand – das ist Frankreich. Aber selbst wenn man das in diesem Sinne richtig stellt: Haben solche Aussagen irgendeine Bedeutung? Im November regnet es öfter mal.

Doch zurück zu Palmer. Bei den südländisch aussehenden jungen Männern in der Deutschen Bahn fällt dem grünen »Querdenker« (Reutlinger Generalanzeiger) also Folgendes auf: »offensives Auftreten«, »keine Fahrkarte« und ein raunendes »Zugfahrten haben sich verändert in den letzten Jahren«. Und sein eigenes Unbehagen an dieser Situation. Wenn man junge südländisch aussehende Männer – unabhängig davon, welche Nationalität sie haben – fragt, was ihnen zum Thema Bahnfahren einfällt, dann hört man vor allem Geschichten von grundlosen, schikanösen Kontrollen durch die Bundespolizei. Der Fachbegriff lautet »racial profiling«. Aber so etwas kennt Palmer nicht. Selbst wenn er es kennte, es interessierte ihn nicht.

Wenn man als Politiker vor allem damit beschäftigt ist, die rassistischen Vorurteile seiner Wähler zu verstehen, statt ihnen zu widersprechen, hat man schlicht keine Zeit für die Lebensrealität von Leuten, die entweder gar nicht wählen dürfen – oder aus guten Gründen einen wie Palmer nicht wählen wollen. Sich mit diesen Menschen zu befassen, wäre vergebene Liebesmüh. Somit ist aus der Sicht des Tübinger »Grünen-Rebells« (Pfälzischer Merkur, Hersfelder Zeitung, Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, Rotenburger Rundschau, Chiemgau24, Saarbrücker Zeitung etc.pp.) die beabsichtigte oder versehentlich-ignorante Reproduktion von rassistischen Stereotypen mit Hilfe solcher Postings durch und durch schlüssig. Gut, wenn sich die Dinge am Ende doch zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Das beruhigt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Schwarzfahren, Grün-Wählen oder Blau-Saufen. Je nachdem, was Ihnen so gefällt. Und immer dran denken: Sie sind Deutschland. So oder so.

Und freuen Sie sich beim nächsten Mal wieder auf die Theaterkolumnistin Ihres Vertrauens, Mely Kiyak.

i.A. Hartmut El Kurdi

PS: Der verstörendste Kommentar zu de Maizières Thesen stammt übrigens von F.J. Wagner. In seiner atemberaubend wirren, fast dadaistischen und bewusstseinserweiternden, um nicht zu sagen: psychedelischen BILD-Kolumne »Post von Wagner« bezeichnet er die Forderung des Innenministers nach einer Leitkultur als altmodisch. Seine Kritik gipfelt in dem Satz: »Unsere deutsche Leitkultur muss eine Helf-Kultur werden.« Helf-Kultur! Man staunt, was doch so alles möglich ist mit der deutschen Sprache…

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