Krasse Krise

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Ich mag schon gar nicht mehr Zeitung lesen. Ich kann das Heulsusenlamento der Krise nicht mehr hören. Welche Krise denn? Wessen Krise? Wer durchlebt denn eigentlich gerade eine Krise? Wir, die wir warm eingemummelt in unseren Wohnungen leben? Oder Menschen, die mit nackter Haut tage-, wochen-, monate-, jahrelang unterwegs sind? Neulich traf ich auf jemanden, der neun Jahre lang unterwegs war. Von Afrika nach Europa. Neun Jahre lang!
D a s ist eine krasse Krise.

Meine Güte. Wir Deutschen kaufen uns im Internet ein Flugticket nach irgendwo und fahren, segeln oder fliegen wohin wir wollen. Umgekehrt finden wir es merkwürdig, wenn Andere unsere Grenzen überqueren. Ja klar besteht ein Unterschied zwischen einem Touristen und einem Flüchtling. Wir fliegen wieder zurück und die Flüchtlinge müssen erst einmal bleiben. Aber trotzdem. 80 Millionen Deutsche geben für Urlaub soviel Geld aus wie die Chinesen. In China leben 1,3 Milliarden Menschen. Deutsche lieben es zu reisen. Selten reisen sie dorthin wo Mindestlohn gezahlt wird. Wo Demokraten herrschen. Oft sind sie in Entwicklungsländern unterwegs. Schauen sich das Elend an. Kommen zurück und pfeifen gegen Ausländer. Auch merkwürdig, oder?

Also, ich durchlebe gerade keine Krise. Jedenfalls keine persönliche. Aber ich werde Zeugin davon, wie uns manch mächtige Medien und Politiker einreden wollen, dass wir eine Krise hätten. Himmel nochmal, woraus besteht denn die Krise? Dass wir nicht genügend Wolldecken auftreiben konnten? Nicht genügend Nahrung? Ehrlich, da kriegt man sich vor Lachen doch nicht mehr ein. Das prächtige Abendland hat Probleme Heizstrahler zu besorgen, um leerstehende Gebäude zu heizen und Menschen unterzubringen?

Die Jammerei begann schon, als einige Kommunen im letzten Jahr mal 16, mal 30 Flüchtlinge zugewiesen bekamen. Bei Millionen Menschen könnte man es ja noch verstehen. Aber bei unter einer Million Flüchtlingen befinden wir uns schon in der Krise, weil unser Beamtenstaat kein System findet, um bei Flüchtlingen die Identität festzustellen und irgendwo einzutragen? Und deshalb müssen Menschen an Grenzen und in anderen Warteschlangen frieren?

Die deutsche Bürokratie funktionierte in den Wirren des 2. Weltkrieges tadellos. Sie funktionierte in den Deportationslagern. Sie funktionierte als Millionen Vertriebene kamen. Sie funktionierte als Millionen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Sie funktionierte als 20 Millionen DDR Bürger in die Westbürokratie integriert werden musste. Und jetzt klappt das nicht wegen ein paar Hunderttausend Menschen, die nach Deutschland kommen? Wegen Computerproblemen und so? Wegen zu weniger Mitarbeiter in Registrierungsstellen?

Durchschnittlich passieren pro Jahr 100 Millionen Deutsche 46 Ikeastandorte in Deutschland. Wäre Ikea eine Transitzone würde man sagen, dass diese Transitzone monatlich von 8,3 Millionen Menschen passiert wird. Sie zahlen fast alle mit EC Karte. Was auch eine Art Registrierung ist. Will sagen, wenn es um Kapitalismus geht, dann funktioniert das System tadellos. Da arbeiten Top-Ingenieure an Top-Systemen. Geht es um Humanität, arbeiten eine Handvoll Menschen an ollen Gurken und verpassen Armbändchen und laufen mit handgeschrieben Karteikärtchen über lange Linoleumflure. Klingt lächerlich. Ist aber so.

Die Politik strengt sich gerade irre an, genau diese Bilder von Überforderung und Überlastung entstehen zu lassen. Durch lange Warteschlangen an Registrierungsstellen und Grenzübergängen. Jedes Bild eines Kindes an der deutsch-österreichischen Grenze, das nachts von seinen Eltern in einen Pappkarton gesteckt wird, um einigermaßen vor Kälte isoliert zu sein, ist Teil einer politisch motivierten Kommunikations-Strategie. Sie soll sagen: „Kein Platz. Kein Geld.“ Tatsächlich sagt sie aber was anderes. Nämlich: Kein Bock, die Verhältnisse zu ändern!

Eine Politik, der die Verhältnisse peinlich sind, würde alles tun, um diese Bilder nicht entstehen zu lassen. Eine Politik, die sich für all das schämt, würde nichts unversucht lassen, damit der Eindruck entsteht, dass Elend und Not nicht gewollt sind. Wären die bayerischen Landräte nicht einverstanden damit, dass an der bayerischen Außengrenze Menschen ohne Nahrung zu erfrieren drohen, würden sie aus Protest in einem Pappkarton an der Grenze kampieren. Oder noch schriller, sie würden die Grenze öffnen! Wäre die Kanzlerin wirklich nicht einverstanden damit gewesen, dass unser Innenminister eine Unverschämtheit nach der nächsten über die Flüchtlinge von sich gibt, hätte sie ihn nicht bloß kastriert, sondern rausgeworfen. Konjunktive in Zeiten der Krise, haha.

Jedenfalls kann ich die Zeitungen nicht mehr lesen. Denn wenn ich die armseligen Scheinanalysen meiner Kollegen lese, in denen sie den ganzen Schwachsinn von der Überforderung nachplappern, dann kann ich nur sagen: Leute gebt eure Presseausweise ab! Wir haben Pressefreiheit und ihr labert den PR Scheißdreck der politischen Kommunikationsagenturen nach? Wenn wir in Russland wären, der Türkei oder China, würde ich das verstehen, aber wir sind in Deutschland. Und hier ist es noch erlaubt, seinen Verstand einzuschalten und nachzudenken. Stell dir vor, es ist Pressefreiheit und die Journalisten machen nicht mit.

Wenn Menschen 2000 Kilometer zu Fuß nach Deutschland fliehen, wenn dieses infernalische Bild des Elends ausgerechnet an den deutschen Registrierungsstellen weitergeführt wird, dann befiehlt dieser Stempelstaat: „Da ist dein Platz. Aus der Reihe treten ist verboten. Und Taxi fahren gefälligst auch nicht.“ Dann soll der Flüchtling aufsagen: „Ich respektiere Deutschland, seine Werte und seine Ordnung und sein überhaupt alles. Ich tue das mit der ganzen Kraft meiner Pappe, auf der ich liege. Mit der gleichen Liebe, mit der ich auf das klamme nächtliche Nebelmeer eines Caspar David Friedrichs warte. Ich werde diesem Land dienen, so Gott will, und ich eine Registrierung erhalten habe. So lange werde ich frierend und bangend Deutsch lernen und mir eine gehörige Portion Humanismus und Aufklärung von euch reinziehen“.

Da fällt mir ein, der beste Weg, um die Zahl der Flüchtlinge in Europa zu begrenzen, ist ihre Flucht für beendet zu erklären, sobald sie europäischen Boden betreten haben. Sie sind fortan keine Flüchtlinge mehr, sondern freie Menschen. Klingt komisch? Ist aber so.

Mely Kiyak
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