Literaturkritik im Fernsehen: „Herr vergib’, wir haben gesündigt, Allahu-Akbar-Abra-Kadabra“

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Seit letzter Woche gibt es wieder das Literarische Quartett im Fernsehen. Ich gebe zu, ich war glücklich. Ich besitze keinen Fernseher, aber wenn etwas Besonderes im Fernsehen kommt, dann schalte ich das Internet ein und suche den Livestream des Senders. Dann hoffe ich, dass Regierung, NSA oder mein Anbieter das Internet nicht stören.

Das Außergewöhnliche am Literarischen Quartett ist, dass es sich um eine Sendung handelt, die ausschließlich darin besteht, dass Leute über Texte sprechen. Man lernt auf wie viel vielfältige Weise eine Geschichte erzählt werden kann. Über Texte zu sprechen, setzt voraus, einen Text nicht nur in Bezug auf seinen Inhalt, sondern auch auf seine Form hin lesen zu können. Man muss die Machart mitlesen. Erzählperspektive, Tempus, Struktur der Dialoge und so weiter. Man kann, sofern man ein Lesetalent besitzt, das Zuviel oder Zuwenig erkennen. Die Sprache eines Autors ist ein Ozean. Wer wirklich fähig ist, zu lesen, der sieht auch noch das Gewimmel unter der Wasseroberfläche und die Welt auf dem Meeresgrund. Der größte Teil der Leserschaft liest immer nur die Schiffe und die Badenden auf der Wasseroberfläche. Das ist der Unterschied zwischen Lesen und Lesen. Über all das auch zu sprechen, ist eine Disziplin, die – wenn man sie beherrscht – eine große Kunst ist.

Es gibt in unserer Dichter-und-Denker-Nation nicht mehr viel Literatur in den Massenmedien. Der Literaturteil der Zeitung ist nahezu komplett abgeschafft. Literatur findet allenfalls in Form einer Buchbesprechung im Feuilleton statt. Im Fernsehen versteckt sich hier und da eine Literatursendung. Die Schweizer machen ein Format (Literaturclub), das ganz okay ist. Im Südwestrundfunk gibt es eine Sendung (Lesenswert), die etwas gaga ist. Da müssen Schriftsteller an einer Wäscheleine entlang spazieren, auf der Karten wie nasse Kleidungsstücke hängen, wo Fragen an sie gerichtet werden. Die Moderatorin läuft dann mit dem Autor die Leine entlang und hilft, die Fragen zu lesen. Es ist ein Zeichen dafür, dass man dem guten alten Gespräch nicht mehr vertraut. Immer muss noch ein Kindergartenelement hinzukommen, als würden Leser nicht die Geduld besitzen, eine halbe Stunde lang zuzuhören, ohne dass um das gesprochene Wort auch noch herumgetanzt werden muss. Im Ersten Programm gibt es ein Buchformat, das ebenfalls nicht übel ist, wenn der Moderator der Sendung einfach nur erzählen würde. Immer wenn es anfängt, zu viel Wort zu werden, wird wild herum geschnitten, Musik reingequetscht und der Kameramann hat den Ehrgeiz, die Bäume im Hintergrund so zu filmen, dass ihre Schatten aussehen, als würden wild gewordene Kröten miteinander balgen.

Das geht mir auf den Theaterbühnen auch schwer auf den Geist. Dass das bloße Wort immer mit zusätzlicher Bewegung garniert wird. Und diese fiepselige Musik dazu! Oder krawuchtiger Sadomasolederstiefelstampf. Grundsätzlich kann man sagen, sobald auf der Bühne zusätzlich Technik durch Licht oder Sound hinzukommt, sollte man sich intensiv mit dem Text auseinandersetzen. Soll der Krach einen Effekt des Textes verstärken oder seine Schwäche überdecken? Die richtige Dosierung eines jeden Stilmittels ist stilbildend. Manche beherrschen es auch seit Jahren nicht. Ich sage nur Castorf. Oh Mann, was hat der Typ mir den Schädel weggefickt! Was hat der Wuttke herumgeschrien! Warum? Vielleicht, weil die Texte miserabel sind. Ich zähle die Stunden, bis diese Art des Lautstärketheaters endlich begraben wird. Na klar, gelten einige dieser Dezibelfragen davon auch für unseren kleinen Familienbetrieb im Gorki. Ich habe bei uns schon Stücke gesehen, wo ich mich gen Osten gebeugt habe und leise ins Parkett flüsterte, „Wir haben gesündigt, du hast recht, aber jetzt unterbreche den Strom bitte, Allahu-Akbar-Abra-Kadabra!“

Da fällt mir ein, dass Kritikersendungen nie zu Theateraufführungen veranstaltet werden. Das könnte sicher auch unterhaltsam werden. Wie könnte man es nennen? Das Dramatische Quartett? Leuten zuzuhören, die etwas über das Textemachen erzählen, bringt übrigens das eigene Formulieren voran. Das täte den Leuten, die den ganzen Tag das Internet vollschreiben auch mal gut. Die meisten Forenschreiber sind ja doch lausige Stilisten.

Das Literarische Quartett, das Philosophische Quartett mit Safranski und Ich-brauche-für-jede-Frage-10-Minuten-Sloterdijk, das Nachtstudio mit Volker Panzer und dem ersten falschen Kamin im deutschen Fernsehen, der Bilderstreit mit Bazon Brock, eine Ausstellungsrezensionssendung – das waren Formate, die vom bloßen Sprechen lebten. Niemand goss Effekte über das Reden. Es funktionierte, weil die Leute klug und gebildet waren. Weil sie, wenn sie über ein Thema referierten, über ein Repertoire an Kultur- sowie Seh- und Leseerfahrung verfügten.

Das neu aufgelegte Literarische Quartett letzte Woche jedenfalls hat Spaß gemacht. Es wird sicher noch besser. Ist ja immer so. Manches braucht Zeit und Wiederholung. Was mir auffiel, ist, dass in der Berichterstattung über das alte Quartett immer von Hellmuth Karasek und Reich-Ranicki, den beiden Literaturkritikerdinosauriern der ersten Stunde die Rede war und wie bedauerlich es sei, dass sie nicht mehr leben. Der dritte Literaturkritiker, nämlich Sigrid Löffler, wird stets ausgespart. Dabei lebt sie noch als einzige Zeitzeugin und Mittäterin gewissermaßen. Wenn sie in dem neuen Quartett als Dauergast mitsitzen würde, das wäre ein Knaller! Sie wäre die einzige Person, die Volker Weidermann und Maxim Biller grillen und filetieren könnte. Denn sie ist schlau, belesen und gebildet. Aus diesem Grund hat Reich-Ranicki sie so gehasst und gemobbt und dafür gesorgt, dass sie am Ende gegangen ist. Ach, das waren Zeiten. Als man sich 75 Minuten lang amüsieren konnte, einfach nur weil über Bücher geredet wurde. Amüsement ist doch ein Menschenrecht. Unvergessen wie Reich-Ranicki immer mit gen Himmel erhobenen Armen theatralisch einklagte: „Ich will mich nicht langweilen!“.

Jawoll, der Mensch will sich nicht langweilen. Verflixtnochma das willernich.

Mely Kiyak

 

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