Besorgt sein oder Sorgen haben

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Seit sechs Wochen wird am Gorki ein Festival veranstaltet, das dem Erinnern gewidmet ist. Denn Erinnern ist Widerstand ist Aufstand ist Menschenpflicht. Insofern ist jedes politische Festival, das an einem Stadttheater aufgeführt wird und sich mit den großen menschlichen Niederlagen wie Krieg und Vertreibung befasst, ein an sich unerfreuliches und trauriges Vorhaben. Denn wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, kommt unweigerlich irgendwann in der Gegenwart an.

In den vergangenen vier Wochen konnte man erleben, wie Deutschland einerseits dem Massenertrinken der Flüchtlinge im Mittelmeer zuschaut. Und andererseits nicht müde wird, Deutsche in Nachrichtenmagazinen zu zeigen, die sich völlig freimütig und ohne jede Scham über die Aufnahme von Flüchtlingen in ihrer Stadt oder Nachbarschaft empören. Dabei kehrte das immer gleiche haarsträubende Argument wieder.

O-Ton empörter Anwohner: „Wir wurden völlig überrannt von der Tatsache, dass demnächst ein Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft eingerichtet wird“.

Seit wann, fragt man sich, ist es in Deutschland ein Menschenrecht geworden, darüber informiert zu werden, wer in die Nachbarschaft einzieht? Ich wurde in meinem ganzen Leben nicht darüber informiert, wer nebenan in meinem Mietshaus einzieht und eigentlich möchte ich es auch nicht wissen. Wieso muss die Bevölkerung darüber informiert werden, wenn zwei Straßen weiter eine Handvoll Flüchtlinge Unterschlupf findet? Handelt es sich um Ungeziefer? Wieso muss informiert werden? Damit man Zeit genug bekommt, seine hasserfüllten Mitmenschen zu mobilisieren? Man sollte zum Schutz von Leib und Leben der Geflohenen niemals herumerzählen, wenn man in einer vermoderten Turnhalle zehn Flüchtlingsfamilien übereinander stapelt. Finde ich. Das tut unserer Bevölkerung einfach nicht gut.

Wurden die Nachbarschaften eigentlich darüber informiert, als Millionen Spätaussiedler nach 1990 in die Bundesrepublik einwandern konnten? Nein. Sie kamen, wurden untergebracht, bekamen Deutschkurse, deutsche Pässe und fertig aus. Denn sie hatten einen Rechtsanspruch. Flüchtlinge haben auch einen Rechtsanspruch in Deutschland. Nämlich darauf, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Und dafür müssen sie irgendwo untergebracht werden. Es ist ihr Recht. Warum muss das kommuniziert werden? Man ist doch das saudumme Genöle der besorgten Idioten echt leid. Wenn es irgendjemandem nicht passt, dass armselige 20, 30 oder 60 Geflohene und Gestrandete irgendwo einziehen, dann sollen doch die Alteingesessenen weg. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin aus dem Prenzlauer Berg weggezogen, weil ich besorgt zusah, wie ein bestimmtes Milieu sich dort breit machte. Habe ich einen Aufstand gemacht? Habe ich Bürgerinitiativen gegen die Glutenintoleranzfraktion gestartet? Nein. Ich habe die Klappe gehalten und bin weggezogen. Denn Klappe halten und wegziehen ist ein Menschenrecht.

Ich habe eine Vision: Dass alle Stadttheater Deutschlands eine Woche lang ihre Bühnen öffnen und sämtliche Flüchtlinge, die sich in der Stadt aufhalten, dort erzählen dürfen, was sie sorgt, was ihnen auf die Ketten geht und was sie uns Deutschen schon immer mal sagen wollten. Ich denke, es wäre ganz heilsam für die Öffentlichkeit, die sich auf die paar armen Hanswürste, die wir aufnehmen, kolossal etwas einbildet. Und es wäre reinigend für die Öffentlichkeitshygiene, wenn endlich einmal die richtigen Menschen ihre Sorgen mitteilen dürfen. Ihre Sorge um Sicherheit, weil nachts ihre Heime beschmiert oder angezündet werden. Ihre Sorge um ihre Kinder, die sie draußen nicht spielen lassen, aus Angst, dass ihnen etwas geschieht. Ihre Sorge um ihre Zukunft, weil sie nicht verstehen, warum die Asylanträge so langsam bearbeitet werden. Ihre Sorge um ihre Lieben, die sie daheim lassen mussten.

Dies ist der Kreislauf, in dem wir uns bewegen. Die einen sind besorgt. Und die anderen haben Sorgen.

Mely Kiyak

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