Gandhi – Held kaputt

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Vor einigen Monaten las ich ein Interview mit der indischen Intellektuellen und Publizistin Arundhati Roy. In dem Gespräch schildert sie, wie sie sich für das Vorwort anlässlich einer Neuauflage eines Buches von Bhimrao Ramji Ambedkar präparierte. Ambedkar war ein indischer Jurist, der aus Protest gegen das Kastenwesen vom Hinduismus zum Buddhismus übertrat. Als Dalit, wie man die Unterdrückten, beziehungsweise „die Unberührbaren“ in Indien nennt, löste er 1956 damit eine Massenbewegung aus. Hunderttausende „Unberührbare“ konvertierten ebenfalls. Ambedkar publizierte über seinen politischen Traum, nämlich die Abschaffung des Kastenwesens. Roy entdeckt während der Arbeit, dass der größte politische Widersacher Ambedkars kein geringerer als Mahatma Gandhi war.

Ich las es und dachte: Jetzt breche ich zusammen!

Stück für Stück demontiert Roy den in der ganzen Welt für seinen Kampf gegen die südafrikanische Rassentrennung kämpfenden und berühmt gewordenen Gandhi. Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Pazifist, Vorbild für Martin Luther King und andere Menschenrechtskämpfer, der große, einzigartige Gandhi war gegen die Abschaffung des Kastenwesens? Mehr noch, so lerne ich aus dem Interview, er das Kastenwesen, das jedem Menschen von Geburt an einen sozialen Rang zuteilt und diese Hierarchie als unabwendbares Schicksal betrachtet, befürwortet. Gandhi selbst entstammt einer höheren Kaste. Wie kann man gegen Rassentrennung in Südafrika sein, fragte ich mich, aber das Kastenwesen verteidigen?

Ja, sind denn alle Helden kaputt? Stimmt denn gar nichts mehr? Vom Kastenwesen zu Adolf Hitler ist doch auch nicht mehr weit. Apropos Hitler. Der bekam von Gandhi mal einen Brief, in dem dieser ihn bat, bloß keinen Krieg in Europa anzuzetteln. Heute weiß ich, es ging Gandhi nicht um Gleichberechtigung unter Brüdern, sondern einzig um Gewaltverzicht. Gewaltfrei und vegetarisch leben war für Gandhi keine Menschrechtsfrage, sondern durch eine Spiritualität begründet, die viel mit „Reinheit“ zu tun hat. Auch so eine merkwürdige Kategorie: Reinheit. Hätte Hitler deutsche Juden und Christen in eine kastenähnliche Hierarchie eingeteilt und es bei dieser Rassentheorie ohne anschließenden Mord belassen, wäre Gandhi wohl begeistert gewesen. Gandhi selbst lehnte es übrigens ab, mit Schwarzen in einem Abteil zu sitzen, weil er meinte, dass er als wohlhabender Inder in ein Abteil für Weiße gehöre.

Ich kann mich nur noch einmal wiederholen: Bringt mir ein paar Beruhigungstabletten, es ist zum Ausflippen!

Mit diesem Wissen kann man Richard Attenboroughs ganzen Film in die Tonne treten. Der Film „Gandhi“, mit Ben Kingsley in der Hauptrolle besetzt, erschien 1982. Doch hätten sich Attenborough und John Briley wirklich um Wissen bemüht, hätten sie herausfinden können, welche Positionen Gandhi in der Kastenfrage vertrat. Zwar kämpfte er gemeinsam mit Ambedkar darum, dass „Unberührbare“ Parlamentssitze bekommen, doch während es Ambedkar darum ging, sich vom Kastenwesen zu lösen, ging es Gandhi um den Erhalt. Es wäre mit Sicherheit ein anderer Film geworden. Und er hätte weltweite Auswirkungen auf die Gandhi-Rezeption.

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Indien, wie es in Politik und Medien so gerne heißt, ist die größte Demokratie der Welt. Und gleichzeitig eine Gesellschaft mit einer brutalen Gesellschaftsordnung, die die Trennung der einzelnen Kasten regelt, dass untereinander nicht geheiratet und miteinander nicht gegessen und gearbeitet werden kann. Was Männer aus höheren Kasten aber nicht daran hindert, jährlich rund 1500 Frauen aus der niedrigen Dalit-Kaste zu vergewaltigen und geschätzte 650 Dalit-Frauen jährlich zu ermorden. Je mehr man sich mit dem Kastenwesen beschäftigt, desto weniger kann man glauben, dass die Unvereinbarkeit von Demokratie und Kastenwesen in den deutschen Medien nahezu nie thematisiert wird. Arundhati Roy bemängelt, dass selbst führende indische Intellektuelle um die Thematisierung des Kastenwesens einen Riesenbogen schlagen.

Ich hoffe, irgendein deutscher Verlag verlegt Ambedkars Buch mit Arundhati Roys Vorwort rasch auf Deutsch.

Hier kann man das Interview nachlesen.

Und hier bekommt man einen sehr guten kurzen Überblick über die Geschichte des indischen Kastenwesens.

Es verabschiedet sich für diese Woche aus der niedrigen Kaste der unterdrückten Gedruckten
Ihre Mely Kiyak

 

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