Ein achtzigjähriger Mann reist im Zug von München zu seinem mehrere hundert Kilometer entfernten Kardiologen. Zwar ist sein Termin erst am Donnerstag, doch weil ihm Pünktlichkeit wichtig ist, macht er sich bereits am Dienstag auf die Reise. Begleitet wird er von einer Journalistin. Sie unterhalten sich. Er zitiert die Bibel: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht das Eigentum Deines Nächsten begehren. Der Mann fasst Vertrauen in die Frau und sagt so fantastische Sätze wie diesen:
Was wollen diese Menschen von mir? Ich bin doch etwas ganz Stilles.
Ein perfekter Theatersatz!
Es gibt diesen Mann und diese Frau. Er heißt Cornelius Gurlitt. Sie heißt Özlem Gezer. Gurlitt ist der Erbe von eineinhalbtausend Kunstwerken, die sein Vater, Museumsdirektor und Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, (perfekter Name für eine Theaterfigur!) unter anderem im Dritten Reich erwarb. Bereits vor zwanzig Monaten hat die Augsburger Staatsanwaltschaft den sensationellen Kunstfund in Gurlitts Münchener Wohnung beschlagnahmt – und sich samt Millionenfund in ewigen Staatsbediensteten-Schlaf begeben.
Die Frau in diesem Stück ist Spiegel Redakteurin Özlem Gezer, die erste türkeistämmige Redakteurin im wichtigsten deutschen Nachrichtenmagazin. Seit bekannt wurde, dass Gurlitt auf einem materiell und kunsthistorisch bedeutenden Vermögen saß, lauert vor der Münchener Adresse des reichen Erben eine Medienschar. Der sich zu Unrecht behelligt Fühlende und die Welt nicht Verstehende, vertraut sich der Frau mit den dunklen Haaren an. Und fährt mit ihr im Zug zum Arzt.
In den Zeitungen werden im Fall Gurlitt oft elegante Verrenkungen verwendet. Die Herkunft seiner Bilder sei zweifelhaft. Das Ganze eine problematische Geschichte.
Wem haben Gurlitts Picassos zuvor gehört? Wer musste seinen Rodin oder Spitzweg unter Wert verkaufen, weil er aus Deutschland vor dem Naziregime fliehen musste? Wurden die Kunstwerke ordentlich erworben oder stammen sie aus Beschlagnahmungen der Nazis?
Was bedeutete es überhaupt, im Nationalsozialismus etwas „ordentlich erworben“ zu haben? Geht das? Anständiger Kapitalismus in Zeiten von Barbarei? Ethisch einwandfreier Handel im Angesicht von Gaskammern?
Eine universelle Frage, die nicht nur für im Nationalsozialismus angehäuften Reichtum gilt, sondern für alle Werte, die sich während eines Krieges, einer Vertreibung oder Genozides angesammelt haben.
Es gibt wohl einen gravierenden Unterschied zwischen Eigentum und Besitztum.
Der beste Ort, um die Geschichte geklauter, beschlagnahmter oder „geretteter“ Kunstwerke zu ergründen, sind übrigens die Museen unserer Welt. Leider steht an keinem Kunstwerk: Dieses Bild hat Herrn Rosenberg gehört, bevor er nach Auschwitz musste. Er verkaufte es zuvor, in der Hoffnung mit dem Geld fliehen zu können. Es gelang ihm nicht. Das Bild wurde später als entartet klassifiziert, beschlagnahmt und nach dem Krieg dem staatlichen Museum übergeben. Erben sind nicht bekannt. Das Kunstwerk ist demnach im legalen Besitz der Bundesrepublik Deutschland.
Und Cornelius Gurlitt? Was ist er? Ein naiver Sohn, der die gute alte Zeit betrauert, als man noch ordentliche Anzüge kaufen konnte? Ein Tölpel? Ein Schlitzohr? Ein Kunstfreund, der sich jenen Teil der Sammlung, die als NS Beutekunst verdächtigt wird mit Pragmatismus schön guckt? Getreu dem Motto: Hätte mein Vater diese Werke nicht gerettet, wären sie im Krieg vielleicht vernichtet worden. Jedoch: Gäbe es keinen Krieg, hätte es keiner Kunstretter bedurft.
Gurlitt antwortet auf die Frage, ob er jemals verliebt gewesen sei, dass er nichts im Leben mehr geliebt habe als seine Bilder. Wahrscheinlich handelt keines dieser Bilder von Kunstliebe, sondern ganz im Gegenteil von Menschen, ihren Beziehungen, Gefühlen und Liebe. Was er wohl all die Jahre dachte, als er sie Abend für Abend anstarrte? Zum Beispiel das „Paar in Landschaft“ von Conrad Felixmüller?
Kunstliebe stärker als Menschenliebe.
Wow!
Ein alter kranker Mann möchte einfach in Ruhe seine Bilder genießen und mit keiner Moral behelligt werden. Darf man das? Die Kunst über alles stellen? Entsteht Kunst aber nicht aus irgendeiner Moral?
Nennt es, wie ihr wollt. Ich nenne es einen perfekten Theaterstoff.