He, Ihr Theaterspezialisten! Ihr Literaturbegeisterte, Spielkunstbewunderer, Tagediebe und andere Gorkianer, die Ihr unsere Spielstätte am Festungsgraben belagert: bald schon werden unsere Bühneninspizienten die Theatervorhänge in die Waschmaschine zum Reinigen legen und unsere Schauspieler sind als trampende Globetrotter in der Welt unterwegs. Denn in wenigen Tagen ist Spielzeitpause und das Theater macht Ferien.
Diejenigen Kollegen unseres verspielten Vorführhauses, die keine Wohnungen haben, keine Betten, keine wärmenden Ehefrauen, bleiben noch bis zum Ende der Fußball-Weltmeisterschaft auf der Theaterterrasse sitzen und schauen die Spiele. Anschließend werden auch sie das Theater verlassen, der Letzte löscht das Licht in den Toiletten.
Wer zurückbleibt, ist ein Pförtner aus einer anderen Zeit und einem anderen Land. Das gehörte vielleicht zu den poetischsten Momenten unserer Spielzeit, dass uns stets ein Pförtner hinten am Dienstboteneingang Zutritt in die Welt der Kunst und Magie verschaffte, der bis vorgestern noch abgeschlossen von der Welt lebte, hinter einem Zaun, einer Wand, einer Scheißidee namens Mauer.
Der Pförtner öffnet die Türen und lässt hereinspazieren die Kinder und Kindeskinder der einstigen Immigranten vom Balkan, vom Orient, aus dem einstigen Sowjetreich, aus den USA, damit sie zusammenkommen und miteinander spielen. Ist das eine Wucht? Ist das eine Kraft? Ist das eine Energie? Manche sagen ja. Manche sagen nein.
Der Schauspieldirektor des Badischen Staatstheaters, Jan Linders, sagte mir einmal: „Shermin Langhoff hat eine Tür aufgestoßen und diese Tür wird sich nicht mehr schließen. Jetzt müssen auch wir uns bewegen.“
Ja, diese Tür ist auf. Also, ihr da draußen: Öffnet ebenfalls eure Türen für Menschen, die mehr Kulturen leben und mehr Sprachen sprechen, als ihr selbst und ihr werdet erfolgreich sein. Denn es führt zu mehr Wissen, interessanten Perspektiven, neuen Stoffen, differenzierten Inhalten und klugen Ergebnissen. Nur dann werden eure Zeitungen mehr und andere Leser haben, eure Theater mehr und andere Zuschauer, eure Produkte mehr und andere Konsumenten.
Pförtner sind mein Lebensthema. Wie oft in meinem Leben stand ich schon am Guckloch eines Pförtners, deutete auf eine Tür und sagte; „Bitte öffnen. Diese Tür ist auch für Menschen wie mich bestimmt.“
Ich wohne fünf Gehminuten von der Schule in der Ohlauer Straße in Berlin-Kreuzberg entfernt, in der verzweifelte Flüchtlinge auf dem Dach drohten zu springen, wenn sie kein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen.
Die abgesperrten Straßen sind mit Polizisten gesäumt. Es sind wirklich viele. Wen schützen diese Polizisten vor wem? Ich verstehe es nicht.
Warum stiegen hochrangige Politiker wie Angela Merkel oder Joachim Gauck nicht zu den Flüchtlingen aufs Dach und versuchten zu helfen und zu vermitteln? Wozu haben wir sie gewählt? Warum setzt sich unsere Kanzlerin für Menschen aus Griechenland, Syrien oder dem Irak ein, aber nicht für Menschen, die vor unserer Haustür gestrandet sind? Warum sagt Angela Merkel nie ein Wort zu den Flüchtlingen in Berlin? Wie kann man jahrelang kein Wort über die Situation in Berlin verlieren? Ich verstehe es nicht.
Auf dem Dach der Schule, die seit Tagen weiträumig abgesperrt ist, stehen Menschen, die bereit sind zu springen und zu sterben, wenn wir ihnen nicht erlauben, in Deutschland menschenwürdig zu leben. Der Staat will sich nicht erpressbar zeigen. Ich frage: Ist Erpressung das richtige Wort, wenn das, was erpresst werden soll, Humanität ist?
Humanität ist eine Tür, die man öffnet. Aber unser Staat steht wie ein griesgrämiger Pförtner vor ihr und wartet ab. Worauf? Ich verstehe es nicht.
Ich betrachte Flüchtlinge nicht als Feinde. Ich schäme mich für die Artikel, in denen Flüchtlinge seit zwei Jahren von meinen Kollegen unermüdlich und permanent als Messerstecher, Drogendealer und andere Querulanten beschrieben werden. Aber ich bin es müde, diese Zeilen zu schreiben. Ich bin es müde, zu sagen: Hört endlich auf mit dieser Berichterstattung und fangt an, politischen Journalismus zu betreiben. Erzählt, was draußen los ist in der Welt. Erzählt en detail und Fall für Fall, wie unsere Behörden Flüchtlinge und Asylsuchende mürbe machen in diesem Land. Richtet den Fokus auf unsere Bevölkerung und diese sagenhafte Abwesenheit von Empathie. Die amerikanische Botschaft wird Tag und Nacht bewacht, aber nicht unsere Asylbewerberunterkünfte, die permanent bedroht werden. Der Rechtsextremismus ist so stark, dass die Politik aus Angst vor Stimmenverlust einen Gesichtsverlust lieber in Kauf nimmt, als unsere desaströse Flüchtlingspolitik zu ändern. Warum sind wir so? Warum legalisieren wir diese Flüchtlinge nicht schnell und unkompliziert und geloben Besserung? Ich verstehe es nicht.
Sie hören wieder von mir in der neuen Spielzeit. Bis dahin werden mein exzellenter Theaterkolumnengrafiker Deniz Keskin von der Ägäis und ich eine Fahrradtour an der Müritz machen und abends in Zelten übernachten. Tagsüber essen wir Butterbrote aus Kunststoffbüchsen.
Ihre Mely Kiyak
PS: Grafiker Keskin schrieb gerade eine SMS: „Wollen wir wirklich an die Müritz? Liegt in Meck.Pom. Zu viele Mücken. Aber dafür wenig Zecken.“