Pink – Farbe der Trauer, Farbe der Tränen

Verehrte Theatertextbegeisterte, ein herzliches Hallo auch von meiner Seite!

Traditionell komme ich immer als letzte aus der Spielzeitpause zurück ins Gorkitheater. Standesgemäß mit weißen Füßlingen gekleidet, wo ich den bestrumpften großen Zeh auf die eine Seite des Flip-Flop-Stegs schiebe und den Rest auf die andere Seite. Socken in Flip-Flops sind gerade le dernier cri. Mir gegenüber wohnt eine alte türkische Frau mit sehr roten Hennahaaren und riesigen Goldringen im Ohr. Selbstbewusst trägt sie diese neue Sommerschuhmode, was mir natürlich ausgesprochen gut gefällt. Ich sah es auch schon bei anderen good old migrants. Was bedeutet, dass es zwei Saisons später auf den Laufstegen auftauchen wird. Und drei Saisons später wird es Modemainstream.

Eine Weile war es in meinem Viertel sehr still, aber seit einigen Tagen sind alle Deutsch-Türken zurück aus dem Türkeiurlaub und wie jedes Jahr bin ich neugierig, wie sie aussehen, was sie tragen. Ich kann seit einigen Jahren nicht in die Türkei einreisen, jemand wie ich »schaut immer mit vier Augen«, wie man im Türkischen sagt. Bis zum letzten Jahr kamen alle Frauen mit den grotesk gleichen dunkel tätowierten Augenbrauen zurück und hatten auch alle diese verrückt aufgeblasenen Wangen-, Lippen- und Kinnpartien. Der Trend ist inzwischen rückläufig, denn alle Orientalinnen sind längst auf diese Weise verhunzt, und alle Heikes und Janas, die in Bodrum, Alanya, Antalya, Fethiye und anderswo Ferien gemacht haben, auch. Dieses Jahr sind Oberarmstraffungen angesagt. Überall in meiner Straße haben die jungen Frauen mollige Körper, aber dünne Oberärmchen. Als ich ein Kind war, brachten die Eltern kofferweise getrocknete Auberginen und Paprika mit, die auf Schnüre aufgefädelt wurden. Diese Gemüseketten wurden bis zum nächsten Sommerurlaub gefüllt und gegessen. Meine Nachbarin hat mir Auberginen mitgebracht. Sich selbst hat sie mit einer Bauchdeckenstraffung verwöhnt. Nur ich bin dazu verdonnert, in Deutschland zu verharren und nichts gestrafft, gefüllt und tätowiert zu bekommen.

Aus der Zeitung erfuhr ich, dass am vergangenen Samstag in Hanau ein Bündnis bestehend aus Opferangehörigen und solidarischen Bürgern eine Kundgebung zum Gedenken an den rechtsextremen Anschlag von vor einem halben Jahr veranstalten wollte. Es waren im Februar immerhin neun Menschen erschossen worden (der Täter tötete anschließend seine Mutter und sich), aber politisch ist seitdem nichts passiert. Was genau ist das Konzept der Stadt, was tut man, um gegen Rechtsextremismus zu immunisieren? Die Gedenkveranstaltung jedenfalls wurde ordentlich angemeldet und die Mobilisierung lief bereits seit Wochen. Die Kundgebung war natürlich nicht nur aus symbolischen Gründen wichtig, sondern aus politischen. Denn Hanau liegt in Hessen und ist spätestens seit den NSU-Morden ein Hotspot nicht nur für die bewaffnete, militante Neonaziszene (NSU, Lübcke, Hanau, Drohschreiben des »NSU 2.0«), sondern noch schlimmer, ein Skandalfleck, in dem angefangen vom hessischen Ministerpräsident bis zu Verfassungsschutz und Polizei ein Lügengebäude aufgebaut wurde, das bis heute anhält. Bei dem NSU-Mord an Halit Yozgat im April 2006 und dem Lübckemord im Juni 2019, überschneidet sich das Personal, ich schrieb darüber. Hier: https://kolumne.gorki.de/kolumne-109/

Am Vorabend der Hanauer Kundgebung, also vergangenen Freitagabend, hat Bürgermeister Claus Kaminsky (SPD) die Veranstaltung abgesagt, weil ihm auffiel, dass die Corona-Infektionsrate angestiegen ist. Die Stadt verbot den Witwen, Witwern, Waisenkindern, den Angehörigen, Freunden und trauernden Mitbürgern den Marsch vorbei an den beiden Tatorten und verdonnerte sie zum auf der Stelle Strammstehen. Damit sich niemand auch nur einen Millimeter falsch bewegt, wurden pinkfarbene Punkte auf den Boden gesprüht, immer im exakten Abstand von eineinhalb Metern. Pink. Die Farbe der Trauer und Anteilnahme, die Farbe der Scham und des Bedauerns, die Farbe der Fürsorge, pink wie die Tränen der Stadt. 249 Opferangehörige und andere, kamen und stellten sich brav auf die Punkte.

Keine 400 Meter entfernt von den pinkfarbenen Punkten drängelten sich die Hanauer Bürger auf dem Wochenmarkt. Kauften Käse und Knackwurst, husteten sich gegenseitig in die Nacken und Gesichter, tranken Kaffee, rauchten und bliesen Aerosole in die Luft. Der Markt wurde nicht abgesagt.

Da war er, der Alltag der deutschen Bürger, die sich nicht fürchten müssen, vor nichts und niemandem, offenbar immun gegen Corona, immun gegen die Patronen von nationalsozialistisch gesinnten und bewaffneten Mitbürgern, der Alltag von Menschen, die lachen und das Leben in vollen Zügen genießen.

Die auf den pinkfarbenen Punkten aber standen da und trauerten.

Niemand vom Markt kam rüber und stellte sich in einem Akt des zivilen Ungehorsams jeweils rechts, links, vor und hinter jeden pinken Punkt. Zu seinem verwaisten und beschädigten Mitbürger, der demütig und gehorsam das Dekret seines Bürgermeisters umsetzte, jenes Bürgermeisters, der sich an diesem Tag nicht dazu durchringen konnte, ein paar Worte zu sprechen. Da standen an diesem Tag also die beiden Seiten des Lebens. Die bürokratische Rechtsordnung, die man auf die Schultern der Opferangehörigen bürdete und die Anderen: Die freien und unbehelligten Bürger, die man im Wurstkauf nicht einschränken wollte, denen man zutraute, dass sie Abstand hielten und ihnen vorbehaltlos Vertrauen und Freiheit schenkte.

Politische Immunisierung ist ein Konzept, dessen herausragendes Merkmal darin besteht, sich unangreifbar zu machen, gegen das Leid, das Unrecht, gegen Mitgefühl und gegen alles, was den Menschen ausmacht: nämlich Liebe.

Ich aber, liebe Theaterleserinnen und Theaterleser, fächere Ihnen mit den ersten abgekühlten Sommerwinden, die schon eine Ahnung des Herbstes herbeiwehen, meine schönsten, nein, meine allerschönsten Gefühle zu,

Ihre Mely

PS: Meine Autorenkollegen Felix Ackermann und Wanja Müller betreiben die Seite Stimmen aus Belarus.

Hier lassen sie die Opposition zu Wort kommen und übersetzen ins Deutsche. So können wir hier in Deutschland direkt erfahren, was Künstler, Gewerkschaftler, Politiker und Mitglieder der Protestbewegung in Belarus auf den Straßen, in den Fabriken, den Gewerkschaftsversammlungen und anderswo sprechen.  

Liebe Mely,

Wanja hat einen russischen Text übersetzt, der auf einem Mitschnitt basiert. Es hört sich an wie ein Theaterstück, ist aber die Transkription einer Belegschaftssitzung vom 13.8. Die Wahlen wurden am 9.8. gefälscht, anschließend wurden über 7000 friedliche Protestierende verhaftet, schwer misshandelt und zum Teil gefoltert. Dass die Menschen dennoch weiter protestiert haben, hatte zwei Ursachen: als am 11. und 12.8. das Ausmaß der staatlichen Gewalt erkennbar wurde, gingen Frauen in weiß gekleidet mit Blumen auf die Straße und stellten sich an den Fahrbahnrand. Sie wurden zur Unterstützung angehupt und trauten sich danach durch die Städte zu ziehen. Parallel dazu ereigneten sich Szenen wie im Minsker Autowerk MAZ – die Belegschaften entschieden dem Aufruf zum Generalstreik zu folgen und marschierten in Richtung Stadtzentrum. Das Ergebnis war, dass am 16.8. im gesamten Land insgesamt Hundertausende friedlich auf der Straße waren. Ein Fest der Freiheit, der Demokratie, aber eben auch der Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Herzliche Grüße sendet Felix

Die Übersetzung der Belegschaftssitzung, die Felix anspricht, wurde aus dem Russischen übersetzt und gekürzt von Wanja Müller und hier veröffentlicht.

Quelle, ungekürztes Original

Unbedingt aufmerksam machen möchte ich außerdem auf Felix Ackermanns Buch »Mein litauischer Führerschein – Ausflüge zum Ende der Europäischen Union«, Suhrkamp 2017, mit einem Kapitel über Minsk. Ich zähle es zu den informativsten, unterhaltsamsten und intelligentesten Büchern, die ich jemals über die mehrsprachigen Gesellschaften östlich von Berlin las. Ackermann ist Historiker und Stadtanthropologe.

Gestaltung: María José Aquilanti

Mehr Theater Kolumnen …

Mely Kiyaks Theater Kolumne gibt es seit 2013. Alle 14 Tage kommentiert die Schriftstellerin und Publizistin Mely Kiyak radikal unabhängig das Weltgeschehen. Die Kolumne kann man auch mit dem
Gorki-Newsletter abonnieren.

You must be logged in to post a comment.