Tschühüss! Täglich Neues aus Nichtberlin

Liebe Leserinnen und Leser,

ab heute ist die bundesweite Anreise an die Ostsee gestattet. Der deutsche Flüchtlingstreck ist beeindruckend. Bin gespannt, ob die Boulevardblätter die Begriffe »Welle«, »Flut«, »Strom« und »Schwemme« verwenden werden, so wie in den Schlagzeilen nach der Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge. Im Gegensatz zur Ankunft der Flüchtlinge, für die nichts vorbereitet war, steht für die deutsche Touristeninvasion alles parat. Kann man ja auch verstehen, wer zahlt, ist überall willkommen.

Die mobilen Eisläden und Fischbrötchenimbisse wurden auf die Promenade gerollt. Alle paar Meter donnert aus den Lautsprecherboxen Schallalalalaa-Zwodreivier-Klatschiklatschi-Schunkelmucke. Die ganze letzte Woche wurde der Strand mit Gerümpel vollgestellt. Zum Beispiel Trampoline, die im Sand aufgebaut werden und deren Sprungfläche mindestens 50 amüsiereifrigen Badegästen auf einmal Platz bietet. Wie man beim Auf- und Abhüpfen die 1,5 Meter Abstandsregel einhalten wird, ist sicher vom artistischen Geschick der Freizeitspezialisten abhängig. Was ich dieses Jahr zum ersten Mal sah, sind Tretboote mit Rutsche. Die stehen jetzt alle paar Meter in Zehnergruppen ebenfalls im Sand. Das funktioniert so, dass die Eltern das Boot rausschippern und dann rutschen ihre kleinen Lea-Luises und Jeremy-Jans eine maximal zwei bis drei Linealmeterlängen lange Rutsche ins Meer. Der Rutschspaß dauert wahrscheinlich zwei Sekunden. Die ganze Ostseeküste entlang werden solche Spielplätze in den Sand gerammt. Von weitem sieht es aus, als hätte jemand Sperrmüll rausgebracht. Es ist aber das Freizeitequipment einer G7-Nation, der ohne Ablenkung schnell öd wird.

Wir wurden früher von unseren Cousins oder Vätern auf dem Rücken ins offene Meer kutschiert, hochgehoben und fallen gelassen. Der Spaß dauerte wesentlich länger als der alberne Bums mit der bunten Tretbootrutsche, denn man wurde gegen seinen Willen ins Wasser verschleppt. Die Übung diente eigentlich dazu, dass man schwimmen lernen sollte.

Ich spotte natürlich auch deshalb über diese Vergnügungskultur, weil mir Langeweile immer fremd war. Als Erwachsene genauso wie als Kind. Wir hatten nichts. Wir brauchten nichts. Wir waren trotzdem glücklich. Unser Spielzeug war die Luft. Wir atmeten und freuten uns. Das taten wir bis zur Adoleszenz. Dann trennten wir den Müll und zahlten Steuern. Bis heute beißen wir in altes, trockenes Brot und stellen uns vor, dass es ein Hanuta ist. Hahaha! Unsere Altvorderen waren im Angeben über Selbstgenügsamkeit die größeren Meister ihres Fachs. Mein alter Vater erzählte immer, wie er sich unter einen Baum legte und vorstellte, dass die Äste Tentakel eines gefährlichen Waldwesens seien und also schloss er die Augen und kämpfte gegen sie. Sein Freizeitpark war seine Phantasie. Dann lernte er meine Mutter kennen, heiratete sie und in der Hochzeitsnacht gab er ihr einen Kuss auf die Wange, woraufhin sie ihr erstes Kind erwartete. Nur der Kuss, sonst nichts. IST SO!!!!

Es herrscht jedenfalls ausgelassene Stimmung in Mecklenburg-Vorpommern, vor allem in Anbetracht einer hundertprozentigen Bettenauslastung trotz 60-Prozent-Regel. Die Auflage besagt, dass man sein Hotel oder seine Pension nur zu Zweidritteln belegen darf. Niemand versteht genau, wie das gemeint ist, also macht es jeder irgendwie. Ich kenne einen Wirt, der zählt das Doppelbett, die beiden Toastschlitze und die Badewanne als fünf Schlafmöglichkeiten und belegt es mit einem Ehepaar. Dann rechnete er mir vor, dass er die Regel sogar unterschritten habe, denn die zwei Frühstücksbrettchen, die zusammengeschoben genau genommen auch ein Bett ergeben würden, die habe er als Schlafmöglichkeit gar nicht reingerechnet, weshalb man eigentlich nur von einer Dreißigprozentigen Belegung der Unterkunft sprechen könnte. Das sind so Tricksereien ganz nach meinem Geschmack. Sie stehen nämlich in einem gewitzten Kontrast zu der Denunziantenstimmung der vorherigen Monate. Ich weiß, wovon ich spreche. Bei mir klingelte das Ordnungsamt die letzten Male schon mit Blumen und Blechkuchen, so vertraut wurden wir uns, denn ich wurde im Stundentakt »gemeldet«, weshalb sie auch im Stundentakt bei mir aufkreuzten, nur um jedes Mal festzustellen, dass ich rechtmäßig da bin.

War.

Denn wenn Sie diese Zeilen lesen, meine lieben Leserinnen und Leser, die wir uns in den vergangenen Monaten auf besondere Weise lieb gewonnen haben (erneut großes Dankeschön für Ihre viele, herzliche und humorvolle Post – a l l e s wurde gelesen), werde ich meinen Chihuahuawelpen Werner in meine Clutch gesteckt und nach Berlin gebracht haben. Meine Zeit ist der Herbst bis zum Frühjahr, wo ich mich zurückziehe, um meinen Beruf auszuüben. Denn für das, was ich mache, kann man kein Halligalli gebrauchen, sondern ist in der Einsamkeit immer besser aufgehoben.

Die ursprüngliche Idee dieses Journals war (Kiyaks Theater Quarantäne vom 13. März bis heute können Sie hier nachlesen), dass wir die Zeit überbrücken, indem ich Ihnen über den Alltag in meiner dörflichen Provinz  berichte – nur so lange wie der Spielbetrieb pausiert. Nun hat das Theater physisch zwar immer noch geschlossen, aber meine Zeit im nördlichen Schreibdomizil ist abgelaufen. Trotz vorheriger Zweifel, denn normalerweise gilt der Vorsatz, die Umstände meines Lebens und Arbeitens privat zu halten, stellte sich das Schreiben des Journals als äußerst vergnüglicher Ausnahmezustand heraus.

Ich habe zu danken. Meinem Dramaturgen Ludwig, der mich in den vergangenen Wochen redaktionell betreute und Caro, die dafür sorgt, dass das, was ich schreibe, bei Ihnen landet. Mein ganzes Berufsleben lang hatte ich immer Glück. Nun wieder. Caro und Ludwig sind humorvoll, großzügig, kollegial. Mit beiden ist es ausnahmslos immer pure Freude.

Unsere Theaterdirektorin Shermin Langhoff ist uns bei allem, was wir machen, Rettungsschirm, antifaschistischer Schutzwall und Impfstoff. Ich sage immer in Bezug auf das Verhältnis, das Shermin zu ihren Theaterkollegen hat: Die Charité hat so lange keine Ahnung, was intensivmedizinische Betreuung ist, so lange sie nicht gesehen hat, wie das bei uns im Gorki läuft.

Während der Theaterquarantäne wurde ich einmal krank. Frau Langhoff bekam mit, dass ich beim Arzt war und rief an, um zu erfahren, wie die Diagnose lautet. Ich saß noch im Wartezimmer und flüsterte in den Hörer: »Ich bin gleich dran und erfahre die Ergebnisse«. Als mich der Arzt in sein Sprechzimmer rief, sagte er nur: »Ihre Theaterdirektorin rief mich eben an. Ich habe ihr die Unterlagen gefaxt, besprechen Sie die Details bitte mit Ihrer weiterbehandelnden Intendantin«.

Glauben Sie nicht, liebe Leserinnen und Leser? IST SO!!!!

Nachdem ich mich nun im halbgroßen Stil von diesem Journal verabschiedet habe, möchte ich Ihnen mitteilen, dass wir beschlossen haben, die Theater Quarantäne »Neues aus Nichtberlin« weiterzuführen. Ludwig meint, mein unerbittlicher Berlinhass sei sehr unterhaltsam und ich könne doch meine Anpassungsschwierigkeiten an die Hauptstadt thematisieren. Ja gut. Dann mache ich das. Vorerst ein paar Tage lang. Mal sehen, wie lange ich das durchhalte. Ich muss mich schließlich um Werner kümmern.

Mein Lieblingsliteraturveranstalter Kape Sachau aus Dortmund schrieb mir übrigens, dass er zu Werner ein gutes Gefühl habe, denn, so Kape, alle guten Menschen, die er kenne, hießen Werner, »bis auf einen. Der heißt Friedrich.«

Apropos Werner, Sonntagstelefonat mit dem Vater:

Papa, ich habe tolle Nachrichten für Dich!

Werde ih endlih Opa?

Ja. Ich habe mir zum Geburtstag einen Chihuahuawelpen geschenkt.

Ein was?

Chihuahua. Werner.

Freut mi. Hat geschmekke?

Was???

Deine Schawarma. Hat geschmekke?

Ich habe das Missverständnis nicht aufgelöst, weshalb er denkt, ich ginge dreimal am Tag mit einer Portion Schawarma Gassi. Aus dem heute-journal meint er übrigens erfahren zu haben, dass Corona in Wuhan auf dem pazar, also auf dem Basar, von einer »Pflegemaus« auf den Menschen übertragen wurde. Pflegemaus. Sie wissen schon. Die schwarzen Vögel auf den verlassenen Dachböden …

So, jetzt höre ich aber echt auf. Bis bald in Berlin!

Herzlich
Ihre Mely

Gestaltung: María José Aquilanti

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Mely Kiyaks Theater Kolumne gibt es seit 2013. Alle 14 Tage kommentiert die Schriftstellerin und Publizistin Mely Kiyak radikal unabhängig das Weltgeschehen. Die Kolumne kann man auch mit dem
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