Greta

Im Internet verbreiten sie jetzt dieses Wahnsinnsbild, ich finde, es ist das Diptychon unserer Gegenwart. Links sitzt Greta an irgendeinem Freitag im vergangenen Jahr in Stockholm, schaut entschlossen in die Kamera und wirkt doch verloren. Wie sie da so sitzt, für ihr Alter noch recht zart, mit rosafarbenem Rucksack, blauen Turnschuhen und geflochtenen Zöpfen, schwänzt sie die Schule, um für das Klima zu demonstrieren. Ihr selbstgemaltes Pappschild (»Skolstrejk For Klimatet«) hat sie neben sich aufgestellt. Die rechte Seite des virtuellen Klappbildes zeigt Freitag, den 20. September und ein Meer von jungen Schulschwänzern. Sie demonstrieren zu Beginn des Weltklimagipfels in New York, der einen Tag später stattfinden wird. Die Proteste beginnen in Australien, weil da der Tag als erstes anfängt und ziehen sich quer über den ganzen Erdball und alle Kontinente. Ich kann mir nicht helfen, ich sehe die Bilder und bewundere mit jeder Faser meines Verstandes diese jungen Menschen, die sich ihre Energie und ihre Lebenslust nicht durch Politiker verderben lassen. Normalerweise zählen deutsche Politiker wie Christian Lindner und Paul Ziemiak zu den jungen Wilden. Schaut man sich aber an, wie gerade diese beiden – aber auch andere Männer, es sind immer Männer – in ihren Reden und Tweets hemmungslos über das minderjährige Mädchen hergefallen sind, hatte das fast etwas Obszönes, diese geballte Männerpower vom Funkturm der Macht herabdozierend. Und wie alt und dumm sie dabei wirken, ohgottohgottohgott.

Diese Woche habe ich eine Phoenix-Runde gesehen, da saß eine dieser sehr jungen Klimaschützerinnen, Franziska Wessel, 15 Jahre alt, bestens informiert, und diskutierte mit Diana Kinnert, auch so ein Ausnahmetalent der CDU, das als junge Nachwuchshoffnung gilt. Zwischen den beiden Frauen, der Aktivistin und dem CDU-Juniortalent lagen vielleicht zehn Jahre. Die Kinnert, immer sehr schlau, sehr informiert, wirkte im Gespräch mit der Schulschwänzerin aber wie ein alter Apparatschik, dem die politischen Gesten bereits in Rhetorik, Duktus und Habitus übergegangen sind. Dagegen schien Bärbel Höhn, die ehemalige grüne Umweltministerin, in dieser Runde, als wäre auch sie gerade vom Schuleschwänzen zurück, so voller Elan und Energie war sie. Wieder einmal begriff ich, es ist der Geist, der das Uralte von der Jugend trennt, nicht das Alter.

Ich war mit 16 Jahren auch kein ganz dummes Mädchen, aber immer noch nicht klug genug, um den vergleichsweise simplen Zusammenhang zwischen FCKW, Ozonloch und Atmosphäre zu kapieren. Unser Thema damals war: Kein Haarspray zu kaufen, das mit Fluorchlorkohlenwasserstoffverbindungen aus der Dose gezischt kam. Auf diesem Wissensniveau bin ich im Prinzip geblieben. Im Gegensatz zu den jungen Klimaaktivisten heute, verließ ich mich darauf, dass sich schon jemand findet, der sich um das Klima sorgt. Unsere Hoffnungen lagen auf – ich weiß, ich weiß, sagt jetzt bitte nichts! – Joschka Fischer und Jürgen Trittin.

Die letzte Woche habe ich mal wieder in der Abtei Fulda unter Benediktinerinnen verbracht. Es ist mittlerweile kein Geheimnis: ich bin beruflich und privat mit dieser Gemeinschaft verwoben wie ein Mykorrhiza und betreibe dort regelmäßig Photosynthese. Jedenfalls lief ich vergangenen Freitag gegen Mittag durch die Stadt, vorbei an Restauranttischen, an denen das Fuldaer Bürgertum von großen Tellern aß, dicke Portionen frittiertes Irgendwas, das über die karierten Tischdecken lappte. Man spülte mit Wein und Bier nach. Kleine Rülpserchen der Zufriedenheit, wie sie nur der Wohlstand hervor brodelt, schwebten hoch in die hessische Hemisphäre. Vom Marktplatz aus hörte man den Demonstrationszug der Klimaaktivisten, die aufgeregt kurze Reden am Mikrofon vortrugen. Unter anderem ging es um ein öffentliches Gelübde, keine Plastikstrohhalme mehr zu verwenden. Das Fuldaer Bürgertum lachte sich an den Tischen mit dem frittierten Zeug kaputt und zog über die Jugendlichen vom Marktplatz und die »kleine Verrückte aus Schweden« her. Sie sagten noch allerhand anderes, das man jungen Menschen nicht sagen darf, weil es die oberste Regel ist, Menschen im Erwachsenwerden nicht zu brechen und nicht zu biegen.

Angewidert floh ich in die Abtei, gerade noch rechtzeitig, um die Fürbitte in der Mittagshore zu erwischen. Während also draußen das satte Bürgertum die eigene Zukunft verspottete, welche gerade auf dem Marktplatz ihr Leben in die Hand nahm, betete eine Äbtissin mit ihren christlichen Mitschwestern am abseitigsten Ort der Welt und hörte sich im Rahmen ihres Berufes und ihrer Berufung erstaunlich diesseitig an:

Wir beten für die Atmosphäre, die uns schützt,
für die Ozeane, die unser Klima mitbestimmen,
für die fruchtbare Erde, die Grundlage aller Nahrung,
für die Wälder, die uns atmen lassen.

Wir beten für alle,
die sich der Zerstörung der Lebensgrundlagen entgegenstellen
mit Mut, Ausdauer und Vertrauen.

Wir beten für alle, die Gottes Schöpfung misshandeln,
die Menschen und Tiere ausbeuten,
die Gottes Segen ignorieren, obwohl sie von ihm leben.
Und für alle, die auf Gottes Vergebung hoffen und umkehren wollen.

Wir beten für alle, die schwanken
zwischen Nicht-Wissen-Wollen und Resignation;
für alle, die festhalten wollen an der gewohnten Lebensweise.
Und für alle, die Mut brauchen zu unbequemen Schritten.

Wir beten für alle politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger und Lobbyisten,
deren Gedanken und Pläne das Licht des Geistes brauchen,
die entdecken, dass auch ihr Herz verletzlich ist
und offen für den Schmerz der leidenden Schöpfung.

Gott, Schöpfer der Welt – Wir bitten dich, erhöre uns.

Herzliche Grüße von Ihrer Theaterkolumnistin aus der säkularen Kathedrale Gorki, am Berliner Festungsgraben, dem Vatikan unserer Herzen,

Tschüss!
Ihre Mely Kiyak

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